~• Kapitel 12.1 •~

898 53 8
                                    

Ein Knall lässt Emma hochfahren, die tatsächlich in ihrer Sitzposition Schlaf gefunden hat.
Sie reißt die Augen auf, dreht den Kopf und sieht wie zwei Männer ihre Zelle betreten.

"Was wollt ihr?", ruft sie und rutscht näher an die Wand.
Doch die Männer reagieren nicht, stattdessen packen sie unbarmherzig ihre Arme und ziehen sie gewaltsam auf die Füße.
Es geht so schnell, dass Emma nicht mal Zeit zum protestieren bleibt. Schon sind sie aus der Zelle mit ihr raus und schleppen sie nun die Treppe empor.

Emma windet sich, versucht sich schwer zu machen, in dem sie ihre Beine immer mal wieder anzieht, doch alle Gehenwehr bleibt erfolglos. Sie wird durch den angrenzenden Flur gezogen, durch die Tür, hinaus auf den Dorfplatz.
Von der plötzlichen Helligkeit geblendet kneift Emma die Augen zu und gewöhnt sich blinzelnd an die neuen Lichtverhältnisse.

Auf dem Dorfplatz stehen die Bewohner und vor ihnen der Älteste, der sie mit einem süffisanten Grinsen betrachtet.
Die Arme ausbreitend, wie er es einst auch bei der Wahl tat, tritt er beiseite und überlässt Emma erneut den Augen der Bewohner.

"Seht!", ruft er aus voller Kehle und dreht sich zu Emma hin, "Seht wer zu uns zurückkehrte!"
Ein Raunen geht durch die Menschenmenge. Emma sieht wie einige Frauen hinter vorgehaltener Hand ihren Männern etwas zuflüstern, den Blick nicht von Emma abwendend, die noch immer von den beiden Männern in die Höhe gehalten wird.

"Unsere Emma, unsere Erwählte entschied sich heim zu kehren und sich der Prüfung doch noch zu stellen. Ihr Pflichtgefühl ist unser Retter und ihr eigener!"
Die Menschen reagieren mit Stille und Emma muss sich beherrschen, um den Worten des Ältesten nicht zu widersprechen.
"Doch bevor wir sie der Prüfung überlassen, muss Gerechtigkeit geschaffen werden!"
Das bringt die Menge dazu lauter zu werden und die Stille von ihren Mündern zu verbannen. Eine Frau schreit plötzlich laut auf, zeigt mit dem Finger auf Emma, die erschrocken zu ihr sieht.
Wut färbt das Gesicht tiefrot, während sie mit einem Korb Wäsche unter dem Arm in der Menge steht und mit dem anderen wild fuchtelt.

In ihr keimt eine böse Vorahnung.

Erst als der Älteste wieder beginnt zu sprechen, wird die Frau still, nicht ohne Emma weiterhin mit einem wütenden Blick zu betrachten.
"So viel Leid brachte ihre Feigheit unserem Dorf, sodass Männer, gute Männer, Väter, Söhne und Freunde, heute nicht mehr unter uns weilen! Emma", sagt er ihren Namen sanft, während seine Stimme zuvor einem Donnergrollen glich, "Du hast Leben genommen, gute Leben. Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?"
Emma blickt zu den Menschen, von denen sie mit einigen so viel Zeit verbrachte, dass es sie nun wirklich erstaunt, dass gerade in deren Augen ein gieriges Glitzern steht.
Sie sieht zum Dorfältesten und sagt: "Ich war es n..." Eine Hand schiebt sich vor ihren Mund und während sie fassungslos den Mann zu ihrer Linken betrachtet, klatscht der Älteste in die Hände und nickt zufrieden.
"Da habt ihr es!", ruft er.

Die Menge beginnt zu toben, während Emma nur den Kopf schütteln kann, die Hand noch immer auf ihrem Mund.
Tränen sammeln sich in ihren Augen, als die Menschen, die die seit Geburt an kennt, zu schreien beginnen.

"Knüpft sie auf!"
"Sie brachte Schande über uns!"
"Sie ist wie die Welt, vor der wir uns verstecken!"

Tränen rinnen über Emmas Gesicht, während sie den Rufen lauscht.
"Ich war es nicht!", schreit sie sie in der Stille ihrer Gedanken an, "Ich habe niemandes Leben genommen!"

"Sie nahm mir meinen Mann!"
"Tötet sie!"

"Aber, aber", beschwichtigt der Älteste die Menge, "Wollen wir ihr die Chance der Wiedergutmachung geben. Sie kam zurück, um unser Dorf reich zu beschenken. Das sollten wir nicht bestrafen. Doch eine Strafe hat sie verdient."

Er dreht sich zu seinen Männern um und nickt ihnen zu.
Sofort setzen diese sich im Bewegung.
Als sie Emma durch die Menge zerren, spucken die Menschen ihr ins Gesicht und schreien sie aus voller Kehle an.
Ihr wird schwindelig von all den Bedrängungen und all der Abscheu, die sie trifft. Als sie sieht, worauf die Männer zu laufen, rammt sie die Fersen im den Boden und schüttelt wild den Kopf. Doch die Männer ziehen sie weiter, ungeachtet ihrer Versuche sie aufzuhalten.

Der Älteste durchschreitet die Menge, die sich ihm zu Ehren zweitteilt.
"Emma, deine Strafe ist ein Geschenk für deine Tat. Schätze es", fordert er sie auf, während einer der Männer sie versucht zu knebeln, doch Emma presst ihre Lippen fest aufeinander, den Kopf hin und her werfend. Der Zweite zieht ihre Arme hinauf und befestigt diese am oberen Ende des Pfahls.
"Du wirst dich deiner Verantwortung stellen, in dem du dich den Menschen stellst, denen du Leid antatst."

Der zweite Mann greift nun, nachdem er ihre Hände fesselte, nach Emmas Kinn und drückt in ihre Wangen. Die Schmerzen treiben ihr die Tränen in die Augen und lassen sie ungehindert ihre Wangen hinunter rinnen. Dennoch Emma beißt die Zähne zusammen, während ihren geschlossenen Lippen ein Fiepen entkommt.
Der Mann drückt doller zu und mit einem Mal ist ihr Mund offen. Sofort drückt der andere ihr ein Knäuel in den Mund.
Emma versucht es auszuspucken, doch eine Hand hindert sie.

Sie würgt, brennende Säure steigt ihre Kehle empor, sodass ihr ein gedämpftes Husten entkommt und ihr Körper sich zu schütteln beginnt.

Die Hand löst sich von ihrem Mund, doch ihren Platz ersetzt ein Tuch, das um ihren Kopf gewickelt wird.
Nach getaner Arbeit treten die Männer von ihr weg und stellen sich zu der Menge.
Der Älteste tritt vor, beugt sich zu ihr hinab und flüstert, vor anderer Ohren verborgen: "Ich frage mich, warum du zurückkamst. Was war so wichtig wieder hier herzukommen, wo dir deine Flucht doch gelang?"

Emma schüttelt sich, versucht noch immer das Brennen in ihrem Hals zu ignorieren.
Sie unterdrückt das Schlucken, das ihr Körper so sehr verlangt, aus Angst, sie könnte das Knäuel herunterschlucken.

Die Älteste richtet sich wieder auf und dreht sich zu der Menge.
"Ihr könnt machen was ihr wollt, aber sorgt dafür, dass sie noch ihre Prüfung antreten kann."
Mit diesen Worten wendet er sich ab und geht langsamen Schrittes auf seine Hütte zu.

Und während Emma am Pfahl auf Zehenspitzen steht, blickt sie einer wütenden Meute entgegen.

Angst erfüllt ihren Geist und das ist die schlimmste Strafe, für etwas das sie nicht tat.

- Fortsetzung folgt -

When the snow falls Where stories live. Discover now