Kapitel 34 ~ Everything I didn't say.

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We're always runnin' away and we don't even stop to think about it. The world's in our hands. They don't need to understand."

Luke 

Alles hatte sich verändert in dem Moment, in dem sich unsere Lippen berührt hatten. Ihr zierlicher Körper, der so viel kälter als üblich war. Federleicht lag sie in meinen Armen. Mein Arm um ihre Hüfte, meine Hand an ihrer Wange, die nass von Tränen war. Von meinen Tränen. Ich spürte ihr Blut an meinen Fingern, den Druck, der durch Matts Versuche, die Wunden abzudrücken, auf mich übertragen wurde.
Erst als sich unsere Lippen berührten, merkte ich, wie sehr und wie lange sich alles in mir nach dieser Berührung gesehnt hatte. Ich spürte ihre Lippen, so weich und voll schmiegten sie sich gegen meine eigenen. Und ich hätte schwören können, in diesem Moment hatte die Welt still gestanden.
Bis der verzerrte Schrei meines Bruders in mein Bewusstsein kam. Mit einem Mal stand die Welt nicht mehr still. Nein, sie drehte sich viel zu schnell. Alles drohte aus den Fugen zu geraten, alles war ein einziges Chaos. Ich konnte mich nicht von Blaire lösen, der Schock hatte mich erstarren lassen.
Hatte ich sie umgebracht?
Eine einzelne Träne entfloh meinen geschlossenen Lidern, rollte langsam meine Wange herab, bis sie zwischen Blaires und meinen vereinigten Lippen endete.

Doch es war nicht der salzige Geschmack oder die Erkenntnis, dass was ich gerade tat, gar nicht fataler sein könnte, die mich meine Augen erschrocken aufreißen ließ.
Es war der plötzliche sanfte aber bestimmte Druck auf meinen Lippen, die Bewegung, die ich fühlen konnte. Es war Blaire. Blaire, die lebte. Die atmete. Die meinen Kuss erwiderte.
Ich sah in ihr Gesicht, das vor wenigen Sekunden noch so ruhig und still gewesen war. Ihre Lider begannen leicht zu flattern, ehe sie sie aufriss. Ihre Augen blickten für eine Sekunde erschrocken in meine, ehe sie sich schnell, aber dennoch sanft, von mir löste und nach Luft schnappte. Erneut begann sie zu husten, doch dieses Mal verließ kein weiteres Blut ihren Körper. Ich hielt sie noch immer in den Armen, konnte mich weder dazu bringen, sie loszulassen, noch damit aufzuhören, sie erschrocken anzustarren. Wenn sie nicht durch den Blutverlust gestorben war hätte sie mein Kuss umbringen müssen. Sie konnte nicht leben, das war ausgeschlossen.
Und doch saß sie lebendig vor mir. Sie war blass und schwach, konnte sich beinahe nicht alleine aufrecht halten, doch sie lebte. Sie atmete, sie blinzelte, sie hustete. Sie lebte.

Ich spürte Matts und Ryans verwirrte Blicke auf uns und wusste, dass ich nicht anders aussah. Doch anstatt mich zu fragen, wie das möglich war, schob ich alle die Zweifel und Verwirrung zur Seite und konzentrierte mich darauf, dass Blaire nicht tot war.
Erschöpft versuchte sie sich aufzurichten, fuhr aber schmerzhaft zusammen. Ein leises Wimmern entkam ihren Lippen, als sie vorsichtig über ihre Wunden vor. Erst jetzt schien sie zu verstehen, dass es vorbei war und dass sie lebend aus der ganzen Sache wieder heraus gekommen war.
Ich nahm ihre Hand in meine, lenkte so ihren Blick auf mich. „Blaire", flüsterte ich, doch meine Stimme brachte nicht mehr als ein leises Krächzen hervor. „Du lebst", versuchte ich es erneut und dieses Mal war ich etwas lauter. Sie nickte, erst langsam, dann immer schneller. Ich schloss meine Arme enger um sie, zog sie so nah an mich, wie ich konnte. „Oh Gott", murmelte ich. Meine Lippen berührten beim Sprechen beinahe ihr Ohr. „Ich hatte solche Angst um dich."
Kraftlos ließ sie ihren Kopf gegen meine Brust sinken, ihre Arme schlossen sich lose um meinen Unterkörper.
Ich wusste, dass es noch unendlich viele offene Fragen gab, dass so viel zu klären war und ich mir um unzähliges Sorgen machen sollte, doch in dem Moment, in dem ich Blaire in meinen Armen hielt und spüren konnte, wie ihr heißer Atem gegen meinen Nacken prellte, war alles andere unwichtig.

Erst ein leises Räuspern ließ uns wieder aufschauen. Ryan blickte uns noch immer fassungslos an, während Matt ein kleines Lächeln auf den Lippen hatte. „Ich möchte euch ja nur ungern stören, aber wir sollten schleunigst hier weg. Und Blaire sollte zu einem Arzt."
Ich nickte zustimmend und wollte, mit Blaire in meinen Armen, langsam aufstehen, als ihre leise Stimme ertönte. „Nein", gab sie kaum hörbar von sich. Das Sprechen schien sie unfassbar viel Kraft zu kosten, erneut hustete sie. „K-Kein Arzt. Nonna darf davon nichts erfahren, ich will nicht, dass sie -", sie wurde immer leiser, bis sie erschöpft nach Luft schnappte. Ich sah die Verzweiflung in ihrem Blick, verstand, dass sie nicht wollte, dass sich ihre Großmutter Sorgen um sie machte, aber dennoch versuchte ich, sie umzustimmen. Ich legte meine Hand an ihre Wange, fuhr mit dem Daumen leicht darüber. „Tyler hat dir einige wirklich tiefe Wunden zugefügt, die versorgt werden müssen. Was, wenn sich irgend etwas entzündet?" Obwohl sie kurz innehielt, schüttelte sie stur den Kopf. „Nein, ich schaffe das auch -"
„Ich kenne einen Arzt", warf Ryan ein. Die Unsicherheit in seiner Stimme verwirrte mich, doch ich ging nicht weiter darauf ein. Es war wichtiger, Blaire überreden zu können. „Ich bin mir sicher, er wird dich verarzten, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Und Fragen wird er auch keine stellen."
Matt und ich tauschen einen Blick aus, er schien die Unsicherheit ebenfalls bemerkt zu haben und fragte: „Und du bist dir sicher, dass das ein vertrauenswürdiger Arzt ist?"
Ryan zog überrascht eine Augenbraue hoch, als wäre er nie auf diese Frage gekommen. „Natürlich."
Ich stand mit Blaire in meinen Armen auf und setzte sie dann vorsichtig ab, zog sie aber so zu mir, dass sie sich an mich lehnen konnte. „Wieso klingst du dann so wenig überzeugt von deiner eigenen Idee?" Misstrauisch sah ich zu, wie Ryan sich verlegen über den Nacken fuhr. „Nein, er ist ein guter Arzt, wirklich. Es ist nur, er ist ein Mensch und ich kenne ihn durch seine Tochter. Es ist kompliziert, aber — dafür ist jetzt keine Zeit. Lasst uns gehen, bevor uns noch irgend jemand mit der Leiche hier erwischt."
Bei dem Wort „Leiche" zuckte Blaire erschrocken zusammen, unsicher schaute sie sich um, bis sie an Tylers leblosen Körper hängen blieb. Sie zog zischend die Luft ein, schaffte es nicht, ihren Kopf abzuwenden. „Wir hatten keine Wahl", begann ich und drehte sie so, dass sie mich anschaute. „Eine Sekunde später und er hätte dich umgebracht. Das konnte ich nicht zulassen, verstehst du?" Sie nickte, doch war unnatürlich blass geworden. „Ich habe vorher nur noch nie eine Leiche gesehen und dann an einem Abend gleich zwei, ist ein bisschen -" Sie hielt inne, wusste selbst nicht, wie sie den Satz beenden sollte. „Zu viel?", fragte ich bitter. „Glaube mir, es tut mir so unglaublich leid. Es ist alles meine Schuld, ich wollte nicht -"
„Luke", unterbrach mich Matt, seine Stimme klang gehetzt. „Draußen wurde gerade eine Autotür zu geschlagen. Wir müssen hier weg, jetzt."
Ich schaute zu Blaire, die noch immer aussah, als könnte jeder Schritt ihr ihre letzte Kraft rauben. Ohne Umschweife hob ich sie auf meine Arme. Überrascht schlossen sich ihre Arme Halt suchend um meinen Hals. „Wir müssen uns beeilen und du bist vor wenigen Minuten erst noch ohnmächtig gewesen", erklärte ich ihr bereits im Gehen. Man sah ihr deutlich an, dass sie von der ganzen Situation überfordert war. Ich hatte sie in eine völlig neue Welt gezogen, voller Gefahren und Monster. Und der klägliche Versuch, sie dort wieder heraus zu bekommen, hätte nicht schlechter enden können. Ich musste sie beschützen, aber sie hatte recht. Das konnte ich nicht, wenn ich sie andauernd von mir weg stoß.

Es herrschte totale Stille in der großen Lagerhalle, auf jedes kleinste Geräusch achtend schlichen wir leise zum Ausgang. Wir wussten nicht, ob Tyler das alles alleine eingefädelt hatte oder ob irgendwelche Komplizen draußen warteten. Als wir jedoch die Tür erreichten und sie vorsichtig öffneten, war niemand zu sehen. Außer unserem und Tylers Auto war kein weiteres in der Nähe, allerdings brannte in dem kleinen Schuppen einige hundert Meter entfernt nun Licht. Die anderen schienen es ebenfalls zu bemerken, da sie ihre Schritte beschleunigten. Ryan war der Erste, der unser Auto erreichte. Er öffnete die Tür zu den Rücksitzen, ehe er sich mit Matt nach vorne setzte. Ich dankte ihm leise, bevor ich Blaire vorsichtig absetzte. Bemüht darum, das Lächeln, das ich ihr zuwarf, möglichst aufmunternd wirken zu lassen, schloss ich ihre Tür wieder und joggte einmal um das Auto herum. Ich war noch nicht einmal angeschnallt, als Matt schon Gas gab und mit einem Ruck aus der Parklücke zurück auf die schmale Straße fuhr. Ryan tippte bereits auf seinem Handy herum und wählte vermutlich gerade die Nummer des Arztes. Ich bekam von seinem Gespräch nicht viel mit, hörte nur einzelne Fetzen wie meine Adresse, woraus ich schloss, dass wir nicht zum Arzt fuhren, sondern er zu mir nach Hause kam. Meine Aufmerksamkeit gilt Blaire, die ihren Kopf erschöpft gegen das Fenster gelehnt hatte. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Gesichtszüge entspannt. Wäre nicht das ganze Blut an ihrer Kleidung und ihre Stirn leicht gerunzelt, sähe sie so friedlich aus, als würde sie erschöpft von einem langen Tag im Auto einschlafen.
Doch so war es nicht. Ich konzentrierte mich einzig darauf, ob ich ihren leisen Atem noch hören konnte. Die Angst, der Blutverlust wäre doch zu stark gewesen und sie würde ihre Augen nie wieder öffnen, ließ mich nicht los. Ich war so nah dran gewesen, sie zu verlieren, das durfte nicht noch einmal passieren. Und dafür würde ich alles geben.

Die Fahrt zu mir kam mir viel schneller vor, als die Hinfahrt. Überrascht blickte ich auf, als das Geräusch des Motors verstummte. Auch Blaire öffnete nun ihre Augen wieder und suchte nach dem Verschluss ihres Gurtes. Währenddessen stieg ich aus und öffnete ihre Tür. Helfend streckte ich ihr meine Hand entgegen, die sie dankbar ergriff. „Ich kann dich auch wieder tragen", bot ich an, doch Blaire schüttelte tapfer ihren Kopf. „Es geht schon."
Teilweise war ich beeindruckt, dass sie sich nach alle dem, was sie heute erlebt hatte, noch immer keine Schwäche zugestehen wollte, doch andererseits machte mir das nur noch mehr Sorgen. Ich wollte nicht, dass sie sich unnötig anstrengte und schlussendlich vielleicht sogar überanstrengte, weswegen ich ihr stützend einen Arm um die Taille legte, als wir langsam Ryan und Matt ins Haus folgten. Ich lotste sie in mein Wohnzimmer und bedeutete ihr, sich auf die Couch zu setzen. „Ich komme gleich wieder", murmelte ich, ehe ich sie auf die Wange küsste. Als ich das Zimmer verließ, hörte ich Ryan sagen, dass der Arzt jeden Moment kommen müsste. Ich wunderte mich nach wie vor darüber, wie er den Arzt kennen gelernt hatte und wollte wissen, wer dieses Mädchen war, doch ich beschloss, ihn ein anderes Mal danach zu fragen. In meinem Zimmer holte ich neue Kleider, damit Blaire aus ihren blutverschmierten Sachen heraus konnte. Auf dem Weg zurück, ging ich in der Küche vorbei und holte neben einer Flasche Wasser noch vier Gläser. Ich überreichte alles und ließ mich dann neben Blaire nieder. Ryan und Matt hatten sich auf die zwei Sessel neben der Couch gesetzt.

Es dauerte tatsächlich nicht lange, ehe es an der Tür klingelte. Der Arzt, der sich als Doktor Howell vorstellte, war Anfang fünfzig. Die wenigen Haare, die er hatte, waren streng nach hinten gekämmt, was sein markantes Gesicht und die große Nase betonten. Er lächelte höflich, doch sprach nicht viel. Stattdessen wandte er sich gleich Blaire zu. Er schaute sich einige Minuten still die Wunden an, ehe er zu niemand gezielten sagte: „Ich brauche eine Schüssel Wasser." Es dauerte einige Sekunden, in denen niemand sich rührte, ehe ich aufsprang und in der Küche seinem Wunsch nachging. Als ich zurück kam, hatte Doktor Howell mittlerweile seinen riesigen Koffer geöffnet. Mehrere Watte ähnliche Knäuel sowie eine Flasche Desinfektionsmittel und große Pflaster hatte er auf dem Tisch ausgebreitet. Während er Blaire verarztete, herrschte angespanntes Schweigen. Ich konnte meinen Blick nicht von ihren Wunden nehmen, konnte die Wut, die aufkam, nur schwer unterdrücken. Obwohl Tyler nicht mehr lebte, verspürte ich einen so unglaublichen Hass, der mich aufzufressen drohte. Mich erfüllte ein stechendes Gefühl der Reue, ihn nicht selbst umgebracht zu haben. Doch ich versuchte so gut wie möglich, meine Gedanken zu unterdrücken. Denn das Wichtigste war es jetzt, mich um Blaire zu kümmern. Egal wie sehr sie versuchte stark auszusehen, so etwas steckte man nicht so einfach weg. Ich wusste, dass sie unsägliche Angst hatte und genau diese wollte ich ihr nehmen. Ich wollte, dass sie wusste, dass ich sie nicht nur beschützen konnte, sondern auch würde.
„... spätestens jeden zweiten Tag den Verband wechseln. Das Desinfektionsmittel lasse ich dir hier. Und falls du nach zwei Wochen immer noch starke Schmerzen hast, musst du auf jeden Fall einen Arzt aufsuchen, verstanden?" Doktor Howell blickte Blaire streng an. Erst als sie nickte, packte er seine Sachen wieder zusammen. Als er sich verabschieden wollte, stand ich auf, um ihn zur Tür zu bringen. „Vielen Dank, Doktor", sagte ich ehrlich. Ein väterliches Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er meine Hand zum Abschied schüttelte. „Pass auf sie auf, Junge."
Ich nickte bestimmt, erwiderte dann sein Lächeln. „Versprochen."

Ich stand noch kurz an der Tür, bis das Auto aus meiner Sichtweite war. Als ich mich umdrehte, fuhr ich erschrocken zusammen. Ryan und Matt standen wenige Meter hinter mir und zogen sich gerade ihre Jacken über. „Ihr geht?", fragte ich etwas überrascht. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Ich habe mir gar keine Gedanken darüber gemacht, ob sie bleiben würden.
„Du hast den Arzt gehört, Blaire braucht viel Ruhe und Schlaf. Also lassen wir euch lieber alleine."
Ich nickte verstehend, ehe ich einen Schritt auf Ryan zu ging. „Danke", murmelte ich, als ich ihn in eine kurze Umarmung zog. „Ohne euch wäre sie jetzt tot."
„Immer zu deinen Diensten", grinste Ryan halb scherzend. Er klopfte mir noch einmal leicht auf die Schulter, bevor er das Haus verließ und mich mit Matt alleine ließ. Unsicher blickte ich ihn einen Moment an, bedankte mich dann aber auch bei ihm. Als er meine Umarmung erwiderte, flüsterte er: „Denk dran, Sophie würde es viel bedeuten, wenn du zur Beerdigung kommst. Sie hat dich geliebt." Ich antwortete nicht gleich, wusste nicht einmal, was ich sagen sollte. Es gab so viel, dass ich vorher klären musste. „Wir alle tun das", fügte er hinzu und verließ, ohne auf eine Antwort zu warten, ebenfalls das Haus. Ich blieb eine Weile an der Tür stehen, ließ mir seine Worte immer wieder durch den Kopf gehen. Doch konnte ich überhaupt auf einen Friedhof? Ich beschloss, mich morgen um all die Fragen zu kümmern und jetzt einzig für Blaire da zu sein.

„Ich zeige dir das Bad, da kannst du dich umziehen. Und dann kannst du schlafen, ja?"
Sie nickte erschöpft und stützte sich von der Couch hoch. Meine Arme schossen nach vorne und griffen um ihre Hüfte, als sie schwankend einen Schritt zur Seite trat. Ich hielt sie, bis sie ihr Gleichgewicht wieder gefunden hatte. Auf wackeligen Beinen brachte ich sie ins Badezimmer. „Kann ich dich wirklich alleine lassen? Nicht, dass dir irgendetwas passiert." Besorgt schaute ich ihr zu, wie sie leicht schwankend zum Waschbecken lief. Doch sie nickte zuversichtlich. „Ich schaffe das", versicherte sie mir. „Okay, ich bin im Zimmer gegenüber. Wenn irgend etwas ist, ruf nach mir, ja?"
Sobald Blaire nickte, schloss ich die Tür hinter mir und ging in mein eigenes Zimmer. Erschöpft ließ ich mich auf mein Bett fallen und vergrub mein Gesicht hinter meinen Händen. Ich konnte nicht fassen, was in den letzten vierundzwanzig alles Stunden passiert war. Nie wollte ich, dass Blaire jemals so leiden musste und dennoch war alles meine Schuld. Doch was war der größere Fehler gewesen? Sie überhaupt kennen zu lernen oder sie wieder weg zu stoßen? Zumindest ersteres konnte ich nicht mehr rückgängig machen, wieso sollte ich dann nicht das Beste daraus machen? Und das Beste war, bei Blaire zu bleiben. Denn verlieren konnte ich sie auf keinen Fall noch einmal. Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich nichts mehr so sehr bereut, wie Blaire gestern Abend weg zu schicken. Einen größeren Fehler hätte ich gar nicht machen können. Doch wie sollte es jetzt weiter gehen? Was würde passieren, wenn Rick von alle dem erfuhr? Und was passierte eigentlich mit Tylers Leiche? Und was war mit Matt? Ich wusste nicht, wann er die Stadt wieder verlassen würde, ob mein Vater hier war und was ich wegen Sophies Beerdigung machen sollte. Ich wusste ja nicht einmal, warum sie gestorben war. Und ganz zu schweigen von den anderen tausend Fragen, die durch meinen Kopf flogen. Und davon drehte sich der größte Teil um Blaire und unseren Kuss. Ich verstand es nicht, ich verstand rein gar nichts. Was war geschehen, dass sie noch lebte? Was, wenn wir uns wieder küssen würden und sie dann starb? Ich konnte sie nicht verlieren. Die Minuten, in denen ich dachte, sie verloren zu haben, waren schrecklich gewesen. Der Schmerz war so stechend gewesen, die Gefühle so überwältigend. Was war das, was sie mit mir angestellt hatte? All das, was sie in mir hervor ruf, hätte mir für immer verwehrt bleiben sollen. Noch nie hatte ich so etwas gefühlt. Noch nie, außer damals mit Amy. Ich erinnerte mich nach wie vor nur an einzelne Fetzen, konnte mir ihr Gesicht immer noch nicht ins Gedächtnis rufen, doch seit heute konnte ich alles, was ich damals gefühlt hatte, wieder spüren. Aber nicht, wenn ich an Amy dachte. Sondern wenn ich Blaire sah. Sie war es, der all meine Gefühle galten. Und noch nie hatte mir etwas so viel Angst und mich gleichzeitig dennoch so glücklich gemacht.

Mit einem leisen Knarren öffnete sich meine Zimmertür und Blaire kam langsam herein. Der Pullover, den sie trug, war ihr viel zu groß, er hing schlaff an ihren Schultern herunter und ließ sie noch schmaler wirken. Dass sie eher in sich zusammen gekauert lief, verstärkte nicht nur diesen Eindruck sondern auch meine Sorgen. Mit einem müden Lächeln klopfte ich auf das Bett neben mir. Sie setzte sich, doch blieb unsicher etwas weiter von mir entfernt. Ich breitete die Decke über ihr aus und legte dann meinen Arm um ihre Schulter. „Darf ich?", fragte ich vorsichtshalber. Sobald sie nickte, zog ich sie etwas enger zu mir, damit es für uns beide bequemer wurde. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll", gab ich leise zu. „Es tut mir so unglaublich leid. Ich wollte dich nicht in all das herein ziehen. Weil ich so Angst hatte, dass so etwas wie heute passiert, habe ich dich weg geschickt. Es war dumm von mir, ich hätte wissen müssen, dass ich das Falsche tat. Ich kann dich doch gar nicht beschützen, wenn du nicht bei mir bist." Ich schwieg kurz, ehe ich meinen Mut zusammen nahm und weiter sprach. „Aber das ist nicht der einzige Grund. Ich will, dass du bei mir bist. Ich kann dich nicht noch einmal verlieren." Das Lächeln, das sie mir schenkte, war völlig erschöpft, aber dennoch ließ es mir den Atem stocken. Um ein Haar hätte ich eben dieses Lächeln nie wieder sehen können und es wäre einzig und alleine meine Schuld gewesen.
Blaire setzte sich etwas auf, damit sie mich ansehen konnte, ehe sie zu sprechen begann. „Tyler sagte, es gebe eine Möglichkeit, wieder ein Mensch zu werden. Ist das wahr?"
Ich zuckte leicht mit den Schultern, da ich die Antwort auf die Frage selbst nicht wusste. Bis vor wenigen Stunden hatte ich es noch für völlig unmöglich gehalten. Doch jetzt war ich mir nicht mehr ganz so sicher. „Es gibt eine Sage unter den Cariads." Obwohl ich sie schon unzählige Male gehört hatte, bildete sich beim Sprechen ein Kloß in meinem Hals. Dieses Mal nahm ich die Geschichte völlig anders war, ernster und mit mehr Bedacht. Ich tat sie nicht wie immer sofort für Schwachsinn und als Lüge ab, dachte beim Erzählen immer wieder an meine Träume und an Amy zurück. Vielleicht war alles wahr, vielleicht gab es eine Möglichkeit. Und vielleicht hatte ich diese mit Blaire zusammen gefunden. „Ich habe nie daran geglaubt. Für mich waren es immer nur falsche Hoffnungen, die dadurch in einem geschürt wurden. Ich wollte davon nichts wissen. Aber jetzt — so langsam beginne ich, daran zu glauben. Denn seit du in meinem Leben bist, ist nichts mehr so wie vorher. Auf eine gute Weise."
Blaire lächelte, ehe sie sich ein Gähnen unterdrückte. Sie schien zu überlegen, ob sie ihre nächste Frage stellen sollte, entschied sich schlussendlich auch dafür. „Warum bin ich nicht gestorben? Ich meine, eigentlich hätte spätestens dein Kuss mich umbringen müssen, aber -" Sie ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen, wandte mit leicht geröteten Wangen ihr Gesicht ab.
„Ich weiß es nicht", gestand ich ihr. „Ich dachte, du wärst bereits — du hattest so viel Blut verloren und — dein Gesicht war so blass", verärgert darüber, dass ich nur Halbsätze zustande brachte, hielt ich kurz inne. „Ich verstehe ehrlich gesagt gar nichts. Und ich habe Angst", gab ich zu. „Angst, dich zu verletzen. Oder dass es nur eine Ausnahme war, dass du dennoch sterben könntest. Es gibt tausende Fragen, auf die ich keine Antwort weiß. Doch eines weiß ich ganz sicher. Dich weg zu schicken, war das Dümmste, das ich jemals gemacht habe. Und ich verspreche dir, ich werde nie wieder zulassen, dass du in solche Gefahr gelangst. Du musst mir glauben, ich wollte dich immer nur beschützen. Nur habe ich nicht gemerkt, dass ich dich so noch weiter in Gefahr gebracht habe." Ich sah, dass sie ihre Augen beinahe nicht mehr offen halten konnte, doch sie sprach dennoch. „Das heißt, ab jetzt gibt es wirklich keine Geheimnisse mehr?"
Ich lächelte sie an und verschränkte unsere Hände ineinander. „Keine Geheimnisse mehr."
Sie schloss ihre Augen und rutschte etwas herunter, um liegen zu können. Ihr Atem war innerhalb weniger Sekunden gleichmäßig, ihre Gesichtszüge völlig entspannt.
Es gab noch so viel, das wir zu klären hatten. So viele Fragen und ich wusste, dass sie noch immer Angst hatte. Aber für jetzt war alles gut, auch wenn morgen wieder die Realität über uns einstürzen würde. Ich legte meine Lippen leicht auf ihre Stirn, um sie nicht wieder aufzuwecken, und murmelte leise: „Versprochen."

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Hii xx

Ich wünsche euch allen einen schönen ersten Schultag morgen! Ich weiß, es wird schrecklich, aber macht das Beste daraus. :) xx

Über Kommentare und Votes würde ich mich wie immer riesig freuen! xx
Hier noch einmal ein Danke an die ganzen Kommentare beim letzten Kapitel! <3

Much love <3
Mrs Sparkle xx

Cursed.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt