Kapitel 1 - Der Dakahn

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Al-Khurab ist keine gewöhnliche Stadt, denn ihre Mauern sind drei Mal so hoch und zwei Mal so breit wie die vergleichbarer Verteidigungsanlagen in den Distrikten. An einem sonnigen Tag kann man Al-Khurab deshalb aus vielen Kilometern Entfernung erspähen. Umso bemerkenswerter ist es, dass die genaue Lage dieser Stadt, wie auch die der Steppenstädte Umbra und Corr, im Ausland solch lange Zeit unbekannt war.

Vermutlich lag es daran, dass jeder, der diese Städte zu Gesicht bekam, in seinen Knochen spürte, dass sie nicht bloß Festungen waren. Sie waren stille, steinerne Warnungen. Natürlich trugen aber auch die Clans dazu bei, dass Fremden beim Anblick der Stadtmauern die Knie weich wurden. Wer nicht mit Pfeilen bespickt oder von Säbeln erschlagen in der Steppe verenden wollte, der war besser beraten, seine Beine in die Hand zu nehmen, anstatt eine Landkarte anzufertigen.

Innerhalb der Stadtmauern Al-Khurabs ging es zur Zeit meines Aufenthalts damals jedoch weitaus weniger beeindruckend zu. Besonders in den weniger betuchten Vierteln dominierten vor allen Dingen rissige Granit- und Tonbauten das Gesicht der Stadt und es roch durchdringend nach Ziegen, Pferdekot und körperlichen Ausdünstungen. Da zur Epoche des Wiederaufbaus jeder einfach dort sein Haus errichtet hatte, wo Platz gewesen war, war über die Jahrzehnte hinweg ein unüberschaubares Labyrinth aus verworrenen Gassen, schrägen Plätzen und unzähligen Sackgassen entstanden.

Im Herzen dieses Wirrwarrs hatte man einen aus mehreren Gebäuden bestehenden Palast errichtet. Im Größten und Prunkvollsten davon, dem Herrscherhaus, lebten Dakahn Yarran und die Edlen Al-Khurabs. Man hatte es ganze sieben Stockwerke hoch gebaut, nur um sicherzugehen, dass selbst die Bewohner der Elendsviertel im Außenbezirk es zu bestaunen vermochten.

Auf einem der oberen Balkons dieses Gebäudes hatte ich Zuflucht vor den Festlichkeiten gesucht, die schon seit der Verkündung des abgeschlossenen Friedensvertrags am Mittag in vollem Gange waren. Seufzend lehnte ich mich über die Holzbrüstung, um hinunter auf die Straßen jenseits der Palastmauern zu spähen, die in dieser warmen Mainacht mit Leben pulsierten.

Der Mond stand bereits am Firmament und für gewöhnlich würde sich zu dieser Zeit niemand mehr vor die Tür wagen, doch heute wimmelte die Südstraße von Menschen. Papierlaternen, so zahlreich wie die Sterne am Himmel, tauchten die Stadt in ihren warmen Schimmer und der Wind wehte mir Musik, Gesang und Lachen ans Ohr.

Die ganze Stadt war in Festlaune, ob des Siegs über die Rhenari und obwohl ich mich bemühte, diese Gelöstheit in mich aufzusaugen, wollte in mir keine Freude aufkommen. Ab und zu hörte ich nämlich einen Ruf, das verzückte Kreischen spielender Kinder oder auch nur ein zu lautes Bellen und auf einmal hatte ich das Echo von Eris Schreien in meinen Ohren.

In diesen Momenten wollte ich einfach nur noch nach Hause. Zu Merle und Wolke. Zu meiner Tochter und meinen Freunden...

»Hier bist du also«, ertönte eine wohlbekannte Stimme.

Aus meiner Versunkenheit gerissen fuhr ich herum. Kjell, der Herr der Schatten, stand an den Türrahmen gelehnt hinter mir. Er hielt zwei Kelche in der Hand und reichte mir einen davon, als er sich neben mich gegen die Brüstung lehnte. Überrascht nahm ich ihn entgegen, nur um festzustellen, dass sich kein Branntwein darin befand, sondern bloß kalter, dunkler Tee.

Trotzdem bedankte ich mich und musterte meinen ehemaligen Lehrmeister von der Seite. Wie ich trug er dunkle Lederstiefel, eine robuste Lederhose sowie ein Leinenhemd, über das er sich einen beinahe knielangen grauen Mantel gestreift hatte. Darauf war auf Brusthöhe auf der linken Seite eine von einem Kreis umrahmte Getreideähre in den Stoff eingenäht - das Clanabzeichen der Sanael.

Kjell lächelte nicht, aber er strahlte dennoch Zufriedenheit aus, während er auf das Getümmel hinabblickte. Bis auf seine pechschwarzen Iriden hatte er sich vollkommen verändert. Die blonden Haare hatte er sich dunkel gefärbt, kaum dass wir die Distrikte verlassen hatten, und selbst sein Gesicht, den Hals und die Hände hatte er sich mit einem bräunlichen Mittel eingeschmiert, damit er den Steppenbewohnern ähnlicher sah.

Der Halbe Augur [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt