Die Große Probe II

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Ich rannte los. Einfach auf Evan zu, der mich kurz verblüfft anstarrte. Er hatte anscheinend nicht damit gerechnet, dass ich den ersten Schritt machen würde. Das Schwert hielt ich in meiner rechten Hand. Ich täuschte einen Angriff von links an, wich dann aber nach rechts aus, in der Hoffnung, einen Treffer landen zu können. Doch Evan hatte dies kommen sehen und blockte meinen Angriff mit Leichtigkeit ab. Er grinste mich an und ich wurde sauer. Dieses Grinsen! Das Grinsen wird dir schon noch vergehen! Ich wich ein paar Schritte zurück und stürmte aufs Neue nach vorne. Ich schlug einfach zu, ohne wirklich nachzudenken. Evan blockte wieder ab, weswegen ich einen Schritt nach rechts machte, um ihn von dort anzugreifen. Diesmal landete ich einen Treffer und konnte ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen. Evan stolperte zwei Schritte zurück. Dann drehte er den Spieß um und rannte nun auf mich zu. Ich hielt mein Schwert vor mich, um mich verteidigen zu können - zu früh gefreut. Evan wich blitzschnell nach links aus und landete einen Treffer in meine Seite. Ich keuchte gequält auf und holte tief Luft. Als ich Evan ansah, war da wieder dieses Grinsen. Dieses verdammte Grinsen! Ich sammelte mich wieder und griff von links an, während ich ihn mit all meiner Kraft schubste, sodass er fiel. Diesen Moment nutzte ich aus und schlug mit meinem Schwert zu. Evan blockte ab und ich sprang schnell zur Seite, bevor er einen weiteren schmerzhaften Treffer landen konnte. Doch dadurch ließ ich ihm die Chance, sich wieder in Stellung zu bringen, und Evan stand in Sekundenschnelle wieder auf den Beinen. Seine grünen Augen funkelten mich an, doch ich ignorierte dieses Funkeln einfach. Jetzt sind wir quitt. Ich grinste ihn nur selbstgefällig an und bemerkte, wie sich seine Muskeln strafften. Ich hatte ihn wohl sauer gemacht. Er stürmte mit einem hohen Tempo auf mich zu und ich stemmte meine Füßen in den Boden, um mich gegen den Angriff zu wappnen, doch es kam keiner. Evan hielt nur wenige Zentimeter vor mir an, ließ seinen Arm sinken und lockerte den Griff, sodass das Schwert auf den Boden fiel. Wollte er etwa schon aufgeben? Dieser Feigling! Ich dachte, er wollte so unbedingt gegen mich gewinnen, damit er- Doch weiter kam ich mit meinen Gedanken nicht, da ich von Händen abgelenkt wurde, die sich an meiner Taille platzierten. Und keine Sekunde später zog Evan mich an sich ran und seine Lippen landeten auf meinen. Ich riss die Augen geschockt auf und stieß ihn sofort von mir. „Was soll das!", hörte ich meinen Vater wütend brüllen und die anderen Hunter gaben überraschte Laute von sich. Ich sah mich beschämt um, bis meine Augen wieder bei Evan waren. Ich sah meinen Gegenüber wutentbrannt an und hob mein Schwert. „Was fällt dir ein!", schrie ich ihn wütend an und holte zum Schlag aus. Wie konnte er mich so vor meinem Vater bloßstellen? Während alle Hunter anwesend waren und den Prüfungen zusahen. Evan wich meinem Angriff leider mit Leichtigkeit aus, doch diesmal würde er nicht so einfach davonkommen. „Ich konnte nicht anders", antwortete Evan nur, ohne jedes Gefühl von Bedauern oder Schuld. Er konnte nicht anders? Ist das sein Ernst? „Du konntest nicht anders?! Du hast mich vor allen geküsst, während unserer Prüfung!", schrie ich und holte erneut zum Schlag aus, mit der Absicht, ihm weh zu tun. Zu meinem Glück traf ich ihn auch und schnitt ihm mit meinem Schwert in die Seite, weshalb er unter Schmerzen zusammenzuckte und zu Boden ging. Er hielt sich die Seite und sah mich mit flehenden Augen an. Ich war so wütend - so wütend, dass ich ihn am liebsten noch mehr verletzen würde. Doch ich tat es nicht. Ich ließ das Schwert fallen und ballte meine Hände zu Fäusten. Evan zu verletzen würde auch nichts ändern. Er hatte mir meine Chance, mich meinem Vater zu beweisen und eine Hunter zu werden, sowieso schon genommen. Ich biss die Zähne zusammen und kniff meine Augen zusammen, um die Tränen zu unterdrücken, die sich in meinen Augen ansammelten. Der Schmerz war stark. Der Schmerz, dass ich die Prüfung nicht bestehen würde. Der Schmerz, dass ich mich meinem Vater nicht beweisen konnte und der Schmerz, dass ich ihn wieder enttäuscht hatte. Ohne nachzudenken ging ich auf Evan zu, holte mit meiner rechten Hand aus und klatschte ihm eine. Das Geräusch, als meine Hand auf seine Wange traf, war laut. Danach drehte ich mich einfach um und rannte zum Ausgang der Akademie, während ich die Stimmen der Hunter hörte, aber allen voran die Stimme meines Vaters. Wenn ich Evan jetzt weiter angebrüllt hätte, dass er mir diese Chance versaut hatte, würde das ebenfalls nichts bringen und ich würde mich auch ohne seine Hilfe weiter zum Affen machen. Am besten sollte ich einfach meine Sachen packen, abhauen und nie mehr wiederkommen - das wäre die einfachste Lösung, aber auch die dümmste. Aber das war mir im Moment egal. Hauptsache ich musste meinem Vater nicht mehr unter die Augen treten und Evan nicht mehr wiedersehen. Ich hörte Schritte hinter mir und hoffte, dass es nicht Evan war, der mir hinterher lief. Reden wollte ich momentan erst recht nicht und Evans Worte würden alles nur noch verschlimmern. Also beschleunigte ich und rannte einfach wieder in Richtung Wald, in dem Evan und ich uns vor der Prüfung getroffen hatten. Warum dachte ich gerade wieder an Evan? Der Wald! Im Wald hatte ich bemerkt, dass er auf meine Lippen gesehen hatte - auf diese eine Art und Weise. Aber natürlich, jetzt ergab die Szene im Wald Sinn! Das hatte er im Wald gemeint - den Kuss! Die Wut wurde schlimmer und ich steuerte auf einen Baum zu, um diesen zu schlagen, was vermutlich keine gute Idee war, doch ich tat es trotzdem. Und wie erwartet, pochte meine Hand vor Schmerzen und Blut quoll aus mehreren Kratzern. Ich stieß ein wütendes Knurren aus und stöhnte vor Schmerzen, da die Schmerzen doller wurden. Doch es waren nicht nur die Schmerzen von meiner Hand, auch die Schmerzen von dem Treffer, den Evan gegen mich gelandet hatte, kehrten zurück. Ich stieß ein frustriertes Stöhnen aus und hörte plötzlich ein Rascheln hinter mir, was mich aufhorchen ließ. Ist Evan mir etwa gefolgt? Da ich ihm aus dem Weg gehen wollte, rannte ich tiefer in den Wald, hörte zu meiner Verwunderung aber immer noch die Schritte hinter mir. Wie konnte er mit seiner Verletzung mit mir Schritt halten? Doch dann hörte ich ein leises Knurren und blieb panisch stehen. Was war das? Ich sah mich hastig um und suchte nach etwas, das mir Schutz und Deckung bot, doch ich konnte nichts erkennen. Das Rascheln war erneut zu hören und das Knurren klang lauter, als würde es in meine Richtung kommen. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und sah nach oben, um mich selbst zu beruhigen. Vielleicht bildete ich mir das nur ein? Doch das Knurren, das noch immer da war, belehrte mich eines anderen. Die Bäume! Natürlich, ich konnte einfach auf einen Baum klettern und musste hoffen, dass mich kein Tier verfolgte, das auf Bäume klettern konnte. Schnell lief ich zu dem nächsten Baum hin und klammerte mich an einen Ast. Ich hievte mich hinauf und kletterte auf den nächsten Ast und dann den nächsten. Während meiner Kletterei stieß ein schwarzes Tier aus dem Gebüsch, begleitet von einem tiefen Knurren. Ich sah ängstlich nach unten und erkannte einen schwarzen Wolf, dessen dunkle Augen mich fixierten. Ich unterdrückte einen panischen Aufschrei, als er laut bellte und zu dem Baum rannte, auf dem ich mich befand. Für diese Sekunde vergaß ich, dass Wölfe nicht auf Bäume klettern konnten und gab mich ganz meiner Angst hin. Ja, ich weiß, dass ich erwähnt hatte, dass ich Wölfe liebe. Doch da dachte ich nicht, dass mich mal einer verfolgen würde. Ich konnte seine scharfen weißen Zähne erkennen, die er gierig fletschte. Gelähmt vor Angst verlor ich den Halt und wünschte mir, ich wäre in der Akademie geblieben. Im nächsten Moment merkte ich, wie ich das Gleichgewicht verlor und nach hinten kippte - den Baum runter. Ich schloss meine Augen und schrie voller Panik, bevor ich auf dem Boden aufkam. Mein Kopf schmerzte wie verrückt und mein Rücken tat weh. Alles tat weh, alle Muskeln. Ich hörte ein überraschtes Japsen des Wolfs und machte mich auf scharfe Zähne gefasst, die sich in meine Haut bohren würden, doch nichts dergleichen passierte. Warmes Fell streifte mein Gesicht, als der Wolf mich umrundete. Wieso griff er mich nicht an? Wieso tötete er mich nicht? Vorsichtig öffnete ich meine Augen und blickte in die des Wolfs. Das angriffslustige Funkeln war aus seinen Augen verschwunden und ich meinte, Neugierde in ihnen entdecken zu können. Er näherte sich meinem Gesicht und aus Reflex schloss ich meine Augen und hielt den Atem an.

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