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 Sabine Schild

Heute

Es ist vorbei. Es ist vorbei! Es ist wirklich zu Ende. Das sagte ich heute schon so oft. Dachte es so oft. Trotzdem war es für mich noch immer unbegreiflich. Die Finger glitten über den dicken Aktenstapel, als wollten sie zu mir sprechen und ich könnte sie nur durch Berührung verstehen.
„Ich kann es immer noch nicht glauben." Gemurmelte Worte, die nur an mich gerichtet waren, fanden auch an meinem Chef Dörge Anklang.
„Tun Sie es, Frau Schild. Ihr Team hat grandiose Arbeit geleistet." Sein Lob war aufrichtig, das wusste ich, seine emotionalen Worte vorhin auf der Pressekonferenz bewiesen dies. Trotzdem versetzte es mir ein Stich ins Herz. All die leeren Plätze, über die mein Blick streifte, all die Verluste. In diesem Raum hier verbrachten wir Nächte. Stritten, debattiert, weinten, lachten. Manchmal nahmen wir tagelang nur Fertiggerichte und Kaffee zu uns. Jetzt war es endlich vorbei. Müsste ich dann nicht glücklicher sein? Mich ruhiger fühlen? Gelassener sein? Die Sehnsucht zur Entspannung in mir tragen? Als wir heute Morgen unserem Serienkiller endlich die Handschellen anbringen konnten, war ich es auch. Ich weinte, Minuten lang, empfand die vollendende Zufriedenheit. All das Leid zahlte sich damit aus. Einzig für diesen Moment standen wir all das durch. Wo war diese Zufriedenheit hin? Sie versteckte sich zwischen Unsicherheit und Zweifel. Es fehlt irgendetwas. Ein Detail.
„Frau Schild?" Ich zuckte zusammen und erhob mein Kopf. Herr Dörge stierte mich durch seine Panto-Brille an. Sorge formte sich auf seiner Stirn, ließ ihn älter wirken als er ohne hin schon war. „Alles okay mit Ihnen?" Ein dezentes Nicken meinerseits, während ich ihn dabei beobachte, wie er sich von mir abwand um seine Jacke von der Garderobe zunehmen.
„Es ist nur... ich kann es nicht glauben, dass es nun wirklich vorbei sein soll. Einfach so. Es ist als... Ich fühle mich einfach so leer." Gestand ich ausschweifender. Es entstand sein väterliches Lächeln voller Verständnis, bis tiefe Krähenfüße seine Augen umfassten.
„Sie haben wirklich viel Zeit in diesen Fall gesteckt. Es ist nur verständlich, dass es sich für Sie noch surreal anfühlt. Fahren Sie nach Hause, ruhen Sie sich aus und genießen Sie eine ruhige Nacht." Konnte das stimmen? Musste ich mich erst daran gewöhnen? Ich wollte es wirklich glauben, doch...
„Ich weiß nicht. Es ist irgendwie, als hätten wir etwas übersehen." Meine Finger nahmen mein Ohrläppchen zwischen sich und begannen es zu massieren. Das Lächeln schwand mäßig aus Herr Dröges Gesicht.
„Wie meinen Sie das?" Ich wusste, meine Worte mussten mit bedacht gewählt werden. Doch konnte ich nicht anders.
„Ich meine... Das alles sollte ein Kind angerichtet haben? Alleine?" Meine Hand präsentierte den sonst menschenleeren Raum und blieb an dem Sideboard stehen, an der noch immer Karten, Fotos und Wörter des Falls standen. Präsentierte so den Schaden und die Verluste. "Das kann ich... Es ist so absurd."
„Das Kind ist schlau. Sie haben das psychologische Gutachten gelesen. Ein IQ von 130 in dem Alter ist außerordentlich. Dazu hatte er auch noch viel Glück und genoss die Unscheinbarkeit eines Kindes." Mein Kopf machte eine zustimmende Gestik...
„Gehen Sie nach Hause." Drängte er mich weiter. „Ich werde jedenfalls jetzt mit meiner Frau gemütlich zum Abendessen und nach ein oder zwei Flaschen unseres teuersten Weins den besten Sex seit fünfunddreißig Jahre Ehe haben." Das war zu viel des guten und auch ihm entging nicht mein angewidertes Gesicht, daher er mich frech angrinste. Von dem Schmerz, der dabei einherging, konnte er allerdings nichts wissen.
„Bis Morgen, Frau Schild."
„Bis Morgen..." Er wartet nicht einmal meine vollständige Verabschiedung ab. Fassungslos blickte ich noch einige Sekunden länger auf die geschlossene Tür, bis ich dann doch für einen Augenblick unbeschwert lächeln musste. Seine direkte Art sollte niemanden mehr überraschen. Dann widmete ich mich wieder dem Aktenstapel zu. Irgendwas... nur was? Ich öffnete die erste und wurde direkt an jenen Aprilabend erinnert, an dem alles beginnen sollte.

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Das frische Blut sickerte in die Erde, bedeckte das Gras der Weide. Im Schein des Mondes, der Sterne und der beiden Taschenlampen wirkte es, als würden die drei toten Kühe, direkt über einem Loch ins Nichts schweben. Das Loch zu ihrer eigenen Hölle. Ich versuchte meine Vorstellungen zu verbannen darüber, was für höllische Qualen die Tiere durchleben mussten. Welcher Dämon dazu imstande war, ihnen ihre Euter aufzuschneiden. Nein. Aufgeschnitten war weit davon entfernt zu dem, was ich sah. Sie wurden zerfetzt. Als hätte jemand... oder etwas, ein stumpfes Messer genommen und immer wieder zum Schneiden angesetzt. Schützend hielt ich mir die Hände vor dem Bauch. Eine Angewohnheit, die in den letzten Wochen immer häufiger auftauchte und so selbstverständlich wurde wie das Atmen, was niemand hinterfragte. Eine kalte Brise, wehte mir ins Gesicht und damit den penetranten Geruch von Scheiße, Pisse und rostiges Metall. Nur knapp schaffte ich es, mir ein Würgen zu unterdrücken und mich somit vor der Scham gegenüber meines Kollegen Olaf Feinberg zu bewahren. Immer wieder kam frisches Blut aus den Eutern. Langsam. Portionsweise. Als würde der Körper der Kühe auch noch das letzte Blut in sich herausdrücken wollen. So wie ich heute Morgen, die letzte Zahnpasta aus der Tube quetschte. Es war einfach nur...
„Eklig." Meine Wortwahl wäre zwar auf abartig und pervers gefallen, doch stimmte ich meinem Kollegen in einer stummen Geste zu. Es sagte mir mehr als Worte es tun könnten, dass er ebenfalls noch auf das Bild vor uns runterblickte.
„Wie glaubst du, hat er das angestellt, Sabine?" Ich zog eine Augenbraue hoch.
„Er?"
„Ja, der Täter... oder die Täterin." Olaf klang beherrscht. Einer der besten Eigenschaften an ihm. Sie färbte ab und beruhigte mich jedes Mal. Auch, wenn ich sonst nie so empfindlich reagierte. Mich sonst nie so fühlte, als würde mir jeden Moment das Essen der letzten Tage raus kommen.
„Du denkst wirklich, es war ein Mensch?" Selbige Annahme hatte ich zwar auch, aber wollte ich all seine Meinungen und Gedanken dazu hören.
„Na ja, ja. Ich hoffe es zumindest. Ein Tier, das so was bewerkstelligt, wäre mir unheimlicher." Dem konnte ich nur zustimmen. Ein Mensch ließe sich wenigstens festnehmen.
„Und wenn es doch ein Tier war?" Olaf pustete stark Luft aus, seine Art, um niemals zu sagen. Ich wartete darauf, ihn weiter sprechen zuhören, während ich mit den Füßen abwechselnd auftrat. Unter anderen Umständen wäre es durchaus eine angenehme Aprilnacht gewesen. Doch es war frisch, wir standen auf einer Weide, auf der sich der nächtliche Tau auf dem Gras absetzte und waren dem Wind schutzlos ausgesetzt. Dann sprach Olaf weiter.
„Nun ich meine. Kühe sind Fluchttiere. Bei einem Jagdtier, hätten sie augenblicklich die Flucht ergriffen, sich gewehrt und sicherlich Lärm gemacht. Gegenüber Menschen sind sie zutraulicher... treu doof." Er hatte recht, definitiv, aber eins ergab dabei keinen Sinn.
„Und wie? So wie es aussieht, ist die einzige Verletzung an den Eutern... die am Bauch hängen. Es ist keine Stelle, an der ein Mensch mal eben so ran kommt. Und bei aller Zutraulichkeit, aber ich denke nicht, dass die Kühe sich bereitwillig aufschneiden lassen. Ein Mensch müsste enorme Verletzungen dabei erlitten haben. Für einen Fuchs oder so was wäre es einfacher gewesen." Jetzt nahm ich die linke Hand vom Bauch, um mit ihr an meinem Ohrläppchen zu spielen. Es machte kein Sinn. Auch wenn ich derselben Meinung war wie Olaf und es auch so aussah... wie?
„Ahhh, wie auch immer. Wir können hier noch ewig rumstehen und darüber grübeln, ohne Gutachten nützt es nichts. Ruf du die Zentrale an, ich gucke in der Zeit, ob es noch weitere Spuren gibt."
„Wie du willst... Chef." sagte ich, in einem herablassenden Ton und betonte dabei das Chef besonders. Auch wenn es dunkel war, konnte ich darauf wetten, Olaf verlor gerade ein wenig an Farbe im Gesicht.
„Tut mir leid, Chefin." Ich schnaubte amüsiert und zufrieden, während ich das Handy raus nahm. Eigentlich waren mir Ränge komplett egal. Zum Gehalt gab es kaum einen Unterschied, ich schlief genauso wenig wie jeder andere und die Aufgaben waren sich ähnlich. Nur trug ich mehr Verantwortung und musste mich häufiger mit Papierkram beschäftigen. Nicht selten bereute ich diese Entscheidung.
Nach einem kurzen Telefonat, dessen Inhalt die Sachlage und die Anforderung weiterer Maßnahmen hatte, legte ich auf. Wir waren hier vorerst fertig und so machten wir uns auf den Weg über die Weide, zurück zum Zauntor. Der angesammelte Tau, drang durch meine Schuhe und wie so oft in diesen Momenten, setzte ich neue Schuhe kaufen auf meine gedankliche-Liste. Eine schier endlose Liste an all unerledigten Kram. Meine Beine fühlten sich mit jedem Schritt steif an, als stecke in ihnen eine Metallstange. Zusätzlich zu den tauben Zehen und Finger, bemerkte ich, wie kalt mir in der kurzen Zeit wirklich wurde.
„Dennoch hat es sie besser getroffen als andere." Ich brauchte einen Augenblick um zu realisieren, er sprach von den Kühen.
„Ach ja? Wieso?" Ich schielte zu Olaf, als sei er verrückt geworden. Was konnte schlimmer sein, als die Euter zerfetzt zu bekommen?
„Sie hätten als Steak in die Hände von Claudia fallen können" Es folgte ein verächtliches Schnauben meinerseits.
„Im Ernst jetzt? Deine Frau kann gut Kochen."
„Ja, das kann sie. Nur weiß sie kein Steak zuzubereiten." Das sah ich etwas anderes. Allerdings musste ich auch gestehen, hatte ich mir bisher keine Gedanken darüber gemacht, wer von ihnen, das Fleisch immer zubereitete. Auch, wenn es im Endeffekt keine Rolle spielte, das Gespräch lenkte mich ein wenig von der Kälte ab, weshalb ich weiter diskutierte. Am Zaun sammelte sich unverändert die Familie Stadler. Herr Stadler, der uns gerufen hatte, unterbrach das Gespräch mit seiner Frau, sobald wir in Hörweite waren. Da sie alle auf dem Sandpfad standen, der besser beleuchtet war, als die nächtliche Fußgängerzone in der Innenstadt, waren ihre Gesichter deutlich zu erkennen. Die Stirne von Frau und Herr Stadler waren in Sorge gelegt. Alle Augen klein, müde, gerötet und doch voller Aufmerksamkeit. Den gestoppten Gestiken nach zu urteilen führten sie eben noch ein hitziges Gespräch darüber, was sie nun tun sollten. Für die Bauernfamilie war dieser Verlust gewiss eine starke Einbüße ihres Lebensunterhaltes. Ich empfand ehrlich Mitleid mit ihnen, auch wenn ich mir gleichzeitig sicher war, sie würden nicht hungern. Die beiden Kinder, ein Junge und ein Mädchen, sahen weniger beeindruckt aus. Zu unserer Ankunft erfuhren Olaf und ich, das Alter der Kinder. Der Junge war vierzehn. Ein recht hässlicher Junge, wenn ich mir das Urteil erlauben durfte. Er hatte blondes Haar, so hell, sie wirkten beinahe durchsichtig, vor allem, weil sie dazu hauch dünn, waren. Auf seiner Kopfhaut, die man deutlich sehen konnte, waren einige alte Wunden, manche noch stark verkrustet. Sein Gesicht war voller Sommersprossen und Leberflecken, die - da war ich mir sicher - sich auf seinem Körper weiter zogen. Der Oberkörper des Jungen war stark nach vorne gedrückt, auch wenn ich kein Arzt war, konnte ich sehen, dass er eine starke S-Line hatte. Die blauen Augen und das Lächeln des Jungen waren das Schönste an ihm. Das Mädchen war elf und im Vergleich zu ihrem Bruder wunderschön. So müde sie auch wirkte, waren ihre langen, dunkelblonde Haare ordentlich geflochten. Sie stand aufrecht, wie eine Ballerina. Wie ihr Bruder hatte sie ebenfalls Sommersprossen aufzuweisen, die an ihr aber niedlich wirkten. Beide standen in kompletter Gelassenheit da, was mich verunsicherte. Immerhin waren sie alt genug, um zu verstehen, was hier gerade los war. Allerdings
war bekannt, die Familie tat viel selbst und belieferte die regionalen Lebensmittelgeschäfte. Der Tod war also sowas wie ein Freund für sie und ein täglicher Bestand. Furchtbar, wie ich fand. Kinder sollten nicht mit dem Tod und Töten konfrontiert sein, weder von Mensch noch Tier. Nach einer kurzen Zusammenfassung wie wir nun weiter fort fuhren - was eine lange Nacht versprach - bat Olaf die Familie noch ein paar weitere Fragen zu beantworten. Danach könnten sie schlafen gehen, auf der Weide würden sie nicht gebraucht werden. Herr und Frau Stadler stimmten dem bei, weigerten sich aber gegen den Schlaf. Wie könnten sie schlafen, wenn ihre Farm vom Unheil aufgesucht wurde, war die Begründung.
Bisher dachte ich immer, es wäre ein bitteres Klischee. Bauern, die fanatische Religiöse oder streng abergläubisch sind. In dem Fall schien dies aber zutreffend zu sein. Natürlich akzeptierten Olaf und ich ihre Einwende. Immerhin befanden wir uns auf dem Grundstück der Stadlers, da konnten sie tun und lassen, was sie wollten. Solange sie vom Tatort fern blieben. Frau Stader lud uns ein, hereinzukommen. Drinnen würde es sich besser reden und warten lassen. Da die Nacht keine Rücksicht auf mich nahm, sträubten wir uns auch nicht gegen die Einladung, war ihr sogar dankbar.

a case for madnessDove le storie prendono vita. Scoprilo ora