~• Kapitel 1.2 •~

1.6K 93 36
                                    

Voller Nervosität steht Emma zwischen den anderen Mädchen auf einer Tribüne. Unruhig suchen ihre Augen die Menge nach Alex ab.
Da steht ihre Mutter, die ihre langen braunen Haare geflochten hat und sie aus ihren rehbraunen Augen aufmunternd ansieht und ihr Vater, der mit seiner Glatze aus der Menge sticht und dessen grüne Augen sie geerbt hat. Sein grimmiger Blick sagt aus, das seine Jagd nicht gut ausfiel.
Doch von Alex fehlt jede Spur.
"Wo ist er nur?", murmelt Emma leise und erntet damit den strafenden Blick eines Mädchen neben ihr.
Entschuldigend nickt sie ihr zu.

"Ein neues Jahr, eine neue Wahl und eine neue Möglichkeit", ruft der Älteste, als er aus der Menge tritt und weit ausgebreiteten Armen die Treppe zur Tribüne empor steigt.
Die Dorfbewohner klatschen und jubeln, einige werfen Salz in die Luft, um sich so vor dem Bösen zu schützen.

Emma betrachtet die Menge und es fiel ihr noch nie auf wie unwirklich das Ganze aussieht. Nun, wo sie selbst zur Wahl steht, fühlt sie sich wie ein Tier, das vorgeführt wird und fragt sich gleichzeitig, ob die anderen Mädchen sich auch so fühlen.

Der Älteste hat mittlerweile die Mitte der Tribüne erreicht. Mit einem wehenden lilanen Gewand wendet er sich den Bewohnern zu, sodass Emma nur seinen Rücken und seinen grauen Pferdeschwanz sehen kann.

"Endlich sind wir wieder versammelt. Ich freue mich euch hier wieder begrüßen zu dürfen. Dieses Mal wird unser Mädchen gewiss die Prüfung bestehen und unser kleines Dorf mit Reichtum und Ruhm überschütten."
Die Bewohner klatschen noch lauter, einige rufen, doch was sie rufen kann Emma nicht verstehen.
"Nun will ich euch, meine Freunde, nicht auf die Folter spannen. Heute Nacht zeigte mir der Allmächtige selbst das Mädchen, das sich als würdig erwiesen hat."
Er dreht sich um, lässt seine schmalen Augen über die Mädchen wandern bis sie an einem hängen bleiben. Emma wird heiß und kalt, als die Mädchen um sie herum einen Schritt zur Seite treten.

"Er kann nicht mich meinen", denkt sich Emma und bleibt wie festgewurzelt an Ort und Stelle stehen.
"Emma", sagt der Älteste ihren Namen und streckt ihr seine Hand entgegen.
Zögerlich ergreift sie sie und lässt sich von ihm nach vorne ziehen.
Die Bewohner sind ganz still, bis zu dem Moment, als der Älteste von Emma wegtritt und sie den Augen des Dorfes überlässt.
Ein euphorisches Toben begleitet mit Pfiffen ertönt.

Emma steht ganz ruhig da. Nicht wissend, wie sie mit der ganzen Aufmerksamkeit umgehen soll. Sie traut sich nicht mal zu lächeln. Ihr ganzer Körper gleicht einer Statur, während ihr Herz laut in ihrer Brust schlägt.

"Nimmst du die Wahl an?", fragt der Älteste von der Seite.
"Ja-ha", stottert Emma und sie ist sich sicher, dass keiner, der nicht in ihrer Nähe steht, ihre Worte gehört hat.
"Gut, dann bitte ich dich bei Sonnenuntergang zu Anna zu gehen. Sie wird dich herrichten. Bis dahin hast du Zeit dich bei deiner Familie zu verabschieden."
Emma nickt und geht mit wackeligen Schritten die Stufen hinab.

Sofort wird sie von den Bewohnern umringt, die alle auf sie gleichzeitig einreden und ihre Schultern klopfen; jeder beglückwünscht sie.
"Nun lasst ab! Das Mädchen hat kaum Raum zu atmen!", donnert ihr Vater, der sich durch die Menge kämpft.
"Lasst uns die kostbare Zeit!", ruft er, als er bei Emma ankommt und nach ihrem Handgelenk greift. Ohne auf die Proteste zu achten, zieht er sie aus der Traube, weiter hinter sich her, bis sie an ihrer Hütte ankommen.
Dort wartet bereits Emmas Mutter mit Tränen in den Augen.
"Weinst du?", fragt Emma schockiert.
Sie hat ihre Mutter noch nie weinen sehen, nicht mal als Onkel Magnus gestorben ist.
"Ja Emma, ich weine, aber nicht vor Trauer, sondern vor Glück", erklärt sie und schluchzt, "Ich bin so so stolz auf dich. Meine Tochter ist die Erwählte."
Sie schließt Emma in die Arme und drückt sie fest an sich.
"Luft", japst Emma und windet sich aus der Umarmung.
"Entschuldige, aber das ist so großartig. Du wirst die sein, die das Dorf reich beschenkt. Wir werden nie wieder arbeiten müssen. Dein Vater wird nicht mehr jagen müssen und ich werde nicht mehr mit meinem kaputten Kreuz auf dem Acker stehen müssen."
Freudig sieht sie sie an, dieses Mal ohne Tränen und Emma fühlt sich immer mehr unter Druck gesetzt.
"Nun lad ihr doch nicht so eine Bürde auf", erklingt die tiefe Stimme ihres Vaters, der bis eben stumm hinter den beiden Frauen stand und nun nach vorne tritt und Emma einen Arm um die Schultern legt.
"Ach", sagt ihre Mutter und macht eine wegwerfende Handbewegung, "Das ist doch keine Bürde. Mein Kreuz ist eine Bürde."
"Wenn du so weiter machst, traut Emma sich auch nicht mehr heim zu kommen, sollte sie die Prüfung nicht bestehen", wiederspricht ihr Vater.
"Was redest du denn da? Die anderen Mädchen trauten sich doch nur nicht unter die Augen ihrer Familie zu treten. Sie waren dumm und feige, allesamt. Meine Emma ist das nicht."

Emma bekommt allmählich das Bedürfnis würgen zu wollen. Noch nie sprach ihre Mutter in solch hohen Tönen von ihr. Sie dachte, sie wolle genau das, doch je mehr sie ihre Eltern streiten hört, desto bitterer wird der Geschmack in ihrem Mund.

"Ich möchte mich noch von Freunden verabschieden. Ich bin gleich wieder bei euch", sagt Emma und schlüpft an ihrer Mutter vorbei.
Bevor diese sie hindern kann, läuft sie bereits los.
Ihr Herz zeigt ihr den Weg zu dem Menschen, den sie heute noch nicht sah.
Alex, ihn will sie jetzt sehen. Ihn muss sie jetzt sehen.

~• Fortsetzung folgt •~

When the snow falls Where stories live. Discover now