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„Meine sehr geehrten Damen, nehmen Sie doch bitte Platz", sagte Kriminalhauptkommissar Plattenberg zu Nicole und mir und deutete auf die Stühle am Küchentisch. 

Nachdem der Rettungsdienst mit einem Streifenwagen im Schlepptau, den man wegen Verdachts auf Fremdeinwirkung wohl direkt mitgeschickt hatte, gekommen war, hatte man uns in das Schlafzimmer von Lauras Großmutter verbannt, weshalb wir gar nicht wussten, was nun mit Stefan war. Als wir ihn gefunden hatten, war er bewusstlos gewesen und hatte eine blutende Platzwunde am Kopf. In unmittelbarer Nähe hatte ein zerbrochener, weiß-blau verzierter Kerzenständer gelegen, womit man ihm höchstwahrscheinlich eine übergebraten hatte. Von dem Angreifer fehlte jede Spur, aber den hatten wir vorher schon weglaufen gehört. Natürlich war uns nichts anderes übrig geblieben, als einen Krankenwagen zu rufen, als wir Stefan nicht wach bekamen. Er kam erst zu sich, als der Notarzt eingetroffen war, ein deutliches Anzeichen für eine Gehirnerschütterung, wenn nicht sogar Schlimmeres. Das würde sich beim Röntgen zeigen.

Bald darauf waren auch die beiden, uns schon bekannten Kripobeamten aufgetaucht, die irgendwie von dem Notruf erfahren hatten und die Adresse in Zusammenhang mit Laura gebracht haben mussten. Sie schienen wirklich nicht dumm zu sein, auch wenn man es ihnen auf den ersten Blick nicht ansah. 

Nicole und ich setzten uns dicht nebeneinander an den Küchentisch. Der Kommissar holte sich ebenfalls einen Stuhl herbei, nahm uns gegenüber Platz und sah uns mit seinem üblichen, leicht mokanten Gesichtsausdruck an. Obwohl der Samstagabend bereits weit fortgeschritten war, sah seine Kleidung so piekfein und makellos aus, als hätte er sich gerade erst fertig gemacht. Heute trug er eine eher dezente Krawatte mit hellgrau-schwarzem Streifenmuster. Seine junge Kollegin postierte sich mit verschränkten Armen am Eingang zur Küche. Sie war zwar ein gutes Stück kleiner als Nicole und ich, aber ich war mir sicher, dass sie es locker mit uns beiden aufnehmen konnte, wenn wir es hätten darauf ankommen lassen. Das hatten wir jedoch nicht vor.

„Was ist mit Stefan?", fragte Nicole mit unnatürlich hoher Stimme. 

„Der hat sich wohl wieder ins Reich der Träume verabschiedet, aber keine Sorge, man kriegt ihn in der Uniklinik schon wieder fit", teilte Plattenberg uns mit und fuhr dann übergangslos fort:

„Ist Ihnen beiden Paragraph 244 StGB ein Begriff?"

Ohne zu antworten starrten wir ihn an.

„Ihr Bruder wird vermutlich wissen, was das bedeutet, Frau Lindner. Ich kläre Sie auf: Man nennt es auch Einbruch. Und wissen Sie noch etwas? Das Strafmaß dafür beträgt bis zu zehn Jahre Haft."

Er lächelte uns an und genoss diese Vorstellung offenbar ungemein.

„Ihr großes Glück ist aber, dass ich an diesem Samstag zufällig Dienst habe und, wie Frau Schillert Ihnen bestätigen wird, ein äußerst netter Mensch bin. Ich würde sogar beide Augen zudrücken und davon ausgehen, dass Sie hier nichts stehlen wollten und es sich nur um Hausfriedensbruch handelt, was ein Antragsdelikt ist, bei dem wir erst ermitteln, wenn Frau Geiger einen ausdrücklichen Strafantrag stellt. Vielleicht lässt sie sich davon überzeugen, nicht gegen die ehemaligen Freunde ihrer Tochter vorzugehen, die ja nur die gute Absicht hatten, den Mord an Laura aufzuklären. Aber es gibt eine Bedingung: Sie erzählen mir ganz genau, was Sie hier wollten, was hier passiert ist und was Sie sonst noch alles wissen. Andernfalls dürfen Sie sich auf einige Jahre mit Vollpension im Hotel JVA freuen. Na, ist das nicht eine gute Vereinbarung?"

Das musste alles irgendeinen gewaltigen Haken haben. Er konnte nicht plötzlich so entgegenkommend sein. Aber wir hatten keine Wahl und mussten uns darauf einlassen. Also nickten wir zustimmend.

„Ausgezeichnet! Also fangen wir mit den jüngsten Geschehnissen an. Ich gehe davon aus, Sie sind mit dem Ziel, Julias Tagebuch zu finden, in dieses Haus eingebrochen?"

Die Nacht im MaiWhere stories live. Discover now