13. Nathan

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„Wieso haben wir euch nicht schon früher bemerkt? Wir sind schliesslich schon fast einen Monat hier und haben dich zuvor erst einmal ganz schwach gerochen!", wollte Luke misstrauisch wissen. Ihm gefiel es nicht, dass wir Alexandra und ihre Geschwister aus dem Kerker geholt hatten. Er meinte, sie wären unsere Feinde. Rudellose waren schliesslich immer feindlich und gefährlich. Aber er hinterfragte meine Entscheidung nicht. Er würde uns unterstützen und sich seine eigene Meinung bilden. Und ich wusste, dass auch er einsehen würde, dass die fremden Wölfe nicht feindlich gestimmt waren. Vermutlich könnte ich seine Meinung ganz einfach dadurch beeinflussen, dass ich ihm sagte, dass Alexandra meine Gefährtin war. Irgendwie wollte ich allerdings, dass er sie auch ohne dieses Wissen akzeptierte. Nicht, dass es irgend einen Unterschied gemacht hätte. Doch er gehörte zu meinen besten Freunden und deshalb war es mir wahrscheinlich doch ein klein wenig wichtig, was er dachte.

Seine Frage war jedoch wirklich gut. Soweit hatte ich gar noch nicht gedacht. In unserer Menschengestalt war unser Geruch zwar weniger auffällig, unterschied sich jedoch immer noch stark von dem normaler Mensch. Und einen fremden Wolf in unseren Gebieten hätten wir bemerken müssen. Vor allem wenn dieser so unglaublich gut roch, wie Alex es für mich tat. Ausserdem verwandelten wir uns zwangsweise in unsere zweite Gestalt. Alle paar Tage mussten wir das tun, da wir es ohne kaum aushielten. Es war aber auch einfach ein viel zu schönes Gefühl, als Wolf durch die Wälder zu rennen.
Wie konnte es also sein, dass wir sie nicht bemerkt hatten? Vielleicht war sie extra weg gefahren, um sich anderswo zu verwandeln? Aber als Mensch hätten wir sie trotzdem riechen müssen.

„Nick, Ben und Maja haben ihre erste Verwandlung noch vor sich und riechen deshalb kaum nach Wolf", war alles was sie darauf antwortete.
Luke nickte bedächtig. Das war uns allen bewusst, doch es ging hier um die Älteste der Geschwister und sie konnte sich ganz sicher verwandeln. Das sprach Luke auch aus und fixierte sie mit einem berechnenden Ausdruck.
Alex seufzte kurz ganz leise und begann zu erklären: „Ich habe meinen Geruch zu verstecken versucht. War immer auf der Hut und bin den Mitgliedern eures Rudels aus dem Weg gegangen, soweit es mir möglich war. Um zu verhindern, dass ihr meinen Wolf riecht, habe ich mich, seit ich euch erstmals bemerkt hatte, nicht mehr verwandelt."

„Das ist fast ein Monat her!", riefen Daimon und Luke ungläubig aus. Alexandra nickte zögerlich. Wir alle drei starrten sie mit offenen Mündern an. Ein Monat nicht verwandeln! Das musste doch der reinste Horror gewesen sein! Das längste was ich bisher ausgehalten hatte, waren vielleicht 10 Tage. Und das waren schon viel zu viele!
„Deswegen warst du so unaufmerksam und hast uns nicht bemerkt", schlussfolgerte Daimon. Alexandra nickte erneut bestätigend und meinte: „Der Drang wurde einfach zu gross. Und als ich endlich wieder als Wolf durch den Wald rennen konnte, übernahmen meine Instinkte und ich achtete auf nichts mehr, ausser auf den Wind und das Gefühl der Freiheit."
Das verstanden wir alle.

Einen Moment war es wieder still. Alexandra beobachtete uns alle drei aufmerksam, während wir unseren Gedanken nach hingen. Ich überlegte, was ich als Nächstes fragen könnte. Es gab unzählige Dinge, die ich über meine Gefährtin wissen wollte, doch diese konnte ich auch ein andermal noch klären. Jetzt ging es darum herauszufinden, wie weit wir ihr trauen konnten. Ich glaubte zwar wirklich nicht, dass sie uns schaden würde, doch ich befürchtete, dass ich nicht besonders objektiv an die Sache ging, da es sich um meine Gefährtin handelte. Und diese war immerhin eine Rudellose.

Ich musste wissen, weshalb sie ohne Rudel lebte, doch ich wusste nicht, wie ich das möglichst unaufdringlich fragen sollte.
„Wieso seit ihr von eurem Rudel verstossen worden?", übernahm Luke die Frage. Direkt mit der Tür ins Haus fallen. So ging es natürlich auch, obwohl es anders vermutlich freundlicher gewesen wäre.

Ich behielt die rothaarige Wölfin genau im Auge. Daimon neben mir schien ebenfalls genauestens ihre Reaktionen zu studieren.
Alexandra schien erst ziemlich überrascht von der Frage, bevor sich langsam Erkenntnis gefolgt von ungläubiger Wut auf ihrem hübschen Gesicht abzeichneten. Sie setzte sich gerader hin und starrte uns herausfordernd an. „Ihr glaubt, dass wir etwas verbrochen haben und daraufhin verstossen wurden!", stellte sie das Offensichtliche fest und klang dabei fast schon anklagend.
„Entweder das oder es waren deine Eltern, die etwas unverzeihliches taten und daraufhin verjagt wurden", ergänzte ich ihre Aussage.

Ihr Blick verdüsterte sich schlagartig und schien mich zu durchlöchern. Ein leises, aber sehr wütendes Knurren entkam ihrer Kehle. „Wie kannst du es wagen, meinen Eltern so etwas zu unterstellen?", fuhr sie mich an.
Luke bewegte sich unruhig auf dem Sessel neben mir und schien kurz davor sich einzumischen. Warnend sah ich ihn an. Ich hatte das hier unter Kontrolle. Er musste nicht Eingreifen, dazu gab es zumindest im Moment noch keinen Grund.
Beruhigend sah ich Alexandra wieder an und erklärte: „Wieso sollten wir etwas anderes annehmen? Ihr lebt ohne Rudel. Kein Alpha oder andere Wölfe, die euch beschützen. Ihr seid allein und das liegt nun mal nicht in unserer Natur. Wir gehören in grosse Gruppen. In Rudel. Alleine sind wir schwach. Niemand würde ein solches Leben einem Leben in der Gesellschaft unserer Artgenossen vorziehen! Die einzigen, die ohne den Schutz und die Geborgenheit eines Rudels leben, sind Verbrecher, deren Vergehen so schlimm waren, dass sie von ihren Leuten verstossen wurden!"

Alexandra starrte mich einen Moment sprachlos an, bevor sie den Blick abwandte und irgendetwas unverständliches murmelte. „Wir wurden nicht verstossen!", sagte sie dann mit einer Ernsthaftigkeit in der Stimme, die keine Zweifel offen liess. Leicht verwirrt schaute ich zu meinem Beta, doch auch der schien von dieser Aussage verwundert.
„Weder meine Geschwister, noch ich oder meine Eltern wurden verstossen!", stellte sie noch einmal klar und sah jedem von uns fest in die Augen. „Aber wieso lebt ihr denn dann so?", meldete sich Daimon.

Einen Moment lang war es ruhig. Dann atmete Alexandra tief durch und begann zu erzählen: „Meine Eltern gehörten einem Rudel an, das weiss ich ganz sicher. Leider kenne ich den Namen nicht. Als ich auf die Welt kam zogen sie aus dem Revier des Rudels und wir lebten erst in einem Dorf irgendwo im Nirgendwo. Daran kann ich mich jedoch nicht mehr erinnern. Als Mom dann mit Nick schwanger war, zogen wir hierher. Das Haus war grösser, näher an der Stadt und trotzdem direkt am Wald. Wir lebten hier 12 Jahre lang glücklich und ohne grosse Zwischenfälle. Meine Eltern verloren nie den Kontakt zu ihrem Rudel. Immer wieder gingen sie für zwei, drei Tage weg und besuchten es. Doch uns nahmen sie nie mit. Und es kamen auch keine Rudelmitglieder zu uns. Ich weiss auch heute noch nicht, wieso sie uns von ihrem Rudel fern hielten. Wenn ich meinen Vater gefragt habe, meinte er es wäre zu unserer Sicherheit. Er sagte, sobald ich mich verwandeln könne, würde er mich mitnehmen und seinen Freunden vorstellen." Alexandra stockte kurz und musste schlucken. Danach fuhr sie etwas leiser fort: „Eine Woche vor meinem 16. Geburtstag gingen sie wieder los, um ihre Freunde aus dem Rudel zu besuchen. Aber sie kamen nicht zurück. Am Tag nach meinem Geburtstag verwandelte ich mich erstmals. Seither passe ich auf meine Familie auf." Sie schaute auf und blickte mir mit traurigem Blick direkt in die Augen. „Ich weiss nicht, wieso mein Vater uns vor anderen Werwölfen verstecken wollte. Weder damals, noch heute verstehe ich es. Aber ich glaube daran, dass er einen guten Grund dafür hatte und deshalb führe ich es fort. Wenn Wölfe herkamen, waren es meist einzelne, die bloss auf der Durchreise waren. Ich beobachtete sie und wartete, bis sie weiterzogen. Selten kam es, dass ich mich ihnen zeigte, doch wenn sie nicht wieder verschwanden, vertrieb ich sie. Ich setzte fort, was meine Eltern begonnen hatten, um meine Geschwister zu beschützen."

Im Zimmer war es totenstill. Keiner von uns traute sich, etwas auf diese Geschichte zu erwidern. Es musste schrecklich gewesen sein, ohne die Geborgenheit und Liebe eines Rudels aufzuwachsen. Vielleicht konnten die Eltern einen Teil davon übernehmen, doch spätestens als sie weg waren, war Alexandra alleine. Natürlich hatte sie ihre Brüder und auch ihre Schwester, doch diese konnten sich noch nicht verwandeln und somit auch nicht mit ihr durch den Wald rennen oder sich mit ihr raufen. Das konnte ich mir gar nicht vorstellen. Ich hatte immer Freunde in meinem Alter, die selbst den grössten Mist mitmachten.

Weshalb verwehrten ihre Eltern ihr das Gefühl eines Rudels? Wovor wollten sie ihre Kinder bloss beschützen, dass sie ein solches Opfer zu zahlen bereit waren?

„Bitte hört auf mich so mitleidig anzusehen", bat das Mädchen vor uns. „Ich habe auch ohne Rudel ein schönes Leben. Ich habe meine Geschwister, Freunde, die zwar Menschen sind, was mir aber egal ist, ich habe einen Job und studiere etwas, was mir Freude macht. Ich brauche kein Mitleid."
Auch wenn ich wusste, dass sie es ernst meinte, bemerkte ich trotzdem, dass sie sich tief in sich drinnen nach einem Rudel sehnte. Das lag nun mal in unserer Natur...

My wolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt