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holocene — 23:54sechs minuten vor mitternacht

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holocene — 23:54
sechs minuten vor mitternacht

Kalte Fliesen bedecken die Wände. Die Monotonie, die sie verströmen, nimmt den ganzen Raum ein. Mit der Zeit ist sie Yong-Sun so vertraut geworden.
Ihre müden Augen wandern über feine Risse, die sich durch die weißen Kacheln ziehen. Ihr Blick wirkt abwesend und ihr Kopf fühlt sich leer an. Das einzige, was sie noch wahrnimmt, ist die Präsenz des Jungen neben ihr. Ihre Hände berühren sich, seine so viel wärmer als ihre.
Yong-Sun weiß, dass es ihre letzten Worte sein werden, als sie fragt: »Versprichst du es mir, Yoongi?« Ihre Stimme ist kaum noch mehr als ein Flüstern, doch in der Stille versteht der Junge jedes Wort.

Ihre Blicke treffen sich, aber sie kann das Zögern in seinen Augen nicht mehr erkennen und er lässt es sich auch nicht anmerken. Seine Stimme klingt fest, als er antwortet. »In Ordnung, Sun. Ich verspreche es.«
Nur für einen Augenblick lang sieht er dann zur Uhr. Sie hängt ebenso farblos über dem Bett wie sich das ganze Zimmer anfühlt. Er beobachtet das ewige Vergehen der Zeit. Die blasse Hand seiner Schwester rutscht kraftlos aus seiner. Die Zeiger treffen sich auf der Zwölf und weiß er, dass Yong-Sun gestorben ist. Für diese Sekunde lang scheint die ganze Welt stehen zu bleiben.

Yoongi fühlt nichts. Er ist bloß müde. Aber er weiß, dass es nicht richtig wäre, sich neben seine tote Schwester zu legen. Also erhebt er sich von dem lädierten Plastikstuhl, auf dem er schon zu lange gesessen hat. Seine Beine fühlen sich ganz taub an. Die Luft im Raum ist abgestanden. Er verlässt ihn. Vergessen wird er ihn wohl nie mehr.

Draußen ist es noch immer warm, aber nicht mehr so unerträglich heiß wie am Mittag. Auf den Straßen sieht er die Menschen feiern, als gäbe es einen besonderen Anlass dafür. Wahrscheinlich suchen sie einfach nur Momente des Glücks, Ausflucht aus dem Leben. Yoongi kann das verstehen.

Er drückt eine Kurzwahltaste auf seinem Mobiltelefon. Es ist ein kleines, altes Ding. Aber es tut seinen Dienst.
»¿Es la hora?«, kommt eine verzerrte Männerstimme aus dem billigen Lautsprecher. Ist es soweit?
»Sí«, bestätigt Yoongi.
»Nos pasaremos.« Wir kommen vorbei. Sein Gesprächspartner legt auf.
Yoongi lässt das Handy von seinem Ohr sinken. Er hat ja gewusst, dass Suns Leben bald enden wird. Jetzt ist er also alleine. So weit weg von allem, was ihm vertraut ist. Er seufzt.

Es dauert nicht lange, bis Yong-Suns Vermieter Mateo und dessen Halbbruder Namjoon bei Yoongi ankommen. Die beiden sind nicht wirklich mit der jungen Frau befreundet gewesen, die für ungefähr drei Jahre in dem kleinen Appartement gelebt hatte, aber sie haben sich den Geschwistern gegenüber immer freundlich verhalten und zeigen sich auch jetzt hilfsbereit. Ihre gemeinsame Mutter leitet ein Bestattungsinstitut, weshalb sie sich bereit erklärt haben, Yoongi bei der bevorstehenden Beerdigung seiner Schwester zu helfen. Es ist wohl allen klar gewesen, wie bald sie sterben würde.

Sie treffen ihn auf dem Laubengang vor der Wohnung. Mateo legt ihm eine Hand auf die Schulter, nickt ihm ernst zu. Dann schließt er die Tür mit einem der vielen Schlüssel an seinem Bund auf.
Wortlos betreten die Männer die Wohnung. Sie besteht aus kaum mehr als dem Raum, in dem Yong-Sun liegt. Die beiden Brüder gehen fachmännisch vor. Man sieht ihnen an, dass sie mit den Handgriffen vertraut sind. Es ist eine reine Routinesache, viel gibt es nicht zu tun.

Yoongi beobachtet sie nur still. Es ist komisch zu sehen, wie der Körper seiner Schwester leblos in Mateos Armen liegt. Wie leer das Bett ohne sie ist. Wie lange es her ist, dass es das letzte mal so aussah. In den letzten Wochen war Yong-Sun nicht mehr aus eigener Kraft herausgekommen. Yoongi war so oft beschäftigt gewesen, dass sie tagelang darin gelegen hatte. Worüber sie wohl die ganze Zeit über nachgedacht hatte? Oder hatte sie nur noch auf den Tod gewartet? Auf einmal kommt Yoongi alles nebensächlich vor, womit er sich in der letzten Zeit beschäftigt hat.

Mateo fährt mit Yong-Suns Leiche davon. Er bringt sie in seinem schwarzen Wagen ins Geschäft seiner Mutter. Sie wird gewaschen, neu angekleidet und in eine Kiste gelegt, hatte er Yoongi erklärt.
Ihr Wunsch ist es bestimmt gewesen, zu Hause in Korea beerdigt zu werden, aber das hat sie nie geäußert. Ihr muss klar gewesen sein, dass das die Kosten übersteigen würde. Die Eltern haben schließlich noch andere Kinder; lebendige.
Trotzdem hätte es auch Yoongi lieber gehabt. Wenn sie hier unter der Erde liegt, wird er diesen Platz nie wieder ganz verlassen können. Er hat schließlich keine andere große Schwester; keine lebendige.

Namjoon tritt aus der Wohnung und zieht die Tür hinter sich zu. In seiner dunklen Kleidung ist er in der Nacht kaum zu sehen. Nur sein breiter Ledergürtel schimmert im Licht weit entfernter Straßenlaternen. Wortlos reicht er Yoongi eine Zigarette und zündet sie für ihn an. Normalerweise raucht dieser nicht, aber heute akzeptiert er sie. Es kann doch nicht mehr alles so bleiben, wie es war.

»Bleibst du die Nacht hier?«, fragt Namjoon schließlich. Sein Koreanisch ist nicht schlecht, aber man merkt, dass seine Muttersprache eine andere ist.
»Weiß nicht«, gibt Yoongi zurück. »Morgen komme ich jedenfalls zum Putzen.«
Namjoon nickt. »Fahr nach Hause. Schlaf dich aus.«
Yoongi nickt auch. Klingt, als sei es das Richtige. Namjoon muss es schließlich wissen.
Und dennoch verharrt er in seiner Position; die Hände auf der Geländer gestützt, den Blick auf die Stadt im Dunkeln gerichtet. Würde er nicht genau hinsehen, könnte das hier auch seine Heimat sein. Aber tief in sich fühlt er trotzdem, wie weit er davon entfernt ist.

»Du vermisst Korea«, stellt Namjoon fest.
»Ja«, bestätigt Yoongi ruhig. »Warst du schon mal dort?«
Er wendet sich vom Ausblick ab und sieht den jungen Mann neben sich an. Namjoons Vater ist Koreaner, genau wie seiner, aber seine Mutter stammt von hier. Er hat dunklere Haut als Yoongi, aber hellere als Mateo. Kann schlechter Koreanisch als er, aber spricht auch weniger authentisch Spanisch als sein Bruder. Wo er sich wohl Zuhause fühlt? Für einen Moment lenkt diese Frage Yoongi von seinen eigenen Gefühlen ab.

Namjoon schüttelt den Kopf. »Hab das Land nie verlassen.«
Eine Art Melancholie liegt in seiner tiefen Stimme, als würde er es bedauern, keine Ahnung von den Geheimnissen seines Vaterlands zu haben.
»Vielleicht ja eines Tages.«
»Ja, vielleicht.«
Aber es klingt nicht so, als würde Namjoon daran glauben.

Stille breitet sich zwischen ihnen aus, bis Yoongi beschließt, sich daran zu halten, was Namjoon ihm geraten hatte. Er stößt sich vom Geländer ab und wirft noch einen Blick auf die nichtssagend-graue Eingangstür, hinter der seine Schwester so lange gelebt hatte. Was wird in der Welt von ihr übrig bleiben?

»Gracias, Namjoon.«
»Hasta pronto, Yoongi.« Bis Bald.

Mit langsamen Schritten lässt Yoongi den in die Jahre gekommenen Wohnkomplex hinter sich. Den abgebrannten Rest der Zigarette, die Namjoon ihm gegeben hatte, wirft er in einen der silbernen Müllcontainer auf der Straße. Der würzige Geschmack füllt noch immer seinen Mund, aber in seinen Lungen ist jetzt warme Nachtluft. Er weiß nicht, ob er sich je an diese Temperaturen gewöhnen wird. Hinter sich hört er, wie Namjoon sein Motorrad startet und damit davon fährt. Jetzt kennt er niemanden mehr. Ganz allein unter dem südlichen Sternenhimmel.
Buenas noches, Sun.

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good night, sun ― yoongiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt