Chapter 1

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Jeden Montag nach der Schule laufe ich zu ihm, direkt nachdem ich vom Bahnhof nach Hause gefahren wurde. Er muss eigentlich lernen, aber zockt lieber, bis ich da bin. Wir unterhalten uns entspannt über den Tag und wenn es spät wird, schreib ich meiner Mom, dass ich bei meiner Freundin penne. Er ist einverstanden, dass ich bei ihm schlafe - ich will am liebsten nie mehr heim. Zuhause fühl ich mich nur bei ihm, nicht unter dem anderen Dach. In meinem Haus bleibe ich sowieso nur jede Nacht wach. Wie immer habe ich zuhause vorsichtshalber noch ein paar Snacks in den Rucksack gepackt. So muss ich nicht hungrig bleiben, wenn er mit seiner Familie zu Abend isst.

So geht das jeden Montag, nun seit rund einem Monat. Doch diesen Montag geschieht etwas anderes.

Damit ihr euch nicht wundert: ich bezeichne ihn als meinen Freund, auch wenn wir noch nicht wirklich über unsere Beziehung geredet haben.

Wie immer hängen wir in seinem Zimmer rum, nun schon seit Stunden. Wir haben ein bisschen zusammen gelernt, seit kurzem nehme ich immer ein paar Unterlagen mit zu ihm. Heute war der Schultag besonders anstrengend, meine Lehrer haben mir viel zum Nachdenken gegeben. Nach einem stressigen Tag passiert es mir oft, dass ich einfach nur einschlafe. Genauso läuft es auch heute, hier bei ihm. Tim kennt mich inzwischen gut genug, dass er weiß, wie tief ich schlafen kann und wie wichtig es manchmal für mich ist, meinen Schlaf zu bekommen. Ich kippe also einfach weg, als er gerade konzentriert an seinem Schulzeug arbeitet, während ich, gerade noch mit dem Rücken zur Wand auf dem Bett sitzend, immer mehr in eine unangenehme Position rutsche. Während ich schlummere, nähert er sich dem Bett, um mit mir ein Gespräch anzufangen. Doch ich antworte nicht. Erst beobachtet er mich friedlich beim Schlafen und dann beugt er sich zu mir über das Bett, um mich sanft an der Hüfte zu packen, sodass ich ganz nach rechts auf das Bett kippe. Dann achtet er darauf, dass ich einigermaßen angenehm in seinem Bett liege und richtet noch das Kissen zurecht. Darauf liege ich nun mit dem Kopf, mein Gesicht nach links gerichtet, halb auf seiner Decke. Tim zieht sie über mich, haucht mir noch einen leichten Kuss auf die Wange und geht dann zur Tür. Seine Mutter hat ihn gerufen, er muss heute noch zusätzlich in der Küche helfen, also etwas früher zum Abendessen runter gehen als sonst. Ich bekomme von all dem nichts mit, denn ich schlummere tief und fest in seinem weichen Bett mit der grauen Bettwäsche, die angenehm nach ihm riecht. Ihr müsst euch vorstellen, wie genau ich in Tims Bett platziert bin: ich liege auf dem Bauch, mein Gesicht zeigt nach links und meine Füße in Richtung Zimmertür. Sein Schreibtisch und der ganze Gamingkram befindet sich direkt gegenüber vom Bett, mein Kopf zum Fenster gewandt.

Die Rollos und Vorhänge verdecken heute allerdings nicht den wunderschönen Nachthimmel, weil ich ihn darum gebeten habe – der Himmel wirkt immer so beruhigend auf mich. Es ist jetzt fast Winter, schon sehr früh dunkel und heute erhellen Mond und Sterne ausnahmsweise die Nacht.

So viel also zu meiner Situation, abends allein im Zimmer meines Freundes. Schon mehrmals habe ich mich gefragt, ob sein großer Bruder oder seine kleine Schwester meinen regelmäßigen Besuch bei ihm bemerkt haben.

So kommt es plötzlich, dass Tims Bruder Jakob, kurz nachdem ich alleine gelassen wurde, zur Tür schleicht und vorsichtig seinen Blick durch das Zimmer schweifen lässt. Anscheinend ist ihm aufgefallen, dass sein kleiner Bruder, der normalerweise keine großen Pläne nach dem Abendessen hat, seit kurzer Zeit etwas übereilt vom Tisch aufsteht, um schnell wieder in seinem Zimmer zu verschwinden.

Als sein Blick am Bett hängen bleibt, wo ich friedlich schlummere, weiten sich vor Überraschung seine Augen. Er starrt mich minutenlang an. Wahrscheinlich ist dies der Grund, warum ich wach werde. Mit dem Gefühl, dass mich jemand beobachtet, schlage ich langsam mein linkes Auge auf und dann mein rechtes, um die Person an der Tür zu identifizieren. Von Jakobs Position kann man mein Gesicht sehr deutlich sehen, weil ich mit den Füßen zur Tür liege.

All die Erinnerungen die mir seit kurzem nicht mehr aus dem Kopf gehenWhere stories live. Discover now