94.

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„Ein Mädchen." flüsterte Marco immer noch baff, als wir wieder im Auto ankamen und warf mir einen begeisterten Blick zu. Ich strahlte ihn an. Ja, ich war erleichtert, dass er sich genauso über ein Mädchen zu freuen schien wie über einen Jungen. Denn obwohl er das schon auf Ibiza gesagt hatte, hatte ich erst Zweifel. Schließlich freute er sich doch so sehr über einen Sohn, dem er das Fußballspielen beibringen konnte.
Anderseits ging das mit Sicherheit genau so gut mit einer Tochter.
Marco jedenfalls freute sich ungemein - beinahe direkt rief er seine Eltern und seine Schwestern an, um ihnen die freudige Nachricht mitzuteilen. Alle meine Sorgen waren also umsonst. Von Anfang an waren meine Antennen nämlich auf ein Mädchen eingestellt. Die Nachricht überraschte mich also eher weniger heute Mittag.
Nach einem ausgiebigen Telefonat mit Jenny machte ich mich dann also fertig für das Erste Treffen mit Lennards und meinem Anwalt vor unserem Prozess gegen den Kerl unserer Mutter und irgendwie auch gegen unsere eigene Mutter. Es fühlte sich jedenfalls falsch an seitdem ich mir solche Gedanken darum machte wie sie sich fühlte. Ob es ihr gut ging- besser als mit ihm. Ob sie vom Alkohol wegkam, eine Arbeit hatte oder immer noch arbeitslos war.
Ich schüttelte mich, kurz bevor ich in das Café gehen wollte in dem ich mich mit Lennard und dem Anwalt traf, den Marco mir bereits vor Monaten besorgt hatte. Lennard saß schon neben ihm, viele Unterlagen lagen vor ihnen auf dem Tisch ausgebreitet. Es schnürte mir die Luft im Halse ab, mich mit allem nochmal auseinandersetzen zu müssen. Am Liebsten hätte ich das alles verdrängt - wäre es nur um mich gegangen. Aber für Lennard ging es spätestens seit dem er mir von seinen Folgeschäden erzählte um viel mehr. Vielleicht sogar um seine Profikarriere. So durfte ich aber gar nicht denken. Er machte schließlich ganz langsam Fortschritte.
„Entschuldigt, ich hatte noch einen wichtigen Arzttermin." lächelte ich und ließ mich auf einen der Stühle nieder. „Oh Frau Kühnert, jetzt sieht man ihnen aber an, dass sie schwanger sind." grinste mich Herr Vorholt, Marcos Anwalt an. Ich lächelte: „Ja, ich kann es nicht mehr leugnen." scherzte ich. Lennard lächelte bloß und schaute mich überfordert an. Seine Augen verrieten ihn.
Nach wenigen Minuten fiel aber auch mir auf, dass man das Fachgesäusel kaum verstehen konnte, dass er von sich gab. Sogar wenn man sich Mühe war, war es schwer ihm zu folgen. So lieb und professionell dieser Staranwalt auch war - es war trotzdem anstrengend. Ein paar mal erwischte ich mich sogar dabei, wie ich abschaltete. Ich wollte meine Aussage nicht auswendig lernen. Ich hatte das Gefühl, dass ich jetzt noch gar nicht einschätzen konnte wie ich in diesem Moment reagieren würde und was ich sagen könnte. Das kam doch auch falsch herüber. Außerdem hatte ich gar nicht so viel zu sagen. Ich konnte dich schlecht erklären was passiert war, immerhin wusste ich von der Hälfte nichts mehr.
Man, war das alles aufregend. Ich bekam sofort wieder diese bedrückenden Bauchschmerzen vor Aufregung.
So schien es auch Lennard zu ergehen. Nachdem der Anwalt von dannen zog, verlor er kein Wort mehr. Wir beide waren gegangen in unseren eigenen Gedanken, Flashbacks und Ängsten.
War ich froh, wenn dieses Thema endlich durch sein würde. Es war einfach nur ermüdend.
Zwar erdrückte mich nur noch ganz selten das Gefühl und die Emotionen wenn ich in meinen eigenen Shop war und mich daran erinnerte wie es damals dort aussah. So sehr mich die Nostalgie manchmal traf, umso mehr freute ich mich auf den neuen Lebensabschnitt.
„Darauf brauche ich erstmal ein Bier!" quälte sich Lennard und winkte schon einen Kellner in unsere Richtung während er seinen Wunsch aussprach. Wäre ich jetzt nicht schwanger...
„Ich hätte gerne ein Bier für mich und eine Limonade für meine Schwester." grinste er. Der Kellner grinste nickend zurück und zog sofort von dannen.
„Musst ja Marco nicht sagen, dass ich dir die Zuckerbombe schlechthin bestellt habe." brummte mein kleiner Bruder daraufhin. Ich winkte ab: „Ach der" lachte ich leise in mich hinein. „Wie war denn heute euer Termin?" mein Bruder runzelte angestrengt seine Stirn. Ich grinste: „Er ist jetzt eine die geworden." flüsterte ich leise. Lennard lachte: „Yve, jetzt bleib ernst." bat er mich. Als er bemerkte, dass ich ihn ernst anschaute, stockte er und verschluckte sein Lachen: „das war ernst?" strahlte er. Ich nickte eifrig: „Ich wusste von Anfang an dass es ein Mädchen wird. Ich hatte das so im Gefühl." strahlte ich meinen Bruder an. Auch er begann zu strahlen. Schnell griff ich nach seiner Hand und legte sie auf meinen Bauch, als man wieder die Tritte spüren konnte: „Marco kann sich aber trotzdem nicht beschweren, ihr Schuss ist hart wie Stein." zwinkerte er mir zu. Begeistert nickte ich: „er freut sich wirklich, dass es jetzt dich ein Mädchen ist. Eben nach dem Termin haben wir den ersten Pullover gekauft. Die Sachen sind so winzig." schwärmte ich. In meinen Augen waren bestimmt bereits Herzchen abgebildet. Niemals hätte ich gedacht, so viel Liebe empfinden zu können.
Auch wenn der Termin heute nicht so schön war, es war trotzdem ein gutes Gefühl, Lennard zur Seite stehen zu können und zu wissen, dass wir zwei die Verhandlung gemeinsam durchstehen mussten oder eher konnten. Wir waren ja schon immer eng - aber enger als heute ging ja nunmal nicht mehr.
„Musst du heute gar nicht mehr fahren?" wechselte ich irritiert das Thema, als er sich ein zweites Bier bestellte und wir uns dazu entschieden, auch etwas zum Abendessen zu bestellen. „Doch, aber ein Zweites wird doch wohl noch drinsitzen, meinst du nicht?" fragte er verwundert. Ich zuckte mit den Achseln: „Muss das sein?" fragte ich langgezogen: „Frag doch lieber Leon, ob er dich abholen kann." murmelte ich leise - aus Angst vor seiner Reaktion. Lennard seufzte traurig und räusperte sich, nachdem er sich verzweifelt mit der Hand über sein Kinn fuhr: „Würde ich ja gerne, aber-" er stockte kurz, bevor er sich dazu durchrang weiter zu sprechen: „Er ist wieder bei seinen Eltern. Bei uns ist wieder der Wurm drin. Vielleicht sollten wir uns wirklich trennen." geknickt setzte er den Flaschenhals an seiner Unterlippe an und trank einen weiteren Schluck Bier.

Schmetterlingseffekt IIWhere stories live. Discover now