Kapitel 23 ✔️

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L U N A

Der gesamte Unterricht wurde eingestellt, alle Prüfungen waren verschoben.
Einige Schüler wurden während der nächsten Tage von ihren Eltern eilends von Hogwarts abgeholt - die Patil-Zwillinge waren noch vor dem Frühstück am Morgen nach Dumbledores Tod verschwunden und Zacharias Smith wurde von seinem überheblich wirkenden Vater aus der Schule geleitet.
Seamus Finnigan hingegen weigerte sich glatt, mit seiner Mutter nach Hause zu fahren; sie hatten eine lautstarke Auseinandersetzung in der Eingangshalle, die damit endete, dass seine Mutter ihm erlaubte, bis nach der Beerdigung zu bleiben.
Die Direktorin von Beauxbatons reiste an, um Dumbledore die letzte Ehre zu erweisen; genauso wie ein paar andere fremde Menschen.
Der Zauberminister, Rufus Scrimgeour, kam ebenfalls.

Am nächsten Tag stand ich früh auf, um zu packen; der Hogwarts-Express würde eine Stunde nach dem Begräbnis abfahren.
Die Stimmung unten in der großen Halle war gedämpft.
Alle trugen ihre besten Umhänge und niemand schien sonderlich Hunger zu haben.
Professor McGonagall hatte den thronartigen Stuhl in der Mitte des Lehrertisches frei gelassen.
Auch Hagrid's Stuhl war nicht besetzt; vielleicht hatte er es nicht über sich gebracht, zum Frühstück zu kommen, aber Sev's Platz war ohne viel Federlesen von Rufus Scrimgeour eingenommen worden.
Unter Scrimgeour's Begleitern erkannte ich das rote Haar und die Hornbrille von Percy Weasley.
Ron ließ sich nicht anmerken, dass er Percy gesehen hatte, abgesehen davon, dass er mit ungewöhnlicher Bösartigkeit auf seine Räucherheringe einstach.
Drüben am Slytherin-Tisch hatten Crabbe und Goyle die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten.
Obwohl sie riesige Kerle waren, wirkten sie doch merkwürdig einsam ohne die große, bleiche Gestalt von Draco in ihrer Mitte, der sie herumkommandierte.
Ich vermisse ihn so sehr...
Ich konzentrierte mich wieder und sah auf den Lehrertisch.
Professor McGonagall war aufgestanden und das düstere Geflüster in der Halle erstarb sofort.
„Es ist nun an der Zeit.", sagte sie. „Bitte folgt euren Hauslehrern hinaus auf das Gelände. Die Gryffindors mir nach."
Wir erhoben uns beinahe stumm von unseren Bänken und marschierten hintereinander hinaus.
Als ich aus dem Portal hinaus auf die steinernen Stufen trat, sah ich, dass es in Richtung See ging.
Die Sonne strich mir warm über mein Gesicht, während wir Professor McGonagall schweigend zu dem Platz folgten, wo Hunderte von Stühlen in Reihen aufgestellt worden waren.
In der Mitte verlief ein Gang: Vorne stand ein Marmortisch, auf den alle Stühle ausgerichtet waren.
Es war ein schöner Sommertag.
Eine ungewöhnliche Mischung von Leuten hatte sich bereits auf der Hälfte der Stühle niedergelassen; schäbig und schick, alt und jung.
Die meisten kannte ich nicht, einige allerdings schon, darunter Mitglieder des Phönixordens: Kingsley Shacklebolt, Mad-Eye Moody, Tonks, deren Haare wunderbarerweise wieder von einem höchst leuchtenden Rosa waren, Remus, offenbar Hand in Hand mit ihr, Dad, Molly und Arthur, Bill, von Fleur gestützt und gefolgt von Fred und George, die Jacketts aus schwarzer Drachenhaut trugen.
Es waren einige Leute da, die ich nur vom Sehen kannte.
Die Schlossgespenster waren auch da, im hellen Sonnenlicht kaum zu erkennen und nur zu unterscheiden, wenn sie sich bewegten und ätherisch in der flirrenden Luft schimmerten.
Harry, Ron, Mine, Ginny und ich setzten uns nebeneinander ans Ende einer Stuhlreihe am Seeufer.
Leute flüsterten miteinander; klang wie eine Brise im Gras, aber der Gesang der Vögel war bei weitem lauter.
Die Menge wurde immer größer; mit einer jähen Anwandlung von Zuneigung beobachtete ich, wie Luna Neville auf einen Stuhl half.
Cornelius Fudge ging mit trauriger Miene an uns vorbei zu den vorderen Reihen und ich erkannte Rita Kimmkorn, die, wie ich wütend bemerkte, ein Notizbuch in ihren rot lackierten Krallen hielt; und es machte mich noch wütender, als ich Dolores Umbridge sah, mit einer fadenscheinigen Trauermiene auf ihrem krötenartigen Gesicht und einer schwarzen Samtschleife auf ihren eisengrauen Locken.
Beim Anblick des Zentauren Firenze, der wie ein Wächter nahe dem Ufer stand, zuckte sie zusammen und trippelte hastig zu einem Stuhl in beträchtlicher Entfernung.
Als Letztes nahmen die Lehrer Platz.
Ich konnte in der ersten Reihe Scrimgeour mit ernstem und würdevollen Gesicht neben Professor MMcGonagall sitzen sehen.
Ich fragte mich, ob Scrimgeour oder irgendeiner von diesen wichtigen Leuten wirklich traurig darüber war, dass Dumbledore tot war.
Doch dann hörte ich Musik, seltsame Musik wie aus einer anderen Welt und ich vergaß meine Abneigung gegen das Ministerium, als ich mich nach ihrer Quelle umsah.
Ich war nicht die Einzige: Viele Köpfe drehten sich suchend und ein wenig beunruhigt um.
„Dadrin.", flüsterte Mine.
Und ich sah sie in dem klaren, grünen, sonnenbeschienenen Wasser, Zentimeter unter der Oberfläche; ein Chor von Wassermenschen sang in einer eigentümlichen Sprache, die ich nicht verstand, ihre bleichen Gesichter kräuselten sich, ihre leicht violetten Haare wogten um sie herum.
Die Musik ließ mir die Nackenhaare zu Berge stehen und doch war sie nicht unangenehm.
Sie sprach sehr deutlich von Verlust und Verzweiflung.
Als ich hinabblickte auf die wilden Gesichter der Sänger, hatte ich das Gefühl, dass wenigstens sie über Dumbledores Tod traurig waren.
Dann wandte ich mich um.
Hagrid schritt langsam den Gang zwischen den Stühlen entlang.
Er weinte ganze leise, sein Gesicht glänzte vor Tränen und in seinen Armen trug er, wie ich wusste, eingehüllt in violetten, mit goldenen Sternen besetzten Samt, den toten Dumbledore.
Dicke Tränen fielen in rascher Folge in meinen Schoß; genauso wie bei Mine und Ginny.
Wir konnten nicht genau sehen, was vorne geschah.
Offenbar hatte Hagrid den Leichnam vorsichtig auf den Tisch gelegt.
Nun zog er sich den Gang entlang zurück und schnäuzte sich mit lauten Trompetentönen, was ihm empörte Blicke mancher Leute einbrachte, darunter, wie ich sah, Dolores Umbridge... aber ich wusste, dass es Dumbledore nicht gekümmert hätte.
Ein kleiner Mann mit büscheligen Haaren, der in einen schlichten schwarzen Umhang gekleidet war, hatte sich erhoben und stand jetzt vor Dumbledores Leichnam.
Ich hörte nicht zu, als er anfing zu reden.
Zu meiner linken war ein leises Spritzen zu hören und ich sah, dass die Meermenschen an die Oberfläche gedrungen waren und ebenfalls lauschten.
Ich sah hinüber zum Wald, als sich dort etwas bewegte.
Auch die Zentauren waren gekommen, um Dumbledore die letzte Ehre zu erweisen.
Sie stehen, halb verborgen im Schatten, die Bogen hingen ihnen an den Seiten herab und sie beobachteten die Zauberer.
Der kleine Mann in Schwarz hatte endlich aufgehört zu reden und seinen Platz wieder eingenommen.
Ich wartete darauf, dass sich jemand anderes erhob; sicher würde es weitere Reden geben, vermutlich auch vom Minister, doch niemand rührte sich.
Dann schrien etliche Leute auf.
Rings um Dumbledores Leichnam und um den Tisch, auf dem er lag, waren helle, weiße Flammen aufgelodert: Sie stiegen immer höher und verdeckten den Körper.
Weißer Rauch bewegte sich spiralförmig nach oben und bildete merkwürdige Formen: Einen kurzen Moment, in dem mir das Herz stehen blieb, glaubte ich einen Phönix zu sehen, der freudig ins Blaue davonflog, doch eine Sekunde später schon war das Feuer verschwunden.
An seiner Stelle stand nun ein weißes Grabmal aus Marmor, das Dumbledores Leichnam und den Tisch umschloss, auf dem er geruht hatte.
Noch mehr entsetzte Schreie waren zu hören, als ein Schauer von Pfeilen durch die Luft rauschte, doch sie fielen weit vor der Menge zu Boden.
Dies war, wie ich wusste, der Tribut der Zentauren: Ich sah sie davonlaufen und wieder im kühlen Wald verschwinden.
Auch die Meermenschen sanken langsam in das grüne Wasser zurück und waren nicht mehr zu sehen.
Ich blickte Ginny, Ron und Mine an: Ron hatte das Gesicht verzogen, als würde ihn das Sonnenlicht blenden.
Mine's Gesicht glänzte tränennass, ebenso wie Ginny's und meins.
Allmählich erhoben sich die Leute.
Auch ich erhob mich und ging zu meinem Vater.
„Wir sehen uns dann am Bahnhof!", lächelte ich.
„Ja. Bis nachher, Kleines."
Mine, Ron und ich suchten Harry und sahen wie er gerade von Scrimgeour wegging.
Schnell eilten wir ihm nach.
„Was wollte Scrimgeour?", flüsterte Mine.
„Das Gleiche, was er Weihnachten wollte.", erwiderte Harry achselzuckend. „Dass ich ihm vertrauliche Informationen über Dumbledore liefere und der neue Vorzeigejunge des Ministeriums werde."
Ron schien einen Moment mit sich zu kämpfen, dann sagte er laut zu Mine: „Hör mal, lass mich zurückgehen und Percy eine reinhauen!"
„Nein.", erwiderte sie entschieden und packte ihn am Arm.
„Danach fühl ich mich besser!"
Harry und ich lachten.
Selbst Mine grinste ein wenig, doch ihr Lächeln verblasste, als sie zum Schloss hochblickte.
„Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass wir vielleicht nie mehr hierher zurückkehren.", sagte sie leise. „Wie kann Hogwarts nur schließen?"
„Vielleicht passiert es ja gar nicht.", sagte Ron. „Wir sind hier nicht in größerer Gefahr als zu Hause, oder? Es ist jetzt überall das Gleiche. Ich würde sogar sagen, dass Hogwarts sicherer ist, es sind mehr Zauberer da, die es verteidigen können. Was meinst du, Harry?"
„Ich komme nicht zurück, selbst wenn Hogwarts wieder öffnet.", sagte Harry.
Ron starrte ihn nur an, doch Mine sagte traurig: „Ich wusste, dass du das sagen würdest. Aber was willst du denn tun?"
„Ich geh noch einmal zu den Dursley's zurück, weil Dumbledore es so wollte.", sagte Harry. „Aber das wird nur ein kurzer Besuch sein und dann bin ich endgültig weg von dort."
„Aber wo willst du hin, wenn du nicht in die Schule zurückkommst?"
„Ich dachte, ich könnte vielleicht nach Godric's Hollow zurückkehren.", murmelte Harry. „Für mich hat es dort angefangen, diese ganze Geschichte. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich dort hingehen muss. Und ich kann die Gräber meiner Eltern besuchen, das würde ich gerne."
„Und was dann?", sagte ich.
„Dann muss ich die restlichen Horkruxe aufspüren, oder?", erwiderte Harry, die Augen auf Dumbledores weißes Grabmal gerichtet, das sich im Wasser auf der anderen Seite des Sees spiegelte. „Er wollte, dass ich das tue, dass wir das tun, Luna, deshalb hat er uns alles über sie erzählt. Wenn Dumbledore Recht hatte - und ich bin sicher, er hatte Recht -, sind immer noch vier davon dort draußen. Ich muss sie finden und sie zerstören und dann muss ich mich auf die Jagd nach dem siebten Stück von Voldemorts Seele machen, dem Stück, das immer noch in seinem Körper ist und ich bin derjenige, der ihn töten wird. Und wenn ich unterwegs auf Severus Snape stoße", fügte er hinzu, „umso besser für mich, umso schlechter für ihn."
Ein langes Schweigen trat ein.
Die Menge hatte sich jetzt fast zerstreut, die Nachzügler machten einen großen Bogen um die gewaltige Gestalt von Grawp, der Hagrid knuddelte, dessen traurige Schreie immer noch über das Wasser hallten.
„Wir werden dort sein, Harry.", sagte Ron.
„Wie bitte?"
„Im Haus von deiner Tante und deinem Onkel.", sagte Ron. „Und dann werden wir mit dir gehen, wo auch immer du hingehst -"
„Nein -", sagte Harry rasch.
„Du hast einmal zu uns gesagt", erklärte Mine leise, „dass noch Zeit sei umzukehren, wenn wir wollten. Wir hatten Zeit, stimmt's?"
„Wir sind bei dir, was auch immer geschieht.", sagte Ron. „Aber, Mann, du musst erst mal bei meinen Eltern vorbeischauen, ehe wir sonst wo hingehen, selbst wenn es Godric's Hollow ist."
„Warum?"
„Bill und Fleur heiraten, schon vergessen?"
Harry sah ihn verdutzt an.
„Jaah, das sollten wir nicht versäumen.", sagte er schließlich.
Ich nickte zustimmend.
Dann blickten wir vier ein letztes Mal auf das weiße Grabmal von Dumbledore.

Luna Black 6 - Harry PotterWhere stories live. Discover now