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sleep thru ur alarms — 11:56vier minuten vor mitternacht

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sleep thru ur alarms — 11:56
vier minuten vor mitternacht

Farben verschwimmen hinter den Fenstern der Straßenbahn. Sie fährt am Stadtrand so schnell, dass es für Yoongi unmöglich ist, noch klare Umrisse zu erkennen. Er lehnt seinen Kopf an das leicht vibrierende Fensterglas und schließt die Augen. Es ist unerträglich heiß.
Weil es mitten am Tag ist, sind außer ihm nicht viele andere Fahrgäste anwesend. Wahrscheinlich könnte auch er seine Zeit sinnvoller nutzen. Aber in den letzten Stunden, seit dem Tod seiner Schwester, kommt ihm alles sehr unwirklich vor. Was bedeutet Zeit überhaupt noch?

Er fährt zu einer Adresse, ohne zu wissen, was ihn erwartet. Gestern hat Yoongi nicht schlafen können, also hat er Yong-Suns Schreibhefte aus der Sporttasche geholt und angefangen, in den beschriebenen zu lesen. Es hat sich komisch angefühlt. Als würde er in eine Welt eintauchen, die er so lange vergessen hatte. Dabei hat seine Schwester nicht viel geschrieben.

Am Anfang sind die Einträge noch regelmäßig gewesen. Was sie gegessen und was gekauft hatte. Wen sie getroffen und wen unterrichtet hatte. Keine Gefühle und keine wichtigen Gedanken. Die waren wohl für immer verstummt, bei beiden von ihnen.
Aber am Ende, in den letzten Seiten eines der Hefte, lag etwas, dass vielleicht doch Auskunft über Yong-Suns Emotionen gab. Ein Zettel mit einer Adresse. Es war nicht ihre Handschrift, die die Ortsangabe geschrieben hatte, aber allein der Fakt, dass dieses Stück Papier zwischen den Berichten ihres Alltags lag, zeigte wohl dessen Bedeutung.
Und nun ist Yoongi auf dem Weg dorthin. Er weiß nicht warum. Aber irgendetwas muss er wohl tun.

Es ist ein altes Haus, das ihn erwartet. Das Dach scheint sich unter der Last der Jahre zu beugen und die Risse in der Fassade erinnern an Falten. Dennoch ist erkennbar, wie herrschaftlich es einst gewesen sein muss. Nahezu ein Schloss, was ironisch ist, weil Yong-Sun nie eine Prinzessin hatte sein wollen.
Daran erinnert sich Yoongi noch gut. Es mochte ihren Eltern nicht gefallen haben, aber ihre älteste Tochter war immer von den Drachen selbst fasznierter gewesen als von den Männern, die sie töteten. Nie hatte es ihr beim Einschlafen geholfen zu hören, dass ein solcher sie angeblich eines Tages retten und heiraten würde. Lieber hatte sie sich vorgestellt, selbst eine Abenteurerin zu sein. Und Yoongi hatte sie so dafür bewundert.
Wer also lebt hinter diesen Türen? Was verbirgt sich in diesem Haus? Yoongi steht davor und starrt auf das Holz, als könne es ihm verraten, was seine Schwester hier her geführt hat. Dabei versinkt er so in leerer Nachdenklichkeit, dass er es kaum merkt, als sich die Tür vor ihm öffnet.

Eine alte Frau steht vor Yoongi. Man kann nicht viel von ihr erkennen, Schatten liegt auf ihrem Gesicht.
»H-He venido por Yong-Sun«, stammelt Yoongi. Er ist ein wenig überrascht und weiß nicht, ob er deutlich genug gesprochen hat. Was er gesagt hat war: Ich komme wegen Yong-Sun. Das stimmt schließlich, obwohl er vermutet, dass sein Gegenüber nichts damit anfangen kann.

Damit liegt er falsch. Die Frau nickt, tritt beiseite und bedeutet Yoongi, hereinzukommen. »Está arriba.« Er ist oben. Ihre Stimme klingt brüchig, als hätte sie Staub statt Luft in ihren Lungen. Ob Yong-Sun diesen Vergleich wohl auch gezogen hatte? Zumindest mussten sie sich gekannt haben, sonst hätte die Frau wohl nicht so reagiert.

Die Alte zieht sich zurück, nachdem sie mit einer Handbewegung auf die Treppe gezeigt hat. Yoongi betritt diese, ohne zu wissen, was ihn am oberen Ende erwarten wird. Er vertraut seiner Schwester.
Die Stufen knarzen unter seinen Füßen. Sie sind mit Teppichen belegt, deren Stoffe ausgeblichen sind, als hätten sie Jahre der Sonne abbekommen. Dabei ist es dunkel in der Eingangshalle. Die Fenster sind nach Norden gerichtet und teilweise stecken statt Gläsern Holzplatten in den Rahmen.

An den Decken hängen Kronleuchter. Yoongi kann sie von oben betrachten, als er am Ende der Treppe angelangt ist. Sie sind sauber geputzt, aber er erkennt, dass manche der kleinen Teile fehlen oder Sprünge haben, die sich wie feine Spinnenweben durch das Glas ziehen.

Dann betritt er eine Art Dachboden. Hier ist es deutlich wärmer als in der Halle, fast wärmer als draußen. Die Luft, die zwischen den Balken hängt, ist stickig. Dabei gibt es Löcher in der Decke, durch die das Blau des Himmels zu sehen ist. Sie wirken unecht, wie Illusionen, so strahlend zwischen all dem Braun und Grau. Im Gegensatz zum Vorzimmer sind die Staubschichten hier dick. Es wirkt, als wäre er mit dem Schritt durch die Tür um Jahre in die Vergangenheit zurück gereist.

»Siéntate.« Setz dich.
Yoongi folgt der Aufforderung. Einfach so, mitten auf den Boden. Er ist zu faszniert von diesem Raum um sich um die Herkunft der Stimme zu scheren. Hier, an diesem seltsam unwirklichen Ort verstärkt sich sein Gefühl, dass nichts mehr eine Bedeutung hat.

Ein Mann betritt sein Sichtfeld. Er ist wohl ein paar Jahre älter als Yoongi, aber Außenstehende würden sie gewiss immer noch als in einer Altersklasse beschreiben.
»Mi nombre es Taehyung«, stellt er sich vor und lässt sich Yoongi gegenüber nieder. Der glatte Stoff seines langen, dunklen Kleids glänzt selbst in diesem Dämmerlicht. Es breitet sich um ihn auf dem Boden aus, als wäre er eine Blüte.

»Me llamo Yoongi«, erwidert dieser. »Soy el hermano de Yong-Sun.« Diesen Satz hat er schon oft genug gesagt, dass er dabei nicht stockt oder stolpert. Ich bin der Bruder von Yong-Sun. Das ist es, womit er sich in dieser Welt vorstellt; es ist alles, was zählt.

»¿Ella murió?« Ist sie tot?
Taehyungs Stimme war schon vorher tief, doch bei diesen Worten scheint sie noch rauer und tiefer geworden zu sein. In seinen verschiedenfarbigen Augen spiegelt sich der Himmel, als er nach oben blickt. Obwohl Yoongi nicht weiß, in welcher Beziehung seine Schwester zu diesem Mann gestanden hat, kann er verstehen, warum sie ihre Zeit mit Taehyung verbracht hat. Er ist eine faszinierende Erscheinung.
»Sí.«

Taehyung fragt nicht nach, woran sie gestorben ist, also vermutet Yoongi, dass er von Yong-Suns Krankheit gewusst haben muss. Ob er sie besucht hat, in ihren letzten Tagen? Vielleicht immer dann, wenn ihr Bruder nicht da gewesen ist?
Auch Yoongi fragt nicht. Stattdessen bleiben sie still. Durch die Löcher im Dach sieht man immer wieder Vögel. Sie fliegen in der Zeitspanne eines Wimpernschlages über ihnen hinweg und hinterlassen nur flüchtige Abdrücke auf Yoongis Retinas.

»El funeral será el domingo.« Die Beerdigung findet am Sonntag statt.
Yoongi reicht Taehyung einen Zettel, auf den er die Adresse des Friedhofes geschrieben hat. Obwohl sein Gegenüber nur nickt, ist er sich sicher, dass er kommen wird. Taehyung hat Tränen in den Augen.
Für einen seltsamen Moment lang sehen die beiden Männer sich an. Yoongi fragt sich, ob er wohl Taehyungs bester Freund hätte werden können, hätten sie sich unter anderen Umständen kennengelernt.

»¿Todavía necesitas ayuda con eso?«, fragt Taehyung schließlich. Brauchst du damit noch Hilfe? Yoongi fällt auf, wie warm seine Stimme klingt. Wie das Blau des Himmels über ihnen.
»No, gracias«, lehnt er ab, auch wenn er das Angebot zu schätzen weiß. Die Beerdigung ist seine Sache, er möchte das allein erledigen.

Sie sitzen noch eine Weile schweigend, und verstehen sich so besser, als sie es mit Worten je getan hätten. Durch ihre gemeinsame Trauer sind sie keine Fremden mehr. Obwohl Taehyung Yong-Sun nicht lange gekannt haben konnte, sind sie wohl die beiden Menschen, die sie am meisten vermissen werden.
Noch oft wird Yoongi hier herkommen, seine Lunge mit dem Staub der Vergangenheit füllen und mit Taehyung den Himmel beobachten. Es ist leichter, in den Erinnerungen an eine Tote zu versinken, wenn man dabei die Vögel über sich fliegen hat.

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good night, sun ― yoongiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt