Kapitel 4

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„Das ist alles deine Schuld...", flüsterte Amelia leise. „Du willst dich ernsthaft in diesem Zustand mit mir streiten?" Verblüfft hob er beide Augenbrauen. Amelia schlug mühselig die Augen auf und ihre Mundwinkel waren von der Erschöpfung nur leicht nach oben gebogen. „Nein."

„Ich werde dich definitiv nicht alleine wandern lassen.", bestimmte Finn aufdringlich. „Nicht nachdem das vorhin passiert war." Sie liefen über eine grössere Lichtung. Langsamer als vorhin, da Amelia leicht schwächelte. „Was war das eigentlich vorhin?" Jetzt war es an Finn neugierig zu sein. Amelias Farben wirbelten wild umher, ehe sie sich etwas sortierten. Sollte sie ihm die Wahrheit sagen oder nicht? Hin und hergerissen kaute sie auf ihren Lippen. „Das habe ich manchmal. In letzter Zeit wird es immer häufiger. Mein Vater meinte ich wäre verflucht, als ich dies zum ersten Mal hatte und seither lügt meine Mutter ihn immer an, wenn wir nach einem Anfall mit mir zum Arzt gefahren sind." Ihre Stimme war nur ein Murmeln und doch verstand Finn jedes Wort.

„Der Arzt hat nicht herausgefunden, was es sein könnte. Es kann mit meinem Asthma zusammenhängen. Aber die anderen Anfälle – wie er sie so gerne nennt - stehen nach ihm in keinem Zusammenhang." Sie hob die Schultern und blickte vor sich auf den Boden. Finn blieb stehen. Sie tat es ihm gleich. Mit einer Hand hob er ihr Kinn.

„Schau mich an, Amelia! Du musst dich nicht schämen für deinen Körper oder deine Familie." Amelia war erstaunt, dass er gemerkt hatte, dass sie sich für ihre Anfälle schämte. Sie drehte den Kopf zur Seite. Er wusste genau wie sie sich fühlte. Das war ihr bereits mehrere Male aufgefallen. Er schien ihr auch etwas zu verschweigen. Doch sie war zu schwach, um erneut eine Diskussion mit ihm zu starten und hing ihren eigenen Gedanken nach.

Der Tag neigte sich dem Ende zu. Sie würden das Ziel heute nicht mehr erreichen. Ihre Essensvorräte waren grösstenteils aufgebraucht und so fingen sie an im Wald zu suchen. Amelia machte sich zwischen den alten Stämmen, dessen Wurzeln weit über die Erde ragten, auf die Suche nach Waldbeeren und Pilzen, während Finn am Waldesrand nach Giersch Ausschau hielt.

Mit feinen Bewegungen landeten die roten Beeren in der kleinen Ledertasche. Pfeifend hob Amelia Steinpilze vom Boden auf und untersuchte sie auf Unschönheiten oder Tierchen. Eine handvoll Pilze würde reichen, entschied Amelia und machte sich auf den Weg zurück zum Ausgangsplatz. Kurz vor ihrem Ziel erhaschte sie einen Blick auf Finns Rücken, welcher bei einer Lichtung am Waldboden kauert und mit präzisen Bewegungen Giersch abschnitt. Schmunzelnd schlich sie sich von hinten an ihn heran. Finns Hände waren konzentriert bei der Arbeit und er schien sie nicht zu bemerken, bis sie direkt hinter ihm stand und ihn überraschend fest an den Schultern rüttelte. Amelia wusste nicht wie ihr geschah. Sie wurde herumgewirbelt, verlor das Gleichgewicht und lag urplötzlich mit dem Rücken am Boden. Finn war über ihr, eine Hand gefüllt mit Giersch auf ihrem bebenden Brustkorb, welche sie aggressiv auf den Boden drückte. In der anderen Hand der Dolch auf ihren Hals gerichtet. Seine Augen waren gefüllt mit Hass. Amelia schnappte nach Luft. Panisch merkte sie, wie sie sich wehren wollte, doch sie konnte sich von diesem hasserfüllten Gesicht nicht losreissen. Amelias Körper schütte Angst aus und ihr wurde gleichzeitig kalt und heiss. Ihr Mund war staubtrocken und ihr Körper bebte. Nach wenigen Sekunden schüttelte sich Finn und robbte beschämt von ihr hinunter. Sein Dolch versteckte er hinter seinem Rücken, als würde er ihr etwas verschweigen wollen. So taub wie sich ihr Körper anfühlte, war er auch. Amelia winkelte mit aller Kraft die Knie an und wollte nur noch weg von Finn. Sie drückte sich am Boden entlang weg von ihm. Wollte er sie wirklich umbringen? Warum hat er sie nicht erkannt? Was für eine Vergangenheit lehrt einem ein solches Verhalten? Rund um Amelia hatte sich eine wirbelnde Farbkombination gebildete, die sich zu einem kleinen Tornado um sie herum bildete. Fasziniert, aber relativ unbeholfen machte Finn einen Schritt auf Amelia zu. „Bleib weg von mir!" gluckste Amelia. Der Tornado verwandelt sich und wurde dominiert von unterschiedlichen Rottönen. Abwehrend hob Amelia beide Hände und blickte Finn an. Ihre Augen leuchteten vor Angst. Angst. Eines der stärksten Gefühle.

Finn erschrak, blieb stehen und beobachtete die schlaffe Amelia, wie sie mit einer Hand versuchte sich aufrecht zu erhalten. Ihr Körper wirkte taub und ihre Gefühle waren ein Wirrwarr aus verschiedenen Farben, welche Finn nicht interpretieren konnte. Doch welches Gefühl eindeutig im Vordergrund stand und die anderen beinahe gänzlich verdrängte, war ihre Angst. Ihre Angst vor ihm. Vor seinem Handeln. Er konnte nicht mit ansehen, wie sie litt. „Ich will dir doch nur..." „Geh weg, Finn!" Ihre Stimme war ein Keuchen. Als Finn trotzdem näher zu ihr trat, wollte sie weg, doch ihr fehlte die Kraft. Ihre wunderschönen grünen Augen waren panisch weit aufgerissen und neben ihr lagen einige Steinpilze, die aus ihrer Ledertasche gefallen waren. Je näher er ihr kam, desto stärker wurde die Energie, welche von ihren Farben ausging. Amelia drückte beide Hände an ihre Brust, blinzelte schmerzverzehrt, verzog das Gesicht und keuchte auf. Es schien erneut, als bekäme sie keine Luft. Ihre Augen zuckten, ihr Körper bebte und sie fiel erneut in Ohnmacht. Die tanzenden Farben blühten zu einer Spitze auf, bevor sie allesamt erloschen. Finn rannte die letzten Schritte zu ihr hin. Sie atmete noch und ihr Herzschlag war zu spüren. Erleichtert mustert Finn ihr Gesicht. Es war nass vom Schweiss und ihr Körper glühte förmlich. Nach einigen Zucken in den Augenlidern, beruhigte sich ihre Atmung und sie konnte schmerzverzehrt ihre Augen öffnen. „Finn?", ächzte sie. „Hier Amelia. Ich bin hier und werde dir nie etwas antun. Du musst mir vertrauen!" Langsam gab sich Amelia in die Obhut seiner Arme. Er hatte ihren Oberkörper auf seine Knie gezogen und umschlang sie liebevoll. „Wie kann ich dir vertrauen, wenn du mir nichts erzählst?" Ihre Stimme nur ein Flüstern. Es musste ihr unheimlich schwerfallen. „Vertrau mir, Amelia. Ich werde dich niemals anlügen." „Versprochen?" „Versprochen!"

Sanft hob er ihren leichten Körper hoch und trug ihn zu ihren Sachen zurück. Die Lichter, welche den Wald fluteten gingen zurück und die Dunkelheit nahm ihren Platz ein. Finn entzündete ein Feuer und hockte sich daneben auf den Boden. Verträumt riss er in unregelmässigen Abständen violette Blüten und kleine Äste von seinem Mönchspfeffer und warf es ins Feuer. Der vertraute Geruch breitet sich aus und Amelia fühlte sich gleich sicherer. Ihren Kopf hatte sie auf den Arm gelegt, um ein Kissen zu haben und beobachtete weiter gespannt seine Bewegungen. Seine blonden Haare standen ihm vom Kopf ab und schimmerten wegen des Feuers leicht rötlich. Seine ausgeprägten Wangenknochen bewegten sich leicht, während sie sein Profil musterte. Mit Geschick schnippte er eine weitere Blüte von seiner grossen Handfläche ins Feuer. Es zischte kurz. Ihr Blick glitt vom Feuer zurück zu ihm und sie bewunderte seine rosigen Lippen, die schmal aufeinander gedrückt wurden. Nachdenklich starrte sie ihn weiter an, bis Finn den Kopf zu ihr drehte und sich seine Lippen zu einem einseitigen Lächeln verzogen. Beschämt sah sie zu Boden und kritzelte mit einem kleinen Holzstiel im weichen Untergrund umher. Er starrte sie weiter an. Langsam entstand ein Bild vor ihr, ohne dass sie es wahrnahm. Die Röte wollte nicht aus ihrem Gesicht verschwinden und langsam bekam sie warm. „Was zeichnest du?" Verdutzt blickte sie auf. Ihre runden Rehaugen blickten in sein einseitig beleuchtetes Gesicht, was ziemlich lustig aussah. Nach einigen Sekunden in denen Finn auf eine Antwort wartet und Amelia sich gefasst hatte, blickte sie zu Boden und erblickte ihre Malereien. „Ähm.. ein Apfelbaum." Sie legte den Kopf schief. Wann hatte sie vor einen Apfelbaum zu zeichnen? Es war eine Ewigkeit her, seit sie überhaupt das letzte Mal gezeichnet hat. Finn lächelte sie nur leicht an. „Na dann.", war alles was er mit einem unbekümmerten Schulterzucken erwiderte, bevor er sich seine Jacke über den Körper warf und sich ihr gegenüber hinkauerte. Seine Augen waren geschlossen und seine Atmung ging regelmässig. Amelia starrte ihr Gegenüber an, seufzte tief und hatte das starke Bedürfnis dem schlafenden Finn seine goldene Haarsträhne aus der Stirn zu streichen. „Du solltest auch schlafen.", murmelte Finn. Beinahe wäre sie erschrocken, dass er noch wach war und aus lauter Überraschung schloss sie fest die Augen und war schneller eingeschlafen, als dass sie zu lange darüber nachdenken konnte, woher Finn wusste, dass sie noch wach war, denn er hatte seine Augen bereits vor Minuten geschlossen.

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