[vi.] Albtraum der Weihnacht [❄️2❄️]

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Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie wieder zu sich kam.

"Denkst du, unser Tarnung glaubwürdig?"

"Ist sie ein- ein ... ein Mensch?", piepste eine zweiten Stimme.

"Brrrr, gar nicht aussehen wie ... Caspar sagen, dass - Menschen - aussehen."

"Balthasar! Ich dachte, du hättest ausreichend photosynthetisiert, wie Menschen aussehen?"

"Phono- Phonotyyyyysoooiert ... mhm, was?", meldete sich die piepsige Stimme erneut.

"Ach, nichts. Caspar versucht nur wieder, uns mit ausgedachten Wörtern zu verwirren, Bibber."

"Die sind nicht ausgedacht! Photosynthese existiert wirklich! Das ist, wenn Menschen mit einem runden Glas mit Stiel durch die Gegend rennen, aufgeregt "Papa! Papa! Ich hab einen Feuerkäfer gefunden!"schreien und hässliche Striche in einen kleinen toten Baum machen. Ich habs selber beobachtet, so wahr ich Caspar heiße! Ich schwöre!"

"Auf Satan?"

Verlegene Stille folgte auf diese Worte.

"Ha, wusste ichs doch!", triumphierte jemand.

Natalie brummte der Schädel von den ganzen unterschiedlichen körperlosen Stimmen. Benommen drehte sie den Kopf und blickte blinzelnd in grelles Tageslicht. Drei ... vier Schatten zeichneten sich dunkel gegen das helle Licht ab, kleine unförmige Umrisse vor der Sonne. Der Schnee reflektierte das Licht zusätzlich und so musste Natalie die Augen vor dem grellen Weiß zusammenkneifen, um üerhaupt etwas sehen zu können.

"Still!", zischte eine der Stimmen, "Sie ist wach! Myrrhe! Myrrhe! Komm schnell!"

Ein weiterer Umriss gesellte sich zu den anderen.

Natalie versuchte währenddessen sich aufzusetzen, ihr Kopf noch ganz benommen von den vielen neuen Eindrücken, die er in seinem jetzigen Zustand nicht richtig verarbeiten konnte. Kaum saß sie aufrecht drehte sich die Welt, ihr Verstand wurde in eine kleine Ecke gequetscht und schwarze Flecken begannen in ihrem Sichtfeld zu tanzen, Löcher, die die Umgebung verschlangen wie die aufklaffenden Löcher in ihren Erinnerungen an die letzten Minuten, Stunden ... Tage? Das grelle Licht machte die Situation nicht gerade besser.

Verwirrt blinzelte sie. Als Natalie sich einigermaßen gefasst hatte, nahm sie erst die fünf Gestalten vor sich richtig wahr, die sie allesamt mit ihren schwarzen blitzenden Kohleaugen anstarrten. Wortlos starrte sie zurück. Gebrechliche Zweigärmchen, kleine kugelige Bäuche und diese Augen ... Es waren fünf kleine Schneemänner, die sie hier anstarrte. Fünf kleine Schneemänner, die jede ihrer Bewegungen verfolgten.

"Bist du ein Mensch?", fragte der Mittlerste plötzlich mit rauchiger Stimme, so rau und dunkel wie die Lunge eines Kettenrauchers. Perplex starrte Natalie nun ausschließlich ihn an. Ihr Blick wurde von der Lebendigkeit, die hinter dem Funkeln seiner Kohleaugen steckte, wie verzaubert in einen Bann gerissen und konnte ihren Kopf nicht mehr abwenden. Sprechende Schneemänner ... was es nicht alles gibt ... Sprechende Schneemänner. Warte. Sprechende. Schneemänner. DIE SCHNEEMÄNNER SPRECHEN MIT MIR

Natalies Welt begann sich erneut zu drehen, das Karussell nahm Fahrt auf, die Farben vermischten sich zu einem viel zu bunten Schleier. Das letzte, was sie wahrnahm, war eine Stimme, gedämpft, wie durch eine Wasserschicht. "Kann es nicht reden? Ich sags dir doch, so sehen keine Menschen aus! Wahrscheinlich ist es ein Exemplar der Spezies Bufonidae, die ..." Dann glitt sie erneut davon, in die bodenlose Tiefe der Bewusstlosigkeit.

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Schreiend schreckte Natalie auf. "Ein seltsamer Traum ist das gewesen ...", murmelte sie leise zu sich selbst und machte sich sogleich eine gedankliche Notiz, ihrer Freundin Suko in der ersten Schulstunde davon zu berichten. Mhm. Seltsam, Natalies Wecker hatte gar nicht geklingelt ... Sie richtete sich auf, wollte aus dem Bett steigen.

Da erst bemerkte sie die klirrende Kälte, die sie umgab. Weit und breit nichts als Schnee. Erneut schrie sie auf, diesmal überrascht. Ruckartig wollte sie aufstehen, stieß mit dem Kopf allerdings gegen eine zu niedrige Decke und keuchte vor Schmerz, fasste sich an die Stelle, an der sie das dumpfe Pochen wahrnahm, das eine angehende Beule ankündigte.

Perplex sank sie wieder zurück auf das Gestell, auf dem sie gelegen hatte. Es kam einem Bett nicht einmal in entferntester Weise ähnlich und bei einem Blick auf die vielen verschiedenen Dinge, aus denen es bestand, erklärten sich Natalie ihre Rückenschmerzen von selbst. Da waren übereinandergestapelte Bücher, Kisten und Kartons, sogar ein halber Stuhl so angeordnet worden, dass sie zusammen eine provisorische Liege ergaben. Halbherzig mit einer Tischdecke überworfen, die so dünn war, dass sie Natalie zu verspotten schien.

Diese starrte für einen Moment perplex auf den Boden, blinzelte langsam. Als sie die Augen wieder öffnete, war der Schnee immer noch da. Diesmal vorsichtiger erhob sie sich und verließ die niedrige Höhle.

In der Ferne konnte sie im hellen Tageslicht eine Ansammlung an Häusern ausmachen, die sich dicht an dicht um den großen Kirchturm in ihrer Mitte drängte, als würden sie Schutz vor der glitzernden Kälte suchen. Marillon, ihr Dorf.

Gerade hatte sie den Beschluss gefasst, so schnell sie konnte durch den Schnee zu den Häusern zu stiefeln und das Erlebte einfach zu vergessen, da ertönte eine leise vor sich hin grummelnde Stimme hinter ihr. Ruckartig fuhr sie herum.

Die glitzernden Kohleaugen des kleinen Schneemanns schauten sie an. "Du bist wach", stellte er fest. Natalie hatte es die Sprache verschlagen. Sie hatte sich die komischen kleinen Männchen doch nicht eingebildet. Hatte sie Fieber? Prüfend fuhr sie sich über die Stirn. Kein Schweiß, keine Hitze. Ihr ging es gut. Bis auf diese merkwürdige Halluzination. Sie wandte sich ab.

"Hey warte, du kannst nicht einfach weggehen! Du bist an uns gebunden! Heeey! Komm zurück!"

Doch Natalie ignorierte die entrüsteten Rufe und stampfte davon. Nach einigen Minuten zurückgelegter Wegstrecke traute sie ihren Augen nicht mehr. Sie musste wohl im Kreis gelaufen sein, ohne es zu merken, denn sie stand wieder direkt vor dem Eingang der Schneehöhle.

Verdattert sah sie sich um. Auch der Schneemann stand noch an der gleichen Stelle, an der sie ihn zurück gelassen hatte. Mit den gleichen niedlichen Kohleaugen und den gleichen kleinen Holzstückchen, die wie Hörner aus seinem Schneekopf ragten. Er hatte wohl auf sie gewartet. "Es hat keinen Sinn", sagte er. Die Halluzination sprach tatsächlich mit ihr! Natalie wollte es nicht wahrhaben. Natürlich hatte es Sinn! Dann war sie halt im Kreis gelaufen, das würde ihr aber nicht nochmal passieren. Entschlossen stampfte sie erneut los. Kam jedoch nach einigen anstrengenden Minuten wieder an ihrem Ausgangspunkt heraus.

Drei Male versuchte sie es noch, bis ihr endgültig der Kragen platzte und sie sich vor dem kleinen Schneemann aufbaute. "Was soll das?!", fuhr sie ihn an, doch der grinste nur verschmizt.

"Ich habs dir ja gesagt", teilte er ihr mit. "Mein Name ist übrigens Balthasar." Als würde damit alles erklärt sein, drehte er sich um, bedeutete Natalie, ihm zu folgen und machte sich in Richtung Waldrand auf. Entgeistert schaute sie ihm nach. Die Wut in ihrem Bauch war mit einem Schlag verraucht. Erwartete der kleine Teufel ernsthaft, dass sie ihm folgen würde?

Aber ... was blieb ihr eigentlich anderes übrig?

WortnebelfetzenWhere stories live. Discover now