• 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 38 •

46 12 12
                                    

Molly
Ein paar weitere Wochen später

Mit meinen gepackten Koffern hocke ich am Straßenrand und warte auf meinen Bruder Theo, der sich mal wieder ungewöhnlich viel Zeit lässt.

„Auch fertig?", erklingt Herr Schiffkes fragende Stimme. Im nächsten Moment lässt sich der Bürgermeister bereits neben mir auf dem Bordstein nieder. Mit einem schiefen Lächeln sehe ich zu ihm: „Ja, sobald Theo hier ist, geht es für mich los."

„Mhm...", brummt Schiffke und nickt mehr zu sich als zu mir, „ein Studium in Heidelberg. Eine große Sache!"
„Definitiv", stimme ich ihm zu, „aber kein Jura!"
„Trotzdem eine große Sache!"

Da kann ich ihm nur Recht geben. Kurz nachdem ich Frau Stieglers Brief geöffnet hatte, kam bereits der Anruf, der Universität, dass man mir einen Studienplatz anbieten würde – ganz egal wo. Mir war sofort klar, dass es nicht Jura sein würde. Ich wollte und will meine Bar nicht für immer verlassen und Kiehsau erst recht nicht. Daher fiel mir die Entscheidung für Betriebswissenschaftslehre nicht sonderlich schwer. Mit Hilfe von dem Scheck werde ich die nächsten sechs Semester die Bar finanzieren können. Es hat lange gedauert, aber schließlich haben Fiona und ich es geschafft, eine Mitarbeiterin zu finden, die mich ersetzt und spätestens, wenn die Geburt bei Fionas näher rückt, werden wir jemand weiteres engagieren müssen, doch glücklicherweise wird bis dahin noch viel Zeit verstreichen. Erst einmal kann ich mir meinen Traum von einem richtigen Studium in Heidelberg erfüllen. Allein dieser Gedanke lässt mich zufrieden seufzen.

„Und bei Ihnen?", frage ich nun Herr Schiffke, der für einen kurzen Moment in seine Gedanken vertieft zu sein schien, „ist alles fertig für Ihren Urlaub?"
„Absolut", sofort beginnt der Bürgermeister auf eine beinahe kindliche Art zu strahlen, „ich bin absolut bereit!"

„Dann müssen wir uns beide wohl erst einmal von Kiehsau verabschieden. Wir werden es vermissen."
„Das werden wir", bestätigt Schiffke und sein Lächeln wird eine Spur melancholischer, „ich habe Kiehsau lange nicht mehr verlassen, aber vielleicht ist es ja an der Zeit mal etwas Neues zu sehen."
„Es scheint so", stimme ich ihm zu.

Wir beide lächeln einander an, ehe wir unsere Blicke wieder auf die Straße vor uns richten. Einen Moment lang herrscht schwiegen, aber nicht von der bedrückenden Art, sondern von der zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, aber dennoch im Stillen die Gegenwart des anderen genießen, ohne daran zu denken, was womöglich Schlimmes auf sie irgendwann zukommen könnte.

„Denken Sie auch, dass es Zeit wird für einen neuen Fingerschwur?", platzt es plötzlich aus mir heraus.
Herr Schiffke hebt fragend seine Augenbrauen: „Können solche Schwüre ablaufen?"

„Ich denke nicht, aber wir könnten ja einen neuen machen – also, um auf Nummer sicher zu gehen."
„Wie zum Beispiel, dass wir nach Kiehsau zurückkehren?"
Ich lache leise auf: „Das wäre ein guter Schwur, aber ich dachte eher daran, dass wir dieselben Träumer bleiben wie damals."

Ohne zu zögern, streckt mir der Bürgermeister seinen kleinen Finger hin. Ich hake meinen ein, ehe ich ihn grinsend ansehe: „Ich schwöre, dass ich dieselbe Träumerin bleibe wie früher."
„Und ich schwöre", meint Herr Schiffke feierlich, „dass ich weiterhin daran glaube, dass sich die Welt verändern kann!"

„Sollte es mich verwundern, dass du Blutsbrüderschaft mit meinem Onkel schließt? Denn irgendwie tut es das nicht."

Wir beide lassen einander verwirrt los und fahren zu der Stimme herum. Der Bulli hat keine zehn Meter von uns entfernt geparkt. Während Theo entspannt hinterm Steuer sitzt, beugt sich Luke nun weit aus dem Fenster. Sein Grinsen scheint förmlich von einem Ohr bis zum anderen zu gehen.

Herr Schiffke stößt nur ein tadelndes Schnauben aus. Ich hingegen verdrehe meine Augen und rufe zurück: „Es würde mich irritieren, wenn dich irgendetwas hier in Kiehsau verwundern würde."

„Punkt für dich!", antwortet Luke. Schon zieht er seinen Kopf wieder ein. Neben mir rappelt sich Herr Schiffke noch immer über seinen Neffen den Kopf schüttelnd auf. Auch ich erhebe mich vom Straßenrand.
Theo steigt gerade aus, um meine Koffer zu holen, wobei Luke ihm eilig zur Hilfe kommt.

Ein wenig unschlüssig sehen Herr Schiffke und ich ihnen dabei zu. Einerseits will ich mich verabschieden, andererseits will ich eigentlich gar nicht gehen.
„Dann heißt es jetzt wohl auf Wiedersehen sagen", meine ich schließlich, als alle Koffer im Wagen verstaut sind und Theo mir auffordernd zunickt.

Der Bürgermeister lächelt leicht, obwohl ich ihm ansehe, dass er auch nicht Abschied nehmen will: „So scheint es."
„Das ist ja kein Abschied für immer", versucht Luke die Situation aufzulockern, doch selbst er muss ein wenig schlucken.

„Na dann", tief durchatmend laufe ich auf den Bulli zu. Theo hat sich bereits wieder auf den Fahrersitz geschwungen. Nun nehme ich neben ihm Platz und winke noch ein letztes Mal zu Onkel und Neffe, die nebeneinander auf dem Gehweg stehen. Beide erwidern die Geste sofort.

Während Theo den Wagen startet, kann ich Luke noch waghalsig fragen hören: „Onkel, wenn ich auf deine Blumen aufpasse, soll ich dann auch ein Auge auf den Gin in deinem Arbeitszimmer werfen, ich habe gehört, dass der schnell schlecht-."

„Luke Schiffke", unterbricht der Bürgermeister ihn laut brüllend, „wenn du auch nur einen Tropfen vom Alkohol anrührst, dann schwöre ich dir, dass..."

Wie die Drohung endet, können Theo und ich nicht mehr hören, denn in diesem Moment setzt sich der Bulli laut knatternd in Bewegung. Wir fahren an den Beiden vorbei, die erneut winken, wobei sie sich offenbar zusammenzureißen scheinen. Kaum sind wir an ihnen vorbei, geht das Geschimpfe bereits weiter. Was hätte ich auch anderes von ihnen erwarten soll?

Schmunzelnd lehne ich mich ein wenig aus dem Fenster. Die Luft riecht nach Meer und am liebsten würde ich bei diesem Duft genießerisch die Augen schließen, doch ich kann meinen Blick einfach nicht von den vielen kleinen Häuschen abwenden, während wir den Kreisverkehr ansteuern.
„Eine Extrarunde?", will mein Bruder wissen, worauf ich nur nicke.

Einmal fahren wir komplett durch den Kreisverkehr, ehe wir erst beim zweiten Mal die Abfahrt nehmen, die uns aus Kiehsau herausführt. Langsam werden die Häuser hinter uns kleiner, bis die Straßen mehr Löcher haben und der Wagen ratternd über die Landstraßen rollt – hinaus aus Kiehsau. Irgendwann löse ich meinen Blick aus dem Rückspiegel, um stattdessen nach vorne zu sehen und zu bemerken, dass der Himmel irgendwie anders aussieht.

𓅿

Ob es möglich ist, dass das letzte Kapitel war und jetzt nur noch der Epilog kommt? Ja, ist es...

Du wirst mein Traum | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt