[iv.] Bernsteinseele

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»Du siehst Dinge, die andere nicht sehen. Was siehst du?«

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Der alte Mann saß auf seiner Bank im Park.

Seelenruhig sah er der Natur bei ihrem Spaziergang durch die Zeit zu. Die Blätter segelten von den Bäumen, herbstliche Blätter in Gelb, Orange und Rot wie verbrennender Sommer. Kleine, vom Wind entfachte Feuerstrudel wirbelten über den Kiesweg.

Schon lange saß der Mann dort, ließ seine Gedanken im bernsteinfarbenen Fluss der Zeit treiben, dessen Strömung sich um ihn teilte wie um einen Felsen in der Brandung. Einen Felsen in der Zeit. Unberührt vom Vorbeirauschen der Welt.
Wie durch Glas sah der Mann Leben an sich vorbeiziehen: Durch die Luft tanzender Sand, Staubkörner, die im Licht der aufgehenden Sonne leuchteten. Augenblicksmomente.

Goldene Blumen sprossen und goldene Blumen erblühten und goldene Blumen verwelkten. Goldene Blumen wurden eins mit dem Sand der Zeit, dem sie entwachsen waren.

Feigenbäume trieben zarte Knospen, präsentierten der Welt voller Stolz ihre saftige Frucht und verdorrten. Flussläufe begannen zaghaft zu plätschern, rauschten dröhnend laut, versiegten. Berge schoben sich auf, bröckelten, brachen entzwei. Prachtvolle Bauten wurden errichtet, belebt, niedergebrannt. Aus der Asche neu erschaffen und aufs Neue zerfallend, wie eine Sandburg der Laune des Meeres ausgesetzt.

Täglich gingen die Menschen an ihm vorbei, doch niemals bemerkte man ihn. Den alten Mann auf der Bank.

Doch er, er sah sie alle. Er blickte hinter ihre Gesichter, hinter all die fröhlichen, traurigen, fühlenden Fassaden. Er sah die Sandkörner, die von einem pulsierenden Rhythmus angetrieben aus ihren Herzen flossen, er sah die feine Spur, die sie im Fluss der Zeit hinterließen. Er sah jede einzelne dieser Spuren zerlaufen, von der Strömung erfasst, vereinheitlicht und mitgerissen. Er sah die Sanduhren, die sie zurück ließen, leere und ausgehölte Körper.

Nichts war für die Ewigkeit bestimmt.

Und doch, hier saß er und existierte. Eine Seele, eingeschlossen im Bernstein, gefangen im Fluss der Zeit und doch vollkommen unberührt. Die Zeit konnte ihm nichts anhaben. Es war dem alten Mann überlassen, wie schnell der Zeitfluss durch die Welt rauschte und Augenblicksmomente wie Sandkörner vom Ufer stahl.

Ein Schnipsen und neu entstandene Berge bröckelten, Hausfassaden bebten und goldene Blumen brachen, mitten in der Entfaltung ihrer Pracht. Neues wurde zu Altem. Falten gruben sich in lächelnde Gesichter, bis sich der Tod friedlich in ihre Blicke schlich.

Auch der Mann lächelte müde, sein Gesicht von Falten durchzogen. Mit trübem Blick strich er sich über seinen erbleichten Bart. Das Zusehen war ihm langweilig geworden. Beherrschte man das Vergehen der Zeit, beherrschte man alles.

Wusste alles, verstand alles, Ewigkeit war die einzig geltende Regel.

Nur ein einziges Mysterium blieb noch, das es zu ergründen galt.

Den Tod.

Er schien wie eine tiefe, dunkle Schlucht, deren Boden man aus dieser Höhe nicht erkennen konnte. Nur im Fallen, kurz vor dem Aufprall, wenn es selbst für die Zeit zu spät war, ihre Hand auszustrecken.

Unbekanntes wartete dort unten. Es wartete darauf, entdeckt und erkundet zu werden, mit allen Sinnen ertastet und erfühlt.

Und der Mann, er lächelte seelenfriedlich.

Dann sprang er.

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Golden glänzten die von der Bank rieselnden Sandkörner wie Tropfen honigfarbenen Bernsteins im Licht einer untergehenden Sonne.



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