Abendessen des Grauens

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„Lady Lisa?", hakte ich nach, als Leichter und ich in der Limousine nach Hause saßen. „Sie ist eine waschechte Lady. Ihr ganzes Auftreten und ihr Benehmen sind so elegant wie auch modern, dass sie diesen Titel verdient hat.", erklärte Leichter und klang merkwürdig. Ja fast ehrfürchtig. „Das klingt, als hätten Sie sich ein wenig verguckt. Darf ich daran erinnern, dass sie gerade mal Sechszehn Jahre alt ist. Ein wenig jung für Sie. Außerdem dachte ich immer, Sie wären schon verheiratet.", erklärte ich und fühlte mich merkwürdig. Wenn selbst Leichter aufgefallen war, dass sie so besonders war, dann bestimmt auch anderen Jungs. Die KAA war ja keine reine Mädchenschule. Bestimmt hatte sie einen Freund. Aber warum interessierte mich das? Ich war doch sonst nicht so, was Mädchen anging. Allerdings hatte ich Lisa auch besonders betrachtet, was mir zuvor noch nie passiert war. Aber bei ihr wollte ich jede Einzelheit sehen und stellte mir sogar vor, wie es wäre, sie in meine Arme zu nehmen und nicht mehr los zu lassen. So ganz untypisch für mich.

„Ja, ich weiß. Ich habe ja auch nicht von mir geredet. Ihr wart es schließlich, der ihr einen Handkuss gegeben habt.", meinte Leichter. Grummelnd lies ich mich in den Sitz sinken und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich nahm mir vor, diese Begegnung ganz schnell zu vergessen, denn sonst würde ich nur noch an sie denken und an nichts anderes mehr. Und das konnte ich mir in der jetzigen Situation absolut nicht leisten. Allerdings musste ich am Abend noch das Abendessen hinter mich bringen. Und danach würde ich sie vergessen, so gut es ging.

Pünktlich um acht Uhr stand Tiffany in der Eingangshalle und ihr Gezeter war in der gesamten Villa zu hören. „Seto, wer ist das?", fragte Mokuba, als wir auf der oberen Balustrade standen. „Das ist eine der reichen Schülerinnen an der KAA. Und ihr Vater ist ein Geschäftspartner unseres Vaters.", erklärte ich leise. „Und wieso legt die dann so ein Verhalten an den Tag?", fragte Mokuba. „Weil sie wohl kein Benehmen gelernt hat, augenscheinlich.", witzelte ich. „Merkt man.", ergänzte mein kleiner Bruder und für einen kurzen Moment sahen wir uns an und es war wie vorher. Als unsere Eltern noch lebten und wir einfach nur glücklich waren. Doch der Ruf unserer Stiefvaters zerstörte diesen kurzen Moment. „Na dann gehen wir mal los.", meinte ich und sah die Katastrophe vor mir. Und es kam sogar noch schlimmer. Diese Tiffany lies sich in einer Tour über ihre Klassenkameradin aus, ohne ihren Namen zu nennen. Doch Leichter und mir war klar, wen sie meinte. „Und dann besitzt diese Person auch noch die Frechheit mit etwas zu Essen zur Anprobe zu erscheinen.", erklärte sie und hatte selbst noch nicht ein bisschen des leckeren Essens angerührt.

„Und wieso warst du zur Anprobe, wenn du doch die Hauptrolle verloren hast?", fragte unser Stiefvater. „Weil ich jetzt deren Kostüme als Strafarbeit umändern darf.", moserte Tiffany weiter. „Gozaburo. Das musst du unbedingt umändern. Meine Tochter hat sich nichts zu Schulden kommen lassen und soll für das Verhalten einer Stipendiatin bestraft werden. Wenn du willst, dass ich deiner Schule weiter Geld spende, dann kümmerst du dich um das Problem.", verlangte nun Tiffanys Vater. Mir jedoch gefiel der Blick gar nicht, den sie gerade drauf hatte. Kein Wunder, dass Lisa sich nicht weiter über Tiffany äußern wollte. Sie schien am längeren Hebel zu sitzen, aber nur weil ihr Vater Geld hatte. „Und was schlägst du vor, dass ich tue? Ich kenne nicht einen Sachverhalt, da ich heute nicht dabei war. Mein Sohn war anwesend. Vielleicht kann er Licht ins Dunkel bringen.", meinte mein Stiefvater an mich gewandt. Und jetzt wusste ich, dass ich in der Klemme saß. Verteidigte ich Lisa, hatte ich noch mehr Minuspunkte gesammelt. Verteidigte ich aber unseren Gast, würde ich als Lügner dastehen und ebenfalls Minuspunkte sammeln. Es war einfach zum Verrückt werden.

„Es tut mir Leid, Sie enttäuschen zu müssen. Aber Tiffany hat die Strafe verdient bekommen. Als ich zur Chorprobe eintraf, war von ihr nichts zu sehen. Und laut der Aussage des Musiklehrers schien das in letzter Zeit oft der Fall gewesen zu sein.", erklärte ich und warf Leichter einen Seitenblick zu. „Dies kann ich bestätigen. Ein Anruf beim Direktor wird die Aussage von Master Seto ebenfalls bestätigen.", ergänzte er. „Siehst du, mein alter Freund. Ich muss gar nicht intervenieren. Und eine kleine Strafe hat noch nie jemanden geschadet.", meinte mein Stiefvater mit einem Seitenblick auf mich. Ich wusste ganz genau, auf welche Situationen er anspielte und schluckte meinen Ärger herunter. Ich würde mein Gesicht nicht vor Fremden verlieren. „Aber um deinen Ärger ein wenig zu lindern, habe ich im Laufe des Tages meinen Berater losgeschickt und ein kleines Geschenk organisiert.", meinte ich und bedeutete nun Leichter, das Geschenk zu überreichen. Während sich Tiffany reichlich überschwänglich über die Ohrringe freute, konnte ich an nichts anderes denken, als wenn Lisa diese getragen hätte. Doch wie sollte ich ein Geschenk an sie überhaupt rechtfertigen?

Nachdem endlich dieses Horrorabendessen fertig war, ging mein Bruder zu seiner üblichen Zeit ins Bett, während ich noch einmal in die Bibliothek ging. Ich hatte mir angewöhnt, mir abends noch ein Buch zu holen. Es war besser als noch weiteren sinnlosen Studien nachzugehen. Und gegen das Lesen hatte mein Stiefvater noch nie etwas gehabt. Ganz im Gegenteil. Er förderte dies mit allen Kräften, denn aus mir sollte ja ein kultivierter Mann werden. Und was eignete sich besser dafür, als viel englische Literatur gelesen zu haben.

„So belesen?", fragte mich eine weibliche Stimme und riss mich damit aus meinen Gedanken. „Hast du ein Problem damit? Dann renn gleich zu deinem Vater und erspare mir dein Gezeter. Ich leg mich dann doch lieber mit ihm, als mit dir an.", meinte ich und suchte mir in aller Ruhe ein Buch aus. „Mein Lisa-Problem wird sich sowieso bald von selbst erledigen. Diese dumme Pute ist doch noch nie wirklich aufgetreten. Willst du wirklich, dass die Aufführung ein Schlamassel aufgrund deiner Fehlentscheidung wird? Die gesamte High-Society wird anwesend sein bei der Aufführung und wenn es schief geht, wird jeder wissen, wer dafür verantwortlich war.", meinte sie und lehnte sich neben mich ans Bücherregal. Dabei achtete sie darauf, dass ich ja genug durch ihren Ausschnitt sehen konnte, wenn ich denn darauf geachtet hätte.
„Ich stehe zu meinen Entscheidungen und du solltest die Meinungen anderer akzeptieren.", meinte ich, nahm das erstbeste Buch heraus und wollte die Bibliothek verlassen. Doch da krallten sich ihre Finger an meinen Unterarm. „Wir sollten die Zeit, die wir alleine sind, gut nutzen.", gurrte sie. „Nutzen?", fragte ich nach. „Jetzt stell dich mal nicht so an, Seto. Ein Mann und eine Frau. Alleine... Eigentlich hatte ich das für heute Vormittag schon geplant, aber da musste dieses humpelnde Miststück mir ja auch dazwischen funken.", zickte sie rum. „Für dich bin ich Kaiba, verstanden! Meinen Vornamen zu nennen erlaube ich nur ganz bestimmten Personen. Ich bin hier weder mit dir noch sonst was. Ich werde jetzt ALLEINE in mein Zimmer gehen. Und Lisa hat dir nicht dazwischen gefunkt! Ich habe selbst entschieden wer mich durch die Schule führt. Und wenn du mir noch einmal quer kommst oder du Lisa auf irgendeiner Weise das Leben zur Hölle machst, dann wirst du erleben, wie NETT ich sein kann. Und mein Vater ist da noch harmlos dagegen.", machte ich eine klare Ansage. Dann lies ich Tiffany stehen und verließ die Bibliothek. Dabei schwor ich mir, dieses Gezicke zu vergessen. Und ich verbot es mir, an sie denken. Auch wenn die Gedanken an sie angenehm waren, so hatte ich doch wichtigeres im Kopf.

Das Herz des Seto KaibasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt