10 Sekunden

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Der Himmel war grau und das Meer stürmisch. Das Wetter passte zu ihren Gefühlen, dunkel und düster. Als würde es nie mehr heller werden. Auch nicht in ihren Gedanken. Gedankenverloren rieb sich Cassie den Verband an ihrem linken Handgelenk. Sie spürte ihre Schnitte dort wie beim ersten Mal, aber diesmal war es keine Erlösung. Es war eine Qual.
Cassie setzte sich auf den steinigen Boden und sah in die Ferne. Ihre Gedanken trieben umher, bis sie bei ihrer Mutter landeten. Ihre Mutter, die sich einen Dreck um die scherte, der es egal war, was Cassie mit ihrem Leben anfing und die sich dem Alkohol hingab. Cassie verabscheute sie. Warum hatte ihre Mutter Cassie überhaupt bekommen, wenn sie ihre Tochter nicht wertschätzte?
Und dann ihr Vater. Er war ja noch nie dagewesene, hatte ihre Mutter verlassen, als Cassie noch ein Baby gewesen war. Für Cassie war es einfach nur irgendein Mann, der sie eben gezeugt hatte.
Und doch, das alles, diese Alleinsein, das verletzte. Das schmerzte. Ihre Brust zog sich zusammen und Tränen sammelten sich in ihren Augen. Nein, sie würde jetzt nicht weinen. Sie würde sich jetzt nicht die Blöße geben und heulen, nur weil sie alleine war. Ihrem Mund entkam ein Schluchzer, aber das blonde Mädchen verdeckte ihren Mund mit ihrer Hand. Nicht. Weinen.
Ich bin nicht schwach, beschwor Cassie sich immer wieder.
Ihre Hand fuhr durch ihre Haare und sie lächelte traurig. Sie musste daran denken, was sie auf einer Website im Internet gelesen hatte: "Vielleicht ist Leben nicht für jeden etwas."
Und irgendwie stimmte das, zumindest traf es auf sie zu. Sie schaffte das einfach nicht mehr. Sie konnte nicht mehr, sie war müde und ausgelaugt. Sie hatte keine Lust mehr. Wie sollte sie das alles schaffen? Es war wie ein riesiger Berg, ein Eisberg. Wie in Titanic und sie würde an diesem Eisberg untergehen. Zu Boden sinken und vergessen werden. Na, ihrer Mutter würde es wahrscheinlich sogar recht sein.
Cassie stand auf, als ein starker Wind ihre Haare zerzauste und sie musste daran denken, wie sie einmal hier her gekommen war. Hier, an ihrem Rückzugsort, an ihrem Ort der Stille und Geborgenheit.
Es ist Sommer. Cassie hört wie Vögel zwitschern und sie muss lachen. Zum ersten Mal nach so langer Zeit entfährt ihr ein wahres Lachen und es erreicht ihre Augen. Sie ist glücklich. Ihre Mutter ist nicht zuhause und kann sie somit nicht anschreien, ihre Mitschüler haben Sie heute ausnahmsweise einmal in Ruhe gelassen.
Es ist so schön hier. Die Sonne scheint warm auf sie herab und sanfter Wind kühlt das ansonsten warme Wetter. Das Meer kracht gegen die Küste und Cassie tretet einen Schritt näher an den Abgrund. Sie blickt hinab. Dunkelblaues, tiefes Wasser zieht sie in ihren Bann. Cassie hatte schon immer das Wasser geliebt. Eine innere Wärme erfüllt sie und sie setzt sich an den Rand und lässt die Beine baumeln. Angst hinunter zu fallen, hat sie nicht. Warum auch? Sie ist hier sicher. Bewusst verdrängt das Mädchen alle Gedanken und lässt nur noch das Sein zu. Sie denkt an nichts und doch an alles gleichzeitig. Im Moment quält sie nichts.

Cassie seufzte und schloss die Augen. Damals. Damals war alles noch nicht so schlimm gewesen, damals hatten ihre Mitschüler ihr noch nicht tote Insekten in den Spind getan oder ihr Schulzeug geklaut oder Ihre Kopf ins Toilettenwasser gedrückt und abgespült. Ein weiterer Schluchzer entfuhr Cassie. Ich darf nicht schwach sein, wiederholte sie in ihren Gedanken, aber es nützte nichts. Sie war es, sie war schwach und jeder wusste es. Ihre Mutter, ihre Mitschüler...
Das blonde Mädchen stand auf und trat auch an den Abgrund, wie an den Sommer vor zwei Jahren. Auch jetzt blickte sie hinab. Das Meer war wild und aufgewühlt und sie hatten keinen Zweifel daran, dass sie gegen die Felsen geschlagen und sterben würde, sollte sie springen. Wieder Schloss Cassie die Augen. Bilder von lachenden Mitschülern und ihrer wütenden Mutter kamen ihr in den Sinn. Immer schneller und verworrener, bis sie es nicht mehr aushielt und schrie. Ein einzelner, gellender Schrei entkam ihrem Mund. Es klang verzweifelt und einsam, fast wie das Geheul eines Wolfes, der den Mond anruft.
Cassies Brustkorb schien sich zu verengen und sie schnappte nach Luft. Immer wieder. Und jetzt ließ sie auch due Tränen zu. Kalte, salzige Spuren hinterließen die Tränen auf ihren Wangen.
Und da traf sie eine Entscheidung, Cassie würde springen. Sie konnte das einfach nicht mehr, wie sollte sie das ganze nur schaffen? Sie war alleine, vollkommen alleine. Sie hatte niemanden und niemand brauchte sie. Das war die leichteste Lösung und im salzigen Wasser zu sterben, war noch der beste Tod.
Cassie lächelte traurig. Bei 10 würde sie sich abstoßen und fallen. Oder fliegen, ihre Art daran zu denken.
10
Ein tiefer Atemzug.
9
Ausatmen.
8
Der Wind wehte ihre Haare nach hinten und ließ sie frei fühlen.
7
Wellen krachten laut gegen die Felsen.
6
Ein Schritt nach vorne.
5
An etwas denken, was sie mag. Wasser zum Beispiel oder Schwimmen.
4
Vorfreude auf das unbekannte, auf das Neue erfüllte Cassie und wärmte sie von innen heraus.
3
Noch ein Schritt nach vorne.
2
Ein Lächeln breitete sich auf Cassies Gesicht aus, ein ehrliches, wahres Lächeln.
1
Sie schloss die Augen.
0
Cassie sprang.

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