V - Ein langer Tag

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Jahr 351 nach dem Götterkrieg, Sommer

Merun, Hauptstadt des Kaiserreichs


Giræsea zog ihr Schwert aus dem leblosen Körper des Avius unter sich und befestigte es wieder an dem Gurt an ihrem Rücken. Um die Leiche kümmerte sie sich nicht weiter. Sollte ihn doch abholen, wer ihn hierher geschickt hatte. Vielleicht verstand er oder sie ja sogar die Warnung.

Hoffentlich machte sich Thorgest noch nicht zu viele Sorgen. Wenn er losgegangen war, um sie zu suchen, würde es wieder einen ganzen Tag dauern, bis sie ihn gefunden hatte. In Merun vielleicht sogar noch länger. Verfluchte Menschenstadt!

Von der Vorstellung genervt, rückte sie ihren Schulterpanzer zurecht und machte sich auf den Weg zurück zu ihrer Herberge. Hätte sie der verfluchte Attentäter früher angegriffen müsste sie jetzt nicht so weit laufen. Zurück an der Kreuzung, die auf die Hauptstraße dieses Rings führte, sah die Ork nach links. Da konnte sie nicht lang gehen. Der Bettler hatte mit seinem Geschrei vermutlich für Aufsehen gesorgt. Also entschied sie sich für den rechten Weg. Sie würde die sauberen Straßen hier vermissen. Nur vier Straßen weiter bog sie wieder nach links ab, dann einen Häuserblock weiter nach rechts. Die Menschen und Zwerge gingen ihr größtenteils aus dem Weg und so kam sich auch trotz der Massen recht gut voran.
Ein Großteil dieses Rings diente der Bevölkerung von Merun als Markt und war daher gut besucht. Sowohl von Bewohnern der anderen Ringe, als auch der Stadt im Stein. Ein separater Bezirk, der sich unter der eigentlichen Stadt in die Tiefe erstreckte. Dort lag auch ihr Ziel.

Einige Kreuzungen und Gabelungen später stand sie dann vor einer Mauer mit einem kleinen Tor, die sich zu beiden Seiten erstreckte, soweit ihre Augen sehen könnten. Gestützt von dieser Mauer wuchs ein kleiner Berg in die Höhe. Dort auf den Terrassen hatte es sich die Obrigkeit gemütlich gemacht. Doch ihre Weg führte in die andere Richtung. Wieder in den Dreck... Mit möglichst gleichgültiger Miene trat sie der Wache entgegen und bat sie, das Tor zu öffnen.

In dem tiefen Schacht, der sich vor auftat, war nichts mehr organisiert, geplant oder auf irgendeine Art geordnet. Hier wurde gebaut, wo Platz war. Direkt in den Stein oder Häuser aus Holz oder Metall in den Höhlen, die gefunden wurden oder beim Bau entstanden waren.

Giræseas Weg führte sie vorbei an den ersten wenigen Läden, die sich um die Eingangstore zu den Slums gesammelt hatten. Ohne sie weiter zu beachten schritt sie die zwei Treppen hinunter zu dem, was wohl mal als dritte Etage geplant gewesen war, bevor die Gebäude begonnen wie ein Pilz zu wuchern.

Von weiter unten drangen kurz die Schreie eines Streits nach oben, aber dann herrschte wieder Stille. Es hätte sie auch gewundert, wenn um diese Uhrzeit jemand zur Verteidigung einer der Parteien geeilt wäre.

Immer tiefer wanderte sie in die Eingeweide von Merun, in jede Seitengasse lurend, um sicherzugehen, dass sie nicht von noch einem Attentäter überrascht wurde. Sie konnte sich erst entspannen, als sie das Schild mit dem gehörnten Zentauren-Kopf sah. Nach einem letzten Blick nach hinten, um sich zu vergewissern, dass ihr niemand folgte, trat sie durch die Tür. Im Schankraum zwei bewusstlose Gäste an verschiedenen Tischen, aus der Küche das Schnarchen des Kochs und hinter der Theke der Wirt. Ein fetter Felin, der wohl auch seine besten Tage schon hinter sich hatte.

Sie setzte sich schwer auf einen Hocker an der Theke und legte dem Wirt zwei Goldstücke hin.

„Bitte sag mir, dass du etwas orkisches hast." Nach dieser Nacht brauchte sie etwas Entspannung.

"Da muss ich Euch leider enttäuschen. Wenn es aus dem Sandmeer sein soll, kann ich euch einen Wurzelschnaps aus dem nordöstlichen Teil anbieten. Auch, wenn das Rezept oft von Menschen abgewandelt wurde und gerade hier in den südlicheren Regionen sehr beliebt ist, so stammt das echte doch von den Zentauren, so sagt man." Mit einem verschwörerischen Grinsen stellte er eine Flasche vor ihr ab. Dunkles Glas. Keine Gravur, kein Etikett. Sie bezweifelte, was er über den Inhalt gesagt hatte.

"Soll mir recht sein. Ist der Zwerg hier vorbei gekommen?"

„Ja. Und er schien nicht gerade glücklich zu sein."

„Ich hoffe er hat deinen Gästen nicht zu viel Ärger gemacht." Damit stand sie etwas schuldbewusst auf, legte dem Wirt das restliche Geld aus ihrer Tasche auf den Tisch und verschwand mit der Flasche Zentauren Brandes aus der Gaststube. Sie hätte Thorgest vermutlich sagen sollen, dass sie alleine gehen wollte, aber er hätte es nicht zugelassen. Er hätte darauf bestanden mit ihr zu kommen, der verrückte Zwerg. Sie schüttelte den Kopf. Es hätte sie vermutlich beide das Leben gekostet. Und kurz bevor sie ihr Zimmer erreicht hatte, stand er auch schon vor ihr. Eine Hand im geflochtenen Bart, die andere in die Hüfte gestemmt.

„Soso, kommt die junge Dame auch mal wieder zurück."

Fast musste sie lachen. „Krieg dich wieder ein, alter Mann. Nicht jeder von uns wird hunderte von Jahren alt. Hier." Sie drückte ihm die Flasche von der Theke in die Hand. „Damit entspannst du dich wieder etwas."

„Schau dich an... ein Arm immer noch halb gelähmt. Du hast das Gegengift viel zu spät genommen... Du weißt, dass es dich noch umbringen wird, wenn du so unvorsichtig bist."

„Ich musste sicher gehen, dass er sich zeigt. Glaubst du, ein Avius würde sich einer Ork unter normalen Bedingungen stellen?"

„Ein Avius? In Merun? Nicht die unauffälligste Wahl."

„Keine Ahnung... Vielleicht sind sie ja doch nicht so schlau... Was erwartest du denn von drei Idioten, die das Sandmeer nie verlassen haben?"

„Du unterschätzt den Kurr. Sie jagen dich seit du das Sandmeer verlassen hast", meinte Thorgest sichtlich besorgt.

„Ja. Und bisher hat uns nur dieser Vogel gefunden..."

„Aber das wird sich ändern, wenn wir nicht bald von hier verschwinden. Oder hast du irgendeinen anderen Ork in dieser verdammten Stadt gesehen?"

„Thorgest... Bitte. Müssen wir das jetzt alles hier ausdiskutieren? Du weißt genauso wie ich, warum wir hier sind."

Giræsea drückte sich an ihm vorbei und trat durch die Tür hinter ihm in ihr Zimmer. Einmal drehte sie sich nochmal zu ihm um - „Morgen finden wir ihn und dann verschwinden wir von hier. Ich denke, das wird sie auch freuen." - und schloss die Tür hinter sich.

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