35. Nathan

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Endlich. Endlich eine Pause. Seit geschlagenen vier Stunden sassen wir nun in diesem stickigen Besprechungszimmer und wir hatten noch absolut nichts erreicht. Es gab eigentlich nur ein paar triviale Dinge zu besprechen. Einige Verträge erneuern, Alpha Maverick wollte mit Alpha Severin über einen Teil ihrer gemeinsamen Grenze verhandeln und noch einige Strategien, wie man mit gewissen Problemen umgehen sollte, mussten wir besprechen. Ausserdem sollte ich über die Ausbreitung meines Rudels berichten und einige Dinge im Zusammenhang damit erklären. Eigentlich alles Kleinigkeiten, die schnell durchgearbeitet werden könnten.

Aber leider war es eine Versammlung von Alphas. Und mittlerweile war ich davon überzeugt, dass eine Voraussetzung für diesen Posten Sturheit war. Alle hatten ihre Meinung und es war fast nicht möglich, sich zu einigen, wenn keiner für Kompromisse bereit war. Das machte das Ganze einfach nur mühsam und dieses Mal war es noch schlimmer als sonst schon.

Severin und Maverick hatten sich mittlerweile endlich einigen können. Auch ich hatte meinen Bericht abgeben und es wurden nur wenige Nachfragen gestellt, bevor alles abgesegnet und abgeschlossen wurde. Doch bei den Verträgen sind wir schliesslich hängengeblieben. Eigentlich ging es nur um deren Erneuerung, doch Ciaran war der Meinung sich querstellen zu müssen. Er weigerte sich, zu unterschreiben und wollte erst neu darüber verhandeln. Er versuchte alles, um Vorteile für sich herauszuschlagen, aber wir anderen durchschauten dies natürlich und keiner wollte Ciaran noch mehr Macht geben. Davon hatte er schon mehr als genug.

Durch die geschickte Rudelführer von John Silver, Alex' Vater, vergrösserte sich das Silver Moon Rudel stark und gewann mehr und mehr an Einfluss. Niemanden störte dies, da John ein sympathischer, freundlicher Mann gewesen war, auf den sich alle hatten verlassen können. Alle waren gerne mit ihm verbündet gewesen und hatten ihn gerne unterstützt. Bei Alpha Ciaran war dies das genaue Gegenteil. Niemand mochte es, mit ihm Geschäfte zu machen. Er war unzuverlässig und nur auf seinen eigenen Profit aus. Daher weigerten sich alle einstimmig, ihm noch mehr Gebiete und Macht zu überlassen. Aber da auch er absolut stur blieb, drehten wir uns nur im Kreis.

Wir sassen alle gemeinsam in diesem Besprechungszimmer - die Alphas, Betas und die mitgereisten Begleiter. Es sprachen und diskutierten hauptsächlich die Alphas, doch auch alle anderen durften sich einbringen und Fragen oder Einwürfe einbringen. Oft versuchten die Lunas etwas zu schlichten und die Alphas, also ihre Gefährten, zu beruhigen.

Alex neben mir war jedoch absolut still. Sie hatte die ganze Zeit über nicht ein Wort gesagt. Sie sass auf ihrem Stuhl und bewegte sich kaum. Dank ihrer Sonnenbrille und dem Hut konnte ich kaum etwas von ihrer Mimik erkennen, weshalb es mir schwer fiel einzuschätzen, wie es ihr ging. Ich bekam nur mit, wie sie Alpha Ciaran immer wieder Blicke zuwarf und sich jedes Mal weiter versteifte, wenn er aggressiv und arrogant antwortete.

Nachdem eine Pause von einer halben Stunde verkündet wurde, stand Alex schnell auf und ging zügig aus dem Raum. Ich zögerte nicht lange und eilte ihr hinterher. Sie durchquerte das grosse, schön eingerichtete Haus und begab sich nach draussen, wo sie auf die Bäume zuhielt. Gerade als sie den Wald betrat, holte ich sie ein und hielt sie sanft am Arm fest. Blitzschnell drehte sie sich mir zu und riss ihren Arm los.

"Ganz ruhig", versuchte ich sanft auf sie einzureden, "Ich bin es nur. Ist alles in Ordnung?" Wieder hinderte mich die schwarze Brille daran ihren Gesichtsausdruck zu sehen, weshalb ich einzig ein schwaches Nicken als Antwort erhielt. Entschlossen nahm ich ihre Hand und zog sie noch etwas weiter in den Wald, so dass man uns vom Haus aus nicht mehr sehen konnte. Dann nahm ich ihr vorsichtig die Brille ab und blickte in ihre wunderschönen, grünen Augen, in denen ich so viele Gefühle sah, darunter deutlich Wut, aber auch Trauer und Verwirrung.

"Was ist los, Alex?", fragte ich sie noch einmal vorsichtig. Da sie weiterhin nichts sagte, sondern nur meinem Blick auswich, erklärte ich ihr: "Ich merke doch, dass etwas nicht stimmt. Du bist schon seit einiger Zeit ständig in Gedanken versunken und wirkst dann traurig und unsicher. Und jetzt bist du förmlich aus dem Haus gesprintet. Du warst während der Besprechung extrem angespannt. Bitte sag mir, was los ist. Ich kann versuchen dir zu helfen, wenn du mit mir sprichst. Bitte!"

Unsicher schaute sie zu mir auf und schien zu überlegen. Doch nach einer Weile nickte sie erneut und liess sich dann auf den Boden sinken. Sie deutete mir, mich neben sie zu setzen, bevor sie anfing: "Weisst du, seit ich von Alpha Ciaran und dem Silver Moon Rudel gehört habe, versuchte ich mir vorzustellen, wer dieser Alpha ist. Ich habe mich gefragt, ob er wirklich so schlimm ist, wie du ihn beschrieben hast. Ob er das Rudel gut anführt und ob es den Rudelmitgliedern unter ihm gut geht. Ich konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken. Ich mache mir Sorgen um das Silver Moon Rudel, obwohl ich es nicht kenne. Und ständig fragte ich mich, wie ich mich Ciaran gegenüber verhalten sollte. Wenn er nett ist, sollte ich ihm dann sagen, wer ich bin? Wessen Tochter ich bin? Und was wenn er doch so ein Mann ist, wie ihr ihn beschreibt? Was soll ich dann tun? Solche Fragen gingen mir durch den Kopf. Doch ich fand keine Antworten. Ich liess es also einfach mal auf mich zukommen."

Sie unterbrach sich selbst und versank wieder in Gedanken. Ich wollte ihr Zeit lassen und blieb still. Das Einzige, was ich tat, war ihre Hand wieder in meine zu nehmen und aufmunternd zu drücken. Nach einem Moment der Stille, in der nur die üblichen Geräusche des Waldes zu hören waren, fuhr Alex schliesslich fort: "Ich hatte wirklich die Hoffnung, dass er anders ist. Nicht so wie du ihn beschreibst. Aber ich habe schnell gemerkt, dass diese Hoffnung vergebens war. Schon seine Erscheinung schreit einem die Aggressivität entgegen und er machte schnell klar, dass er eine absolut unsympathische Person ist. Und mit jedem Wort, das er sagte, wurde es nur noch deutlicher und deutlicher. Ich musste mich dort drinnen wirklich zusammen reissen, um ihn nicht anzuschreien oder ihm an die Gurgeln zu springen. Ich weiss nicht wieso, ich habe das noch nie erlebt, aber ich hatte das Verlangen, ihn anzuspringen und ihm das Genick zu brechen. Ich war so kurz davor."

My wolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt