Kapitel 34

109 12 0
                                    

P.o.V. Kōtarō

Die Welt verschwamm vor Kōtarōs Augen. Die Geräusche wurden zu einem durchdringenden Rauschen. Er bekam kaum mit, wie er sich verwandelte und zu der Schlucht stürzte. Wie aus weiter Ferne hörte er sich Keijis Namen brüllen. Der mitreißende Strom aus abgestandenem Wasser verbarg den Meermann. Kōtarō setzte einen Fuß in die Schlucht. Plötzlich waren da zwei paar starke Hände, die ihn am Weitergehen hinderten. "Lasst mich, ich muss... LASST MICH LOS!" Doch der Griff um seine Arme lockerte sich nicht und jetzt zogen sie ihn auch vom Abgrund weg. "Helft ihm. Bitte, zieht... zieht ihn raus." Ein Paar der Hände löste sich, von der anderen Seite legten sich muskulöse Arme um ihn. Er konnte Menschen rufen hören, sah Schemen, die sich vor ihm auf und ab bewegten. Alles wie durch einen Schleier. Seine Schuld. Es war alles seine Schuld. Kōtarō fielen Millionen von Situationen ein, mit denen er diese vermieden hätte. Der alten Schachtel eine zu Klatschen, hätte ihm viel Zeit gegeben. Auf einmal begann jemand aufgeregt zu rufen, Kōtarō versuchte aufzuspringen, doch die Arme hielten ihn in der Umklammerung. "Lass mich los, ich... Ich will... Ich muss zu Keiji..." Doch der Griff wurde nur stärker. "Bleib ruhig, Kōtarō. Ihm geht's gut, alles ist gut. Du wärst ihnen nur im Weg." Kōtarō konnte  die Stimme nicht zuordnen. "Aber... Ich will ihn... sehen." Seine Stimme klang schwach, selbst in seinen eigenen Ohren. "Sie ziehen ihn doch schon hoch. Lass ihnen Raum zu Arbeiten." War das sein Vater? Ein lauter Ruf riss die Aufmerksamkeit der Eule wieder zum Geschehen. Er konnte kaum etwas erkennen, sie schienen aber einen großen Vorschritt gemacht zu haben... Oder etwas Schlimmes war passiert. Erneut versuchte Kōtarō sich zu befreien,  doch sein Vater drückte ihn auf den Boden. "Hör auf. Wenn du weiter zappelst, knock ich dich aus." Kōtarō saß still. Er versuchte zu verstehen, was die Gestalten riefen. "...Wiederbeleben..." und "...Herzdruck..." schnappte er auf. Keiji... Er war- Wiederbeleben. Wieder leben. Nicht am Leben. Tot. Das konnte doch nicht... Niemals. Unmöglich. Keiji war nicht tot. Es war zu früh. Er war gerade einmal zwanzig. Sie hatten bisher doch kaum Zeit miteinander gehabt. Er hatte noch gar nicht ernsthaft angefangen zu leben. Kōtarō weinte nicht. Er konnte nicht weinen. Der Schock saß zu tief, es war so... Unnatürlich. Die Umgebung wurde zu einem undeutlichen, dunklen Wirbel aus Gestalten und Tönen. Das Zählen für die Herzdruckmassage vermischte sich mit Regen und dem Geruch des nassen Holzes. Dann wurde alles dunkel.

Kōtarō wusste nicht mehr, wie er hier her gekommen war. Die Decke rutschte von seinen Schultern, als er sich aufsetzte. Er hatte auf dem Boden seiner Hütte gelegen. "Oh, du bist wach." Er blinzelte auf. Im ganzen Raum standen Leute, viel zu viele für so wenig Platz. Die meisten nur in Bademantel; nach dem ganzen hin- und herverwandeln. Außerdem waren überall kleine Lampen und Kerzen entzündet worden. "Keiji...?", krächzte er. Akinori machte eine Kopfbewegung zu Kōtarōs Bett. Zögerlich stand er auf und lief hinüber. Hatten sie es noch geschafft? War Keiji am Leben? Er ließ sich neben dem Bett auf den Boden sinken. Der Meermann lag unter der Decke, seine Haare klebten nass in seinem bleichen Gesicht. Er sah nicht sonderlich lebendig aus. Vorsichtig streckte Kōtarō eine Hand aus und legte sie an den Hals seines Freundes, um dessen Puls zu spüren. Einen unendlichen Moment lagen seine Finger auf der kalten Haut. Badumm. Oh Gott. Keiji lebte. Er lebte! Badumm. "Keine Sorge. Wir haben es geschafft." Badumm. Geschafft. Keiji war sicher. Und lebendig. Die Erleichterung brach über Kōtarō herein wie eine Flut. Eine Träne bahnte sich den Weg über seine Wange, dann brachen seine Dämme. Und Kōtarō ließ die Sturzbäche laufen, über seine Wangen auf das Bett. Keiji lebte!

P.o.V. Keiji

Alles tat weh. Seine Knie, Hände, Ellenbogen. Alles brannte. Das schlimmste aber war sein Oberarm. Ein paar Sekunden blieb Keiji die Luft weg, so schmerzhaft war die Reibung des Stoffes an der nackten Haut. Was zur Hölle war passiert? Da war der Blitz, das Feuer, das Wasser... Und dann war alles dunkel. Er schlug die Augen auf. Um das Bett standen lauter Personen in weißen Bademänteln mit Kerzen in den Händen. Unwillkürlich musste er lachen, auch wenn das sehr heiser klang. "Ich bin also wiederbelebt worden. Welches dunkle Ritual habt ihr benutzt?" Er setzte sich auf. "Ist da ein Drudenfuß unter dem Bett gemalt?" Er verstummte, als eine große Gestalt sich auf ihn warf. Eine heiße Flüssigkeit lief in seinen Kragen. "Kōtarō-" Die starken Arme seines Freundes drückten ihn fester an sich. "Ich dachte, du... Also... Du warst wirklich..." Keiji strich ihm über den Rücken. Die Eule zitterte. "Hey. Ist schon gut. Ich bin doch hier. Mir geht's gut, alles gut." Ein Räuspern ließ sie aufblicken. "Wir gehen dann besser. Sagt Bescheid, wenn ihr noch was braucht." Und Hoshi schob die versammelte Mannschaft zur Tür hinaus und mit ihnen die Kerzen, sodass ihnen kaum noch Licht blieb. Dann waren sie alleine. "Keiji, kannst du mir was versprechen?", nuschelte Kōtarō in seine Schulter. "Ja, alles. Alles, Ko."
"Stirb nicht. Auch nicht für ein paar Sekunden. Nie."
"Kōtarō, jeder stirbt irgendwann."
"Dann stirb nicht vor mir. Bitte." Die Hände seines Freundes gruben sich in das Oberteil des Meermannes. "Hey, Ko. Ich bin doch je-"
"Versprich es mir!"
"Versprochen. Ich werde nicht vor dir sterben." Kōtarō nickte an seiner Schulter. "Sie haben eine Wiederbelebung machen müssen. Mir wäre fast das Herz stehen geblieben. Weißt du, wie sich das anfühlt? Ich dachte, du wärst tot. Gott Keiji, ich dachte du wärst tot!" Keiji wusste nicht, was er sagen sollte. Kōtarō ließ ihn los, wenn auch sehr zögerlich. Auch wenn Keiji ihn schonmal weinen gesehen hatte, brach es ihm das Herz. Ein noch leicht verheultes Lachen entkam seinen Lippen. "Das war so typisch du. Als erstes zu fragen, welches Ritual sie benutzt haben." Keiji lächelte zurück und wischte die Tränen von Kōtarōs Wangen. "Sie standen da in weißen Mänteln mit Kerzen, Ko! Was hätte ich denn denken sollen?" Die Eule zuckte mit den Schultern. "Dass du tot bist?" Jetzt war es an Keiji zu Lachen. "Wieso sollte ich das denken? Du warst doch schon da, als der Blitz eingeschlagen ist. Ich wusste also, dass ich gerettet bin." Die gelben Augen wurden groß in der Dunkelheit. "Du..." Dann füllten sie sich erneut mit Tränen. "...bist mehr Idiot als ich." Keiji lachte. "Das ist unmöglich."
"Das war fies."
"Sag, wer hat mich wiederbelebt?"
"Ich weiß es nicht. Mein Vater hat mich festgehalten, damit ich nicht wie ein Irrer in den Fluss springe."
"Wie ein Idiot."
"Was?"
"Wie ein Idiot, nicht wie ein Irrer. Das wäre beleidigend."
"Für mich oder die Irren?"
"Such's dir aus, Sweety." Kōtarō erstarrte. "Sweety?" Keiji grinste. "Ja?"
"Nein, ich meine, wieso?"
"Du bist doch ein Sweety, oder nicht?"
"Nun..."
"Komm, sag, du bist Daddy Keijis Sweety."
"Hast du dir den Kopf gestoßen?" Besorgt beugte Kōtarō sich vor, um Keijis Kopf zu untersuchen. "Hach, so macht das keinen Spaß." Kōtarō grinste. "Ich bin doch der ältere von uns, warum bist du dann Daddy?"
"Sag das nochmal."
"Warum bist du Daddy?" Keiji schloss kurz die Augen und seufzte tief. "Weil ich das super heiß finde, wenn du das sagst." Kōtarō wurde rot. "Das ist gemein!" Er legte die Hände übers Gesicht. "Nimm die Hände weg, Sweety, du weißt, Daddy mag es zu sehen, wie du rot wirst."
"Ich fange nicht an, dich Daddy zu nennen!" Die Gesichtsfarbe der Eule verdunkelte sich. "Wieso nicht, Sweety?"
"Weil... Ich immer noch älter bin."
"Aber ich bin reifer."
"Ach ja?"
Kurz war Keiji verunsichert. "Ich denke schon." Kōtarō nahm die Hände von seinem Gesicht. "Ich liebe dich, Daddy." Keiji starrte ihn an. "Ok, vergiss es. Das ist zuviel für mein Herz, sonst muss ich noch einmal wiederbelebt werden."
"Ich hätte kein Problem damit, dir eine Mund-zu-Mund-Beatmung zu geben." Noch während er diese Worte sagte, schien ihm ein unerfreulicher Gedanke zu kommen. "Ko?" Die Eule blinzelte ein paar Mal. "Ja?"
"Alles gut?"
"Ja, sicher." Er lächelte. "Lass uns schlafen."

Complete my World (BokuAka)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt