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you know what i mean — 11:57drei minuten vor mitternacht

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you know what i mean — 11:57
drei minuten vor mitternacht

Ein Klingeln ertönt als Yoongi die Tür öffnet, aber der Betreiber des Ladens sieht nicht auf. Schließlich hätte genauso gut der Wind den Ton erzeugt haben können. Stattdessen steht er hinter seiner kleinen Theke und sortiert weiter Flaschendeckel. Nach Farbe und innerhalb der Farben nach Größe. Gibt es gleichgroße, werden sie alphabetisch nach Aufschrift oder chronologisch nach Verfallsdatum aufgereiht. Es hat seine Ordnung; er hat dieses Spiel schon oft gespielt. Viel zu tun gibt er in der Mittagszeit nämlich nicht.

»Buenos días«, begrüßt Yoongi ihn zögerlich. Eigentlich will er den Mann nicht in seiner Beschäftigung stören.
Der Verkäufer blickt auf und den Eintretenden an. Er kneift betrachtend die Augen hinter seiner Brille zusammen. »Hallo, Min Yoongi«, antwortet er schließlich. Sein Koreanisch klingt perfekt. Wahrscheinlich seine Muttersprache. Oder er ist nur sehr begabt.
»Was führt Sie her?«

Yoongi ist überrascht davon, dass der Fremde seinen Namen kennt. Aber er zeigt es nicht. Ein bisschen ist es ihm auch egal. Hier ist sowieso alles merkwürdig für ihn.
Stattdessen holt er Yong-Suns spanische Bücher aus seiner Sporttasche und legt sie auf den Tresen. »Die hier würde ich gern verkaufen.«

Der Mann, der hinter dem hüfthohen Tisch steht, nimmt die Waren genau unter die Lupe. Er untersucht die Einbände, blättert hindurch und riecht sogar daran. Dann lächelt er. »Sie behandelt ihr Hab und Gut immer sorgfältigst, wirklich beeindruckend. Die hier sind noch genau in dem Zustand, in dem ich sie ihr verkauft habe.«
Komplett versteht Yoongi nicht, wovon sein Gegenüber spricht, aber er ist erleichtert, dass ihm die Bücher zu gefallen scheinen.

»Einen guten Geschmack hat sie auch.« Der Ver- und Ankäufer hält eine in die Jahre gekommene Ausgabe des Buches Der alte Mann und das Meer in die Höhe. Es wirkt beinahe, als würde das Blau des Einbands abblättern, so alt ist es.
»Haben Sie El viejo y el mar gelesen?«
Yoongi schüttelt den Kopf. Er ist kein Leser; noch nie gewesen.
»Und trotzdem verkaufen Sie es.« Es klingt bedauernd.
»Ich kann kein Spanisch«, brummt Yoongi zur Antwort.

Die Finger des Verkäufers bringen die Seiten der Bücher zum Fliegen, als würden sie vom Wind herumgewirbelt. Er notiert sich etwas zu allen von ihnen.
Trotz dem er nicht besonders lange braucht, findet Yoongi es ein bisschen komisch, so tatenlos im Laden herumzustehen. Er ist der einzige Kunde. Die Luft ist stickig und warm, obwohl an der Decke ein Ventilator seine Runden dreht. Einige der Zeitschriften, die zum Verkauf stehen, lassen ihre Blätter so müde wie Blumen hinunterhängen. Eine Minute hier gleicht einer Dekade seines alten Lebens.

»Mein Name ist übrigens Kim Seokjin. Und ich kaufe die Bücher«, kommt es schließlich vom Mann hinter dem Tresen. Er blickt jetzt auf und sieht Yoongi forschend über den Rand seiner braunen Brille hinweg an. Es fühlt sich an, als würde Seokjin mehr über ihn wissen, als Yoongi über sich selbst. »Was wollen Sie dafür haben? Ich könnte Ihnen—«

»Kein Geld«, unterbricht Yoongi ihn schnell. So ganz ist er mit der Währung hier sowieso noch nicht vertraut.
»Was dann?« Kim Seokjin hat eine Augenbraue hochgezogen.
»Ich brauche Blumen. Für die Beerdigung.« Yoongi beobachtet das Gesicht seines Gesprächspartners, als er dieses letzte Wort ausspricht, aber er sieht keine besondere Reaktion darauf. Wusste der Verkäufer also schon, dass Yong-Sun tot ist? Aber eigentlich überrascht ihn das nicht. Dieser Mann wirkt sowieso, als könne er alles durchschauen.

»Natürlich«, erwidert Seokjin. Ein bisschen belegt klingt seine Stimme schon. »Ich schlage weiße Tulpen vor.«
Das begründet er nicht, aber Yoongi zuckt auch nur mit den Schultern. Er hat keine Ahnung von Blumen, aber diese gefallen ihm. Yong-Sun würde sie auch mögen und wichtig ist nur, dass es welche gibt.

»Können Sie also welche für die Beerdigung beisteuern, als Bezahlung für die Bücher?«
»Mache ich«, bestätigt Seokjin. Er tut es auch als Gegenleistung für Yong-Suns bereichernde Gesellschaft. Aber das erklärt er ihrem Bruder nicht. Es ist ihm wahrscheinlich sowieso klar.

»Sie findet am Sonntag statt«, informiert ihn Yoongi. Der Verkäufer notiert sich daraufhin etwas und als er nicht wieder aufschaut, will Yoongi sich zum Gehen wenden. Doch vor der Tür kommt er doch wieder zum Stehen.

»Woher kannten Sie meinen Namen?« Er fragt das nicht, weil es ihn wirklich interessiert. Eher, weil er weiß, dass Yong-Sun diesen Mann gekannt haben muss. Und er die Gelegenheit, ein wenig mehr über seine Schwester zu erfahren, nicht ungenutzt lassen kann.

»Yong-Sun hat ihn mir genannt. Als Sie eingetreten sind, habe ich Sie an der Art ihrer Schritte identifiziert. Ihr Gang ähnelt dem Ihrer Schwester.« Seokjin lächelt, als er Yoongis skeptisches Gesicht sieht. »Manchmal trat sie mit den Zehenspitzen zu erst auf.«
Vergessene Erinnerungen steigen in Yoongi auf. Die kleinen Füße seiner Schwester, eingezwängt in Balletschuhe. Die scharfe Stimme der Tanzlehrerin. Und die alberenen Bewegungen, die Yong-Sun so gehasst hatte. Sie mussten eine bleibende Wirkung hinterlassen haben.

»Ich mache das aber nicht«, gibt er fast trotzig zurück. Er mag es nicht, wie viel Seokjin über ihn zu wissen scheint. So weit weg von Zuhause sollte man fremd für alle sein.
»Stimmt.« Die beiden Männer sehen sich an, bis Yoongi den Augenkontakt bricht.

»Woher kannten Sie Yong-Sun?«, murmelt er schließlich. Er hat keine Ahnung, warum er sich überhaupt noch mit dem Verkäufer unterhält. Vielleicht, weil sie beide nichts Besseres zu tun haben. Aber irgendwie ist Yoongi wohl auch neugierig. Und irgendwie fühlt es sich wohl doch auch ganz schön an, nicht der einzige zu sein, der sich an Yong-Sun erinnert.

»Sie war eine Stammkundin. Ungefähr einmal in der Woche hat sie Blumen gekauft. Manchmal auch eine Zeitung oder ein Buch. Nur bei den Getränken und Zigaretten hat sie nie zugegriffen.« Seokjins Blick ist versonnen. »Man kommt ins Gespräch, wenn man sich so regelmäßig sieht. Obwohl mit Ihnen ja schon dieses eine Treffen ausgereicht hat.« Er stößt ein Lachen aus, das Yoongi nicht deuten kann.

»Was haben Sie vor? Kommen Sie jetzt auch öfter?«
»Ja«, erwidert Yoongi. »Aber ich kaufe keine Blumen oder Bücher. Nur Zigaretten und Getränke.«
Bisher hat er noch nicht gewusst, was kommen würde. Aber in diesem Augenblick hat er wohl eine Entscheidung getroffen. Er wird diesen Ort sowieso nie wieder hinter sich lassen können. Also schadet es vermutlich auch nicht, noch für eine Weile hier zu bleiben. Es macht keinen Unterschied mehr, weil er sowieso nirgends auf der Welt mehr Zuhause ist.

»In Ordnung.«
Die beiden Männer nicken sich zu.
»Bis Sonntag.«

Yoongi verlässt den Laden. Wind liegt immer noch in der Luft, er treibt ihn regelrecht davon. In seinen Ohren rauscht er so laut, dass er alle Gedanken dazwischen verstummen lässt. Stattdessen legt Yoongi den Kopf in den Nacken und sieht in den Himmel, während er durch die leeren Straßen läuft.
Vor seinem inneren Auge sieht er die Gesichter von Namjoon, Taehyung und Seokjin. Sie alle haben Yong-Sun gekannt, und vielleicht noch viel mehr, und es könnte sein, dass er es niemals erfahren wird. Und wenn es niemals jemand erfährt, war es dann nicht, als wäre es niemals geschehen?
Yoongi wandelt durch die Stadt und er weiß, dass niemand merkt, dass er hier ist. Vielleicht ist er es deshalb auch gar nicht; nie hier gewesen. Wer weiß das schon.

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good night, sun ― yoongiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt