TEIL 1 - GLYPHEN

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Die ersten Sonnenstrahlen färben den Horizont bereits rot, doch in der kalidurischen Zitadelle herrscht noch immer eine schläfrige Stille.

Die Mediziner und Heiler, die die Nachtschicht bestritten haben, warten in den ihnen zugeteilten Stationen erschöpft auf ihre Ablösung, während der Großteil ihrer Patienten friedvoll schlummert. Nur wenige Frühaufsteher wandern wie von Geistern getrieben durch ihre Zimmer oder liegen auf ihren Betten und starren mit aufgerissenen Augen hinüber zur Tür, als könnten sie dahinter den jungen König ausmachen, der sich durch die Gänge schleicht.

Dieser trägt weder eine Krone noch ein teures Gewand. Über seine einfache Stoffkleidung hat er sich bloß einen weißen Kittel gestreift. Sein zerzaustes, dunkles Haar und die Ringe unter seinen Augen zeugen von einer langen, schlaflosen Nacht. Dennoch haftet seinen Bewegungen eine Leichtigkeit an, während er durch die Treppen und Gänge eilt. Nur hin und wieder hält er inne, um zu horchen oder sich in einen anderen Gang zu drücken, wo er darauf wartet, dass die Mediziner und Heiler vorbeiziehen, bevor er weiterhuscht, flink und leise wie ein Dieb.

Wenige Meter vor einer Flügeltür bleibt er schließlich stehen. Sie ist einen Spalt breit geöffnet und die murmelnde Stimme des Obersten Heilermeisters dringt vom Flur auf der anderen Seite an seine Ohren: »Ich bin mir sicher, ich habe es bereits erwähnt.«

»Was genau habt Ihr ihm denn gesagt?« Diese barsche Stimme kann der junge König ohne einen Moment des Zweifels seinem Kriegsherrn zuordnen:

Alastair.

Der junge König beschließt, sich der angelehnten Tür zu nähern, um die beiden besser belauschen zu können. Seine Bewegungen sind ebenso zügig wie vorsichtig, seine Schritte unhörbar.

»›Ungefährlich ist es nicht‹ oder so etwas in der Art...«, sagt der Heilermeister.

»Ist Euch denn nicht bewusst, dass Ihr sein Leben mit Eurer Nachlässigkeit aufs Spiel setzt, Hadrian? Vergesst nicht, Ihr seid nach wie vor ein Teil des Königsrats. Eure oberste Priorität ist es, die Krone zu beschützen!«

Die Antwort kommt gestochen scharf: »Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass es meine Patienten sind, die für mich Vorrang haben, selbst vor den Belangen des Rats. Wenn also die Chance besteht, dass er einen meiner Patienten rehabilitieren kann, werde ich mich ihm sicher nicht in den Weg stellen.«

»Dann stehen Eure und meine Pflichten in direktem Konflikt miteinander«, gibt Alastair knurrend zurück. »Verdammt nochmal! Ihr beide bringt mich in eine prekäre Lage mit eurer Unvorsichtigkeit!«

Der junge König steht nun unmittelbar vor der Tür und will gerade seine Hand ausstrecken, um sie vollends zu öffnen, als der Heilermeister das Wort erneut ergreift: »Geht es Euch denn wirklich ausschließlich um Ares' Schutz? In dem Fall muss ich mich fragen, wieso Ihr alleine angereist seid. Weshalb habt Ihr dem Rat nicht mitgeteilt, wo er sich befindet?«

»Worauf spielt Ihr an? Etwa darauf, dass mich Euer Patient schert? Er könnte vor meinen Füßen krepieren und ich würde mich nicht zwei Mal nach ihm umsehen! Nein, ich bin bloß hier, weil ich gehofft habe, an Eure Vernunft appellieren zu können, ohne dass es gleich hässlich werden muss. Aber ich sehe nun, ich war ein Narr, dergleichen erwartet zu haben. Ich hätte den Rat schon längst einschalten sollen.«

Der junge König beschließt, ihr Gespräch zu unterbrechen, indem er die Tür aufstößt.

»Ares?«, entfährt es Alastair überrascht. »Du bist schon wach?«

»Mehr oder weniger«, brummt der junge König, während er den Gang betritt. Die Männer verbeugen sich kurz vor ihm und als sie wieder aufrecht stehen, sieht er von einem zum anderen. »Was macht ihr hier zu dieser frühen Stunde?«

Der Halbe Augur [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt