08.12.2021

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Von
Insta @/its_lari02
Wattpad: Itslari3

⚠️Triggerwarnung Suizid⚠️

P.o.V. Jan

Ich habe den ganzen Tag mit der Organisation unserer Social-Media-Kanäle verbracht. Da ich von Tim seit gestern Abend schon nichts mehr gehört habe, musste ich das Meeting mit unserem Management, heute Abend leider allein führen. Wir hatten uns zum Brainstorming, für das Weihnachtsgewitter, in einem Restaurant in Bonn getroffen. Es lief gut, war aber auch sehr kräftezehrend. Vor ein paar Minuten haben wir uns verabschiedet und da ich sowieso gerade hier bin, beschließe ich noch ein bisschen spazieren zu gehen. Bonn bei Nacht ist wirklich etwas Schönes. Es ist zwar ziemlich kalt draußen, immerhin ist heute schon der siebte Dezember, allerdings liebe ich die Kälte, weshalb ich mit einem müden Lächeln vor die Tür des Restaurants trete.

Ich habe kein bestimmtes Ziel, doch meine Füße leiten mich wie von selbst, bis ich irgendwann bemerke, dass ich auf dem Weg zu Tims Lieblingsort bin. Es ist eine Mauer weit oben, von welcher man über Bonn sehen kann und bei Nacht sieht es ziemlich perfekt aus. Als ich ankomme, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Auf der Mauer steht jemand und schaut abwechselnd in die Ferne und in den Abgrund direkt unter ihm. Als ich leise näher trete höre ich ein Schluchzen. Ein Schluchzen, dass mir nur allzu bekannt vorkommt. Auf der Mauer steht Tim und wenn ich die Situation richtig einschätze, ist er kurz davor alles wegzuschmeißen und aufzugeben.

„Tim?“, gebe ich fragend von mir, doch er reagiert nicht. „Tim, bitte tu das nicht, ich brauche dich hier Tim.“

Der junge Mann zuckt zusammen, er hat schließlich nicht damit gerechnet, dass ich ausgerechnet jetzt hier sein würde. Ich sehe mich verzweifelt um. Wie zum Teufel soll ich es verhindern, dass sich mein bester Freund gleich das Leben nimmt?

Die Lichter der Stadt unter uns ziehen mich in ihren Bann und ich versuche nachzudenken, irgendwie.

In diesem Moment denke ich an ein Element aus der Tanztherapie, worüber ich kürzlich eine spannende Doku gesehen hatte. In meiner vollkommenen Verzweiflung erscheint mir dies als einzig sinnvoll, also folge ich meinem Instinkt. „Tim, ich komme jetzt zu dir okay?“

Als Tim keine Regung von sich gibt, stelle ich mich zu ihm auf die Mauer. Er dreht sich jetzt leicht in meine Richtung, was mir sehr gelegen kommt. Ich versuche Tim liebevoll in die Augen zu sehen. „Tim, bitte konzentriere dich kurz auf meine Hände, fokussiere dich nur darauf, ihnen mit deinen zu folgen“, sage ich vorsichtig, während ich langsam nach seinen Händen greife und sie wie in eine Abwehrhaltung vor seinem Körper positioniere. Dann nehme ich meine eigenen Hände nach oben und ihm genau gegenüber. Unsere Handflächen zeigen zueinander, sind so nah, dass ich seine kalten Hände förmlich spüren kann, aber sie berühren sich nicht. Langsam beginne ich eine Hand nach oben zu bewegen, ganz langsam und als ich merke, wie mir seine Hand fast automatisch folgt, schlägt mein Herz schneller. Ich nehme auch meine zweite Hand nach oben und wieder folgt seine, als wäre sie mit meiner verbunden. Wir stehen uns gegenüber. Rechts von mir der Abgrund, links der sichere Boden. Ich lasse beide Hände etwas sinken und dann nach links schweben. Zusätzlich beginne ich mich in diese Richtung zu drehen und wenn Tim die Hände nicht verlieren will, muss er mir folgen.

Kurz stockt er verdächtig, doch dann bewegt auch er sich langsam, bis er mit dem Rücken zum Abgrund steht. Meine Hände sind glühend heiß und auch seine werden langsam wärmer, zumindest glaube ich das. Mein Herz klopft so stark, dass ich Angst habe er könnte es spüren. Ein falscher Schritt, eine zu hektische Bewegung und ich könnte ihn für immer verlieren. Bei dem Gedanken muss ich heftig schlucken, um den Kloß in meinem Hals zurückzudrängen. Ich schaue fest in Tims Augen. In ihnen tobt eine Mischung wilder Emotionen und doch wirken sie glasig und leer. Tief atmend bereite ich mich auf meine nächsten Schritte vor. Ich gehe langsam rückwärts, meine Hände immer noch gegenüber von Tims.

Schließlich steige ich erst mit einem, dann mit dem anderen Fuß, rückwärts von der Mauer. Meine Arme halte ich ausgestreckt nach oben, damit sie auf Tims Höhe bleiben. Ich gehe einen weiteren Schritt nach hinten und dann passiert es.

Tim folgt mir. Vorsichtig und zitternd steigt auch er von der Mauer. Ich lasse meine Hände langsam sinken und breite stattdessen meine Arme aus, in die sich Tim ohne Aufforderung fallen lässt. Nun stehen wir hier mitten in der Nacht in Bonn, weinen und halten uns gegenseitig. Mir ist klar, dass diese Art des Überbrückens nicht immer funktionieren wird und das Tim professionelle Hilfe benötigt, um aus diesem tiefen Loch wieder herauszufinden. Doch ich bin zuversichtlich, dass er es schaffen kann. Dass wir das gemeinsam schaffen können.

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