[iv.] Silberne Stille

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Meine diesjährige Abgabe für die unglaublich fantastisch organisierte »Halloween'sche Schreibchallenge«! Falls du es noch nicht getan hast, schau doch unbedingt bei den KuhleKathiisten vorbei, da werden hin und wieder coole Schreibchallenges veranstaltet.

Als Vorgabe habe ich folgendes Stück ›Masquerade of the Ghosts‹ gewählt. Ich kann nur empfehlen, es parallel beim Lesen zu hören. Und: Wer will, darf sich hinterher gerne am Interpretieren versuchen. Ich freue mich über jeden Gedankenansatz!

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 Silberne Stille lag über dem Saal.

Als die Musik einsetzte, blieben nur mehr Splitter der Stille zurück, die die kurzen Pausen darin anleiteten und sie wie Quecksilber mit den Tönen zusammenfließen ließen. Das bleiche Mondlicht, das durch die hohen Rundglasbogenfenster fiel, malte geisterhaft verworrene Schemen und Muster auf den marmornen Boden des Ballsaals.

Beim ersten einfallenden Strahl des Mondlichts glitten die Türflügel des Saals wie von Geisterhand geführt zur Seite und rauchige Gestalten manifestierten sich wie aus dem Nichts. Mit schwebenden Schritten betraten sie die Tanzfläche, und wenige Augenblicke später wirbelten sie alle in Paaren umeinander. Ihre Bewegungen waren nur verschwommen wahrzunehmen, auf eine unnatürliche Art und Weise verzerrt. 

Nach und nach lösten sich dunstbehaftete Farben und Fetzen aus ihren eleganten Kleidern und Frisuren, die, einmal von ihnen gelöst, ergrauten, hinter den Tanzenden her wehten und langsam, wie Federn, zu Boden segelten. Dort sammelten sie sich als dichter Teppich aus Dunstschwaden und flossen in einem einheitlichen Strom um die Füße der Tanzenden, sodass es aussah, als würden diese wirklich eine Handbreite über dem Boden schweben. 

Die Dame im kunstvollen Abendkleid betrachtete das Spektakel, das sich ihr nun bot, mit Erstaunen. Sie hatte wenige Stunden zuvor noch am Klavier gesessen und musste wohl über den Tasten eingeschlafen und zu Boden geglitten sein. Elegant, wie es sich für eine Dame geziemte. Nichtsdestotrotz hatte sie auf dem kalten Marmorboden gelegen, denn ihre Glieder fühlten sich steif und verspannt an. 

Jetzt stand sie aufrecht und wagte nicht zu blinzeln, aus Angst, das Ganze sei lediglich ein Streich ihres Verstands. Eine kleine Rache dafür, dass sie ihn überstrapaziert habe, mit dem Komponieren ihres neuen Stückes. »Maskenball der Geister«.

Plötzlich stand ein Fremder vor ihr. Hatte sie ihn kommen sehen? Eine sanfte Berührung an der Schulter wie ein zarter Lufthauch hatte sie schließlich auf ihn aufmerksam gemacht, sonst hätte sie ihn sicher nicht bemerkt. Sogleich bildete sich ein hinreißendes Lächeln auf seinen Lippen und auffordernd bot er ihr die Hand zum Tanz an.

Verwundert lächelte die Dame zurück und knickste. Sie legte ihre Hand in seine und erlaubte ihm, sie zur Tanzfläche zu führen. Er tat dies jedoch nicht, ohne ihr zuvor einen Kuss auf den Handrücken gehaucht zu haben. 

Seine samtig weichen Lippen waren eiskalt. 

Als er sie auf die vom Mond in mystisches Licht getauchte Tanzfläche führte, schimmerte seine fahle Haut. In seinen Augen entdeckte sie einen faszinierenden Hauch des gleichen sanften Schimmers, und langsam entspannte sie sich. Ihre Glieder wurden lockerer und sie spürte ein sanftes Kribbeln in den Füßen. Es fühlte sich unerwartet angenehm an und beruhigend. 

Doch ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, legte er ihr die eine Hand zwischen Hüfte und Schulterblatt. Automatisch nahm ihre Hand die entsprechende Position ein und beinahe wie von selbst griffen die Finger ihrer jeweils anderen Hand ineinander und verflochten sich. 

Bestimmt stiegen sie in das Stück ein, begleitet von Streichern und Orgel. Gemeinsam mit den anderen Paaren walzerten sie über den Marmor. Die Falten ihres Kleids flatterten, die beiden Tanzenden wirbelten durch den Saal und der silberne Stoff bauschte sich um ihre Füße. Es fühlte sich an, als würde sie schweben. 

Fließend glitten sie von einer Figur in die nächste. 

Fließend glitten sie von einer mondbeschienenen Fläche, die die hohen Rundglasbogenfenster auf den Boden warfen, in die Schatten dazwischen. Dann tauchten sie erneut in eine mondbeschienene Fläche und gleich darauf abermals in die Dunkelheit.

Eins,    zwei,    drei. 

Eins,    zwei,    drei. 

Eins,    zwei,    drei. 

Eins,    zwei,    drei. 

Plötzlich riss ein kreischendes Splittern ein Loch in die Musik. Die Scherben des zerborstenen Sektglases stoben in Zeitlupe in hohem Bogen in alle Himmelsrichtungen davon und reflektierten glitzernd das Licht. 

Der Tanzpartner der Dame zuckte merklich zusammen, seine Augen weiteten sich in Schock. Aus dem Takt gebracht, stolperte er, doch die Dame stützte ihn, hielt seine Hand fest umfasst und schloss seinen sich öffnenden Griff mit Entschlossenheit. Sobald er sich wieder gefangen hatte und selbst das leise nachhallende Klirren, das die Scherben verursacht hatten, vergangen war, nahmen sie ihren Tanz dort auf, wo sie aufgehört hatten. 

Wiegeschritt, Promenade. Schleife, Schleife. Drehung. 

Sie tanzten mit einer Eleganz durch den leeren Saal, die vermuten ließ, sie hätten schon ein ganzes Leben lang miteinander getanzt. 

Der hohe Spiegel in der Nähe eines der Rundglasbogenfenster reflektierte blitzend das Mondlicht, als sie sich ihm im Takt der Musik näherten. Sie wirbelten vorüber, nur einen kurzen Blick erhaschte die Dame auf ihr Spiegelbild, doch es fühlte sich an, als dehne sich dieser Moment in die Ewigkeit aus. 

Sie sah sich selbst. Ihr silbernes Kleid, wie es durch die Luft wehte, ihre Haare, die mit ihr im Kreis schwangen. Doch da war niemand, mit dem sie tanzte. Tiefer Atemzug. Sie umschloss die Hand ihres Gegenübers fester. 

Dann hob sie den Kopf und vorsichtig tastete ihr Blick über seine Gesichtszüge, als könnten sie darunter zerbrechen. Seine Haare leuchteten regelrecht im Mondlicht und bildeten einen fahlen Kranz um seinen Kopf. Er lächelte. Ihre Zweifel verflossen. Doch da war der Funken einer Empfindung in seinen Augen, so tief vergraben, dass nur die Dunkelheit Licht darauf warf. 

Die Zeit ergoss sich in einem einzigen Strom dahin, ihr Gefühl dafür war zwischen den Wiegeschritten, Schleifen und Drehungen verloren gegangen. 

Mit dem gemächlich anbrechenden Morgen verabschiedete sich auch der Mond von den Tanzenden und es schoben sich sanfte, goldene Sonnenstrahlen durch die hohen Rundglasbogenfenster. Das Licht brach sich in ihnen und reflektierte in zersplitterten Teilen auf den marmornen Boden, auf dem es kristallklare Muster und Schemen bildete. 

Die Dame blinzelte eine Sekunde zu lange, und sie spürte die beruhigende Kälte seiner Finger nicht mehr in ihren, stattdessen vernahm sie das angenehme Kitzeln der Wärme der Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Nur noch glitzernde Staubpartikel hielt sie in den Armen und tanzte mit ihnen und den verblassten Geistern einer Erinnerung das Stück zu Ende, bis die Sonne vollkommen aufgegangen war.

»Bis zum nächsten Ball«, flüsterte die Dame.

Und goldene Stille legte sich über den Saal.

WortnebelfetzenWhere stories live. Discover now