Kapitel 2 - Schattenversammlung - Teil 1

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Kjell zögerte nur einen Augenblick, ehe er aufstand, sich verbeugte und daraufhin entfernte, ohne auch nur ein einziges Mal meinem suchenden Blick zu begegnen.

Ich war nie sonderlich begeistert, wenn mir in Aussicht gestellt wurde, mit Yarran allein zu sein. Immerhin genügte ein Wort von ihm, um mich auf die andere Seite des Schleiers zu befördern, und heute konnte ich mich nicht einmal auf meine Magie verlassen, um mich davor zu bewahren. Sowohl der Branntwein als auch das Nachtkreuz, das schwer und rauchig in der Luft schwebte, spielten nämlich bereits mit meinen Sinnen und trübten meine Magie.

»Kjell scheint nicht viel Vertrauen in dich zu haben«, eröffnete der Dakahn unser Gespräch.

Überrascht sah ich ihn an.

»Drei Jahre kennt ihr euch schon, nicht wahr?«, fragte Yarran. »Drei Jahre und noch immer verbietet er dir den Mund, wie an dem Tag, an dem ich dich kennenlernte. Wieso lässt er dich so selten sprechen? Beschützt er dich vor mir oder hält er dich absichtlich klein? Glaubt er vielleicht, du seist einfältig?«

Ich wusste, ich bewegte mich auf dünnem Eis und dementsprechend vorsichtig wählte ich meine nächsten Worte: »Ihr habt recht, Dakahn. Kjell und ich kennen uns schon seit drei Jahren. Allerdings bildet er mich erst seit den letzten zwei Jahren zu seiner rechten Hand aus und deshalb habe ich noch viel zu lernen.«

Yarran beäugte mich abwägend. »Weder bin ich dieser Überzeugung noch glaube ich, dass du es bist. Nein, das Problem liegt nicht bei dir. Es liegt bei ihm. Sieh, ich kenne viele Meister und habe selbst unter einigen gelitten. Lass dir gesagt sein: Es ist besser, sie anzuzweifeln, denn die meisten wissen nicht, wann ihre Zeit vorbei ist.«

Jäh erhob er sich und bedeutete mir, es ihm gleichzutun.

»Du hast einen interessanten Punkt zur Sprache gebracht«, sagte der Dakahn, während wir auf die rechte hintere Ecke zusteuerten. Dorthin, wo sich der Schrank befand. »Ich messe meinen Edlen in der Tat sehr viel Bedeutung bei und in meinem Eifer, sie zufriedenzustellen, verliere ich gelegentlich den Blick auf das Wesentliche. In diesen Fällen ist es vorteilhaft, jemanden zur Seite zu haben, der mich daran erinnert, dass sich nicht alles um sie drehen darf. Die Götter haben mich schließlich nicht grundlos an die Spitze der Sanael gesetzt.«

Trotz des Nachtkreuzes in meinen Lungen und des Alkohols in meinem Magen liefen mir wegen des Artefakts Schauer über die Haut, als wir unmittelbar vor dem düsteren Möbelstück stehen blieben. Ein Teil von mir sehnte sich immer verzweifelter danach, die Schranktür aufzureißen, um es an mich zu bringen, ein anderer Teil wollte sich die Ohren zu halten und schreien.

»Sicher ist dir bereits zu Gehör gekommen, dass ich meinen Günstlingen hin und wieder Geschenke mache, nicht wahr? Männer, die meine Wertschätzung auf die ein oder andere Weise erlangt haben. Nun, heute darfst du dich zu ihnen zählen.« Yarran öffnete die Schranktür. »Was auch immer du möchtest, nimm es dir.«

Das Artefakt war ein Stirnreif.

Ein goldener Stirnreif, in dem funkelnde Edelsteine eingefasst waren.

Einer davon milchig-weiß.

Das war alles, was ich sah und was ich dachte. Selbst die Tragweite von Yarrans Worten sickerte erst viele Stunden später zu mir hindurch.

›Heb mich auf und träufle deine Erinnerungen in mich hinein‹, säuselte das Artefakt.

Meine Erinnerungen?

›Ja, Wanderer. Deine Erinnerungen. Gib sie mir. Jene, die du nicht in dir tragen möchtest. Streck deine Finger nach mir-‹

Ich hatte bereits meine Hand gehoben, hielt jedoch inne, als ich mir eines weiteren Hauchs von Magie gewahr wurde. Kein Säuseln ging davon aus und das verdutzte mich, denn wäre es ein Artefakt gewesen, hätte es schon längst versucht, mich dazu zu überreden, es zu benutzen. Diese Magie jedoch sprach nicht... und sie roch nach süßer Luft und feuchter Erde.

Der Halbe Augur [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt