TEIL 2 - TALENT

1.2K 113 117
                                    

»Auch wenn sich Haven hartnäckig geweigert hatte, mir die Heilungen beizubringen, war ich bester Laune, als ich in den Palast zurückkehrte. Mein Bauch schmerzte nicht mehr, Haven hatte mir nach der Heilung ein Festmahl aus der Küche zukommen lassen und darüber hinaus hatte sie keinerlei Hemmungen gehabt, mich auszuschimpfen und mich zu belehren. Mein Halbblut schien sie also nicht länger als Bedrohung wahrzunehmen. Mit vollem Magen legte ich mich in mein Bett, um mir ein paar Stunden Schlaf zu gönnen. Zur Abenddämmerung wachte ich wieder auf und entschied, dass es zu spät war, um zu meinem Magieunterricht aufzukreuzen. An den darauffolgendenen Abenden kamen mir ähnliche Dinge dazwischen. So verquatschte ich mich mit einem Adligen im Flur, verbrachte zu viel Zeit mit dem Lesen meiner Briefe, verirrte mich in den Geheimgängen... Mir gingen die Entschuldigungen jedenfalls nicht aus, dem Augur aus dem Weg zu gehen. Niemand sagte etwas dazu. Nicht einmal Kjell, obwohl dieser mit Sicherheit mitbekommen hatte, dass ich den Unterricht des Augurs schwänzte. Ich wusste nicht, wie lange mein Glück anhalten würde - oder vielmehr, wem wann der Kragen platzen würde - aber ich nahm mir vor, die Situation so lange wie möglich auszukosten.«

Tobin hebt den Finger an die Lippen, den Blick auf etwas hinter Ares gerichtet. »Habt Ihr das gerade auch gehört?«, flüstert er.

Der junge König vermeidet es, sich umzudrehen. »Was gehört?«

»Ein Knarzen oder so.« Tobin runzelt die Stirn. »Wieso steht die Tür überhaupt offen?«

Als der Patient Anstalten macht, sich zu erheben, sagt Ares schnell: »Wahrscheinlich ist nur einer der Mediziner vorbeigelaufen. Von denen waren heute Morgen einige unterwegs und einer hat mich darum gebeten, die Tür einen Spalt breit offen zu lassen, während ich mit Euch spreche.«

Tobin lässt sich wieder auf seinen Stuhl zurückfallen. »Unglaublich! Also vertrauen sie mir nach all der Zeit immer noch nicht! Sicher, es ist etwas befremdlich, zu wissen, dass mich ein Dämon besessen hat, aber das liegt doch in der Vergangenheit. Ich bin wieder ich selbst... mal abgesehen von meinen fehlenden Erinnerungen natürlich.« Er stockt und seine Wangen verlieren an Farbe, als ihm einfällt, was ihm am Vorabend durch den Kopf gegangen ist: »Kann man mich eigentlich dafür verurteilen, dass ich mich von einem Dämon habe besetzen lassen?«

Ares schüttelt den Kopf. »Nein. Das ist eines der ersten Gesetze, die nach dem Krieg erlassen wurden. Niemand kann für seine Besessenheit bestraft werden, geschweige denn für die Taten, die er währenddessen begangen hat. Es gibt einfach zu viele Gründe, um Dämonen nachzugeben. Das Retten des Lebens eines geliebten Menschen zum Beispiel oder das Lindern von Schmerz, dem Entkommen des eigenen Todes. Aber selbst niedere Gründe wie ein Versprechen auf körperliche Stärke, Rache und gesellschaftlichen Aufstieg werden nicht verurteilt, denn die Besessenen haben bereits einen hohen Preis bezahlt.«

Der Blick des Patienten schweift zu den leeren Teetassen. »Warum wollt Ihr eigentlich, dass ich mich erinnere? Worum geht es Euch? Ich bezweifle, dass es Euch um meine geistige Gesundheit geht oder darum, mir Eure Geschichte zu erzählen.«

»Ihr habt recht. Es geht weder um Euch noch um mich. Es geht um etwas, das sich möglicherweise in Euren Erinnerungen verbirgt. Ein verlorenes Stück eines Puzzles.«

»Was für ein Puzzle?«

»Nun, das ist das Problem«, murmelt Ares. »Ich würde es Euch gerne direkt sagen, aber die Heiler und Mediziner haben mir davon abgeraten. Sie sagten mir, das gezielte Suchen nach Erinnerungen könnte diese zerstören oder verfremden.« Etwas fester führt er fort: »Aber ich brauche Eure Erinnerungen vollständig und unbeschädigt und deshalb kann ich Euch bloß die Wahl geben, Euch meine Geschichte ganz anzuhören oder es sein zu lassen.«

Tobin reibt sich das Kinn. »Und diese Erinnerungen, die Ihr in mir zu finden versucht, die werden mir nicht gefallen, nicht wahr?«

»Nein, das werden sie nicht. Ich wünschte, ich könnte Euch etwas anderes erzählen, aber Euer Gedächtnis ist leider ein zweischneidiges Schwert. Solltet Ihr es wiedererlangen, werdet Ihr Euch an alles erinnern, an die guten, wie auch die schlechten Dinge. Ihr werdet Euren Namen wiedererlangen und Euch vielleicht sogar entsinnen können, wer Euch beigebracht hat, Eure Schuhe zu schnüren. Aber Ihr werdet Euch auch an das erinnern, was Ihr verbrochen habt. Und dafür, Tobin, werdet Ihr Euch hassen.«

Der Halbe Augur [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt