• 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 6 •

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Molly

Ich hocke auf einem Stein abseits des kleinen Zeltlagers. In der Ferne kann ich die hellen Kinderstimmen hören, wie sie einander laut irgendetwas zurufen. Vereinzelt werden sie von tieferen erwachseneren Stimmen unterbrochen, die versuchen, sich Gehör zu verschaffen, doch es klappt nicht. Wahrscheinlich macht es keinen Sinn, eine Gruppe aufgewühlter Grundschulkinder ruhig kriegen zu wollen. Sie sind wie kleine Poltergeister, deren Stimmung wie das Pendel einer Uhr ununterbrochen schwankt.

Im einen Moment kreischen sie vor Freude – Tick.
Im nächsten Augenblick stolpern sie und der Freudenruf wird zu einem kläglichen Wimmern – Tack.

Nur ich sitze hier allein abseits von all dem. Die Knie fest an die Brust gezogen und das Kinn auf diesen abgelegt. Obwohl es Spätsommer ist, weht ein kühler Wind, der die ungeraden Spitzen meines dunklen Haars verweht. Kurz bevor wir losgefahren sind, hat mein kleiner Bruder Theodor versucht mir die Haare zu schneiden und ich muss jetzt mit den Konsequenzen leben.

„Was machst du denn hier, Molly?", erklingt eine bekannte Stimme hinter mir. Anton Schiffke stapft in meine Richtung. Es ist ein wenig seltsam, ihn ohne seine Seemannsmütze zu sehen. Auch seinen Bart hat er für das Zeltlager sich abrasiert, sodass nur das dünne graue Haar auf seinem Kopf ihn irgendwie vor der prallen Sonne schützt.

„Mir sind die anderen zu laut!"
Ein kleines Schmunzeln huscht über seine Lippen, während er sich neben mir auf den Stein setzt. Einen Moment lang herrscht stilles Schweigen zwischen uns, bis er schließlich noch immer lächelnd zugibt: „Mir auch."

„Warum sind Sie dann hier?"
„Weil ich meinen Beruf liebe!"
Ich muss zugeben, dass das durchaus einleuchtend klingen kann, obwohl ich mir nicht sicher bin, was die Aufsicht im Zeltlager mit dem Beruf als Bürgermeister zu tun hat, den Herr Schiffke schon seit Jahren für sich beansprucht. Im Grunde hat er diesen Posten seit ich denken kann und ich könnte mir auch niemand anderes dafür vorstellen.

„Was sind Sie wirklich von Beruf?", wage ich zu fragen.
„Woher weißt du, dass ich noch einen anderen Beruf habe? Du bist doch zwölf! In deinem Alter sollte man denken, dass Kindergärtner in der Kita wohnen und Lehrer im Lehrerzimmer!"

„Ich fürchte, ich bin aus dem Alter raus", gestehe ich, während mein Blick über das Feld zu den Zelten gleitet. Unser anderer Betreuer hat meine Kumpanen immer noch nicht zur Ruhe zu bekommen. Nur mein kleiner Bruder Theodor hängt vollkommen fertig auf einem Klappstuhl und scheint eingeschlafen zu sein. Für seine fast elf Jahre ist er ein ausgesprochen ruhiges Kind. Wahrscheinlich hat er das von mir. Nur eine Bestellschere und mein dichtes schwarzes Haar können den Raufbold in ihm zum Leben erwecken.

„Hat man es im Leben schwerer, wenn man seltsam ist", platzt es plötzlich aus mir heraus.
Schiffkes buschige Augenbrauen nähern sich einander: „Und du denkst, ich wüsste das?"

„Entschuldigung", sofort färben sich meine Wangen in einem leichten Rotton, „ich wollte nicht-."

„Schon gut", er stößt ein tiefes ehrlich Lachen aus, wie ich es von ihm selten gehört habe, „ich bin vielleicht ein klein wenig seltsam, Molly und ja, es macht das Leben nicht leichter, so zu sein, aber weißt du, was das Leben wirklich schlimm macht?"
Ich schüttle ehrlich den Kopf.

„Nicht du selbst zu sein!"

Dieser Traum spukt mir immer noch im Kopf herum, als ich am nächsten Morgen den Tresen der Bar wische. Kat ist mir hartnäckig bis hierher gefolgt. Nun sitzt sie an einem der Fenstertisch. Die Arme hat die junge Frau verschränkt und den Kopf darauf abgelegt, während ihr Blick hinaus zum Meer gleitet. So, wie sie jetzt dort verweilt, wirkt sie viel ruhiger. Ich kann einfach nicht anders, als mich zu fragen, was von beidem die echte Kat ist: Das quirlige Mädchen oder diese nachdenkliche junge Frau. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie es selbst nicht so recht weiß.

„Nesrin hat mir von ihr erzählt", erklingt Fionas Stimme neben mir.
Ohne, dass ich es bemerkt habe, ist die Blondine an der Theke erschienen. Auch sie mustert Kat mit schief gelegtem Kopf.

„Gestern Abend kam sie mir wie eine Fünfzehnjährige vor und jetzt habe ich das Gefühl, sie wäre zehn Jahre durch die Zeit gereist", gestehe ich leise, um nicht Gefahr zu laufen, von Kat gehört zu werden. Wahrscheinlich hätte ich es auch schreien können und sie hätte mich nicht bemerkt. Die junge Frau schien so sehr in ihre Gedanken vertieft zu sein, dass sie die ganze Welt um sich herum vergisst.

„Ich kenne sie nicht", meint Fiona zögerlich, „aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie zu Kiehsau passt."
„Sie hat schon nicht alle Latten am Zaun!"

„Genau das meine ich", grinsend fährt meine Kellnerin mit ihrer Arbeit fort, während ich noch ein paar weitere Sekunden lang zu Kat sehe, die sich in diesem Moment umdreht.

Sofort richten sich ihre schokoladenbraunen Augen auf mich. Ein Blinzeln und die Nachdenklichkeit scheint verschwunden zu sein. Stattdessen ist dort wieder dieses Funkeln, das ich einfach nicht einordnen kann. Nicht, weil ich nicht die Gefühle erkenne, die darin liegen, sondern weil ich nicht die Empfindungen verstehe, die es in mir weckt.

𓅿

Sonntag geht's weiter! ❤️

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