Kapitel 1

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„Kalle, ich bin lesbisch."

Einen Moment schaut er mich verwundert an, doch dann lächelt er und umarmt mich. Es ist das erste mal, dass ich einer Person mein Geheimnis anvertraue. Ich muss zugeben, es hat mir schlaflose Nächte bereitet, aber jetzt, da es raus ist, fühlt es sich einfach nur gut an. Es würde mich nicht wundern, wenn ich plötzlich los fliegen würde, denn das alles hier macht mich gerade so glücklich und beschwingt. So muss sie sich wohl anfühlen, die Freiheit.

Kalle wuschelt mir durch meine langen, blonden Haare. Obwohl er weiß, wie sehr ich diese Geste hasse, macht er es trotzdem jedes Mal, wenn er sich für mich oder mit mir über etwas freut. Doch ich lächle, als ich mir meine Haare wieder glatt streiche.

„Ich will dich nicht mit dummen Fragen nerven", sagt Kalle schließlich und legt sich ins Gras, „aber warum hast du mir nicht früher davon erzählt? Du hattest doch nicht etwa Angst vor meiner Reaktion?" Sein Tonfall ist schon fast etwas neckisch und ich lege mich neben ihn. Es ist schön, den Himmel mal aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Ich zögere mit meiner Antwort. Angst ist das falsche Wort, aber aufgeregt war ich auf jeden Fall. Ich kenne Kalle verhältnismäßig kurz, aber im Gegensatz zu unserem gemeinsamen Kumpel Merlin oder zu anderen aus meiner Clique vertraue ich ihm am meisten. Trotzdem war ich nervös, wie seine Reaktion sein würde. Aber meine Aufregung war glücklicherweise völlig unbegründet.

„Ich weiß auch nicht", sage ich deshalb und betrachte eine vorbeiziehende Wolke, die wie ein Piratenschiff ausschaut. „Wahrscheinlich war ich mir selbst einfach unsicher, ob ich tatsächlich lesbisch bin." Kalle nickt und zeigt auf eine andere Wolke, die in seinen Augen wie eine Schnecke ausschaut. Ich finde allerdings, sie hat mehr Ähnlichkeiten mit einer Schildkröte.

Wir diskutieren eine Weile darüber und reden dann über Schule, nur um zu bemerken, dass wir zu spät zum Nachmittagsunterricht kommen würden. „Jetzt bringt es eh nichts mehr, in den Unterricht zu gehen", sage ich und bleibe entspannt im Gras liegen, während Kalle hektisch seine Bierflasche einpackt. Ich weiß bis heute nicht, warum er seine leeren Flaschen nicht einfach stehen lässt, wie wir anderen auch. Er sagt immer, er brauche das Pfand, aber eigentlich fehlte es seiner Familie nicht an Geld.

Kalle verdreht genervt die Augen, aber eigentlich hasst er Schule genauso sehr, wie wir anderen auch. „Also gut", gibt er sich geschlagen, „wir nehmen ja sowieso jedes Jahr Thanksgiving durch. Außerdem kann ich da eh nicht mitreden." Er lässt seinen Rucksack fallen und setzt sich wieder zurück zu mir ins Gras. Ich stütze mich auf die Ellenbogen um in sehen zu können und lehne mich dann an ihn, weil es anders zu anstrengend für mich ist.

„Hat wohl seine Vorteile, nicht aus Amerika zu kommen." Ich lächle Kalle an und rupfe ein bisschen Gras aus. „Glaub mir, es ist jedes Jahr dasselbe. Meine Familie kommt zu Besuch, es wird über oberflächliche Dinge geredet und der ganze Tag endet dann in Streit. Nichts besonderes also."

Kalle grinst mich an. „Wahrscheinlich ist es gar nicht so schlimm, wie du erzählst. Aber gibt es nicht leckeres Essen?" Vielleicht hat Kalle recht. Vielleicht übertreibe ich mal wieder, denn wenn ich ehrlich bin tue ich das leider öfter. Aber ganz sicher nicht in diesem Fall. Thanksgiving ist und bleibt mein realer Albtraum. „Das Essen ist aber auch das einzig gute an dem Tag", grummel ich deshalb.

Wir genießen einen Moment lang einfach nur die idyllische Stimmung, die hier im Park herrscht. Hier, im hinteren Teil der Anlage ist so gut wie nie etwas los, denn in den Siebzigern kam das Gerücht auf, hier würden sich nur Kleinkriminelle aufhalten. Und ja, es gibt auch hin und wieder den ein oder anderen Zwischenfall, aber im Allgemeinen ist der Teil des Parks genauso schön wie der Rest auch.

Mit einem Lächeln im Gesicht beobachte ich eine Hummel, die brummend durch die Luft fliegt. Mich haben diese kleinen Tierchen schon immer fasziniert und ich wäre so gern auch einmal eine Hummel. Dann könnte ich fliegen und würde mal alles in einer anderen Perspektive sehen. Ich wäre frei.

Plötzlich beginnt das Handy von Kalle zu klingeln und reißt mich aus meinen Gedanken. „Hallo?", nuschelt er und stellt es schließlich auf laut, damit ich mithören kann. „Hi", hören wir die rauchige Stimme von Artemis, „was geht?"

„El und ich sind im Park. Bei dir so?" Ich schüttele belustigt den Kopf. Es gibt nicht langweiligeres als Smalltalk zwischen Artemis und Kalle. Ich kenne sie schon seit der Junior High School, doch Kalle kennt Artemis erst seit wenigen Monaten und ich glaube, sie schüchtert ihn mit ihrer wilden Art manchmal ein.

„Ich soll euch von Merlin ausrichten, dass so 'n Kumpel von ihm 'ne Party schmeißt und er euch einlädt. Merlin hat bloß sein Handy verlegt und ruft deswegen nicht persönlich an. Ich schick euch die Adresse." Ihre Stimme hört sich schon fast gelangweilt an, doch ich kann es ihr nicht verübeln. Die Chance, dass Merlin mal weiß, wo sein Handy ist, ist sehr gering.

Wir verabschieden uns von Artemis und versprechen zu der Party zu kommen. „Und, wirst du's ihnen sagen?" Fragend schaut mich Kalle an. Ich vertraue meinen Freunden und ich weiß nicht, wie lange ich es noch aushalten werde, meine Freunde anzulügen.

„Ja. Ja, das werde ich", antworte ich ihm deshalb entschlossen, auch wenn ich eher unsicher rüberkomme. Kalle lächelt mich zuversichtlich an. „Du schaffst das. Ganz sicher."

und mittendrin sind wirWhere stories live. Discover now