Kapitel 12

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Wieder einigermaßen gut gelaunt trat ich ins Santiano's und wurde sogleich freudig von Gabriella empfangen.

„Kind, wie schön dich zu sehen!" Sie umarmte mich herzlich und verfiel dann direkt wieder in ihren Arbeitsmodus.

Es schien, als wäre heute sehr viel los und ich würde wahrscheinlich keinen Augenblick Pause haben, was mich nicht sonderlich störte. Die Arbeit lenkte mich immer von meinem Alltag und den Gedanken ab, die dauerhaft durch meinen Kopf spukten.

„Hey Alenia", ertönte es aus dem hinteren Teil des Ladens und ein dunkelbrauner Strubbelkopf lugte um die Ecke. Francesca balancierte ganze vier große Pizzateller auf ihren Armen an mir vorbei und brachte sie erstaunlich sicher zu einer Familie an den Tisch, die sich sichtlich über ihr Essen freute.

„Hey", entgegnete ich und lächelte leicht.

Nachdem sie das Essen serviert hatte, kam sie mit einem besorgten Gesichtsausdruck zu mir gelaufen.
„Wie geht's dir Süße?" Ihr Blick war sehr zärtlich und sie legte mir vorsichtig eine Hand an den Oberarm.

Ich sah sie nur stumm an und wusste nicht ganz, was ich dazu sagen sollte. Normalerweise fragte mich nie jemand, wie es mir ging und schon gar nicht nachdem ich gestern heulend weggelaufen war.
Scham machte sich in mir breit und peinlich berührt senkte ich meinen Kopf. Diese Frage überforderte mich so sehr, dass ich einfach gar nichts antwortete, weil ich nicht zugeben wollte, dass es mir nicht gut ging.

„Ach komm mal her." Francesca zog mich in eine liebevolle Umarmung und streichelte sanft über meinen Kopf.

Einen kurzen Moment stand ich einfach reglos da, bis ich zögerlich meine Arme anhob und die Umarmung erwiderte. Ich hatte ganz vergessen, wie schön sich so etwas anfühlte.

„Du musst mir nicht antworten. Das war schon eine doofe Frage."

Nach ein paar Sekunden lösten wir uns voneinander und ich lächelte Francesca dankbar, dass ich ihr keine Rechenschaft ablegen musste, an.

Meine letzte Freundschaft war schon so unfassbar lange her, dass ich in diesem Moment erst realisierte, wie sehr ich es vermisst hatte. Könnten Francesca und ich wirklich Freunde werden? War so etwas möglich? Schon seit langer Zeit hatte ich mich mit dem Gedanken abgefunden, dass niemand mit mir befreundet sein wollte und ich ein einsames Leben führen würde und nun könnte sich das ändern.
Ein Funken Freude leuchtete in mir auf, was mein halb gezwungenes Lächeln ablöste und durch ein Wahres ersetzte.

„Kinder! Seid ihr hier, um zu quatschen oder zum Arbeiten?", fragte Gabriella mit einem Lachen, während sie etwas gehetzt an uns vorbeilief.

„Sì Mama", rief Francesca ihr mit italienischem Akzent hinterher und schenkte mir nochmal ein warmes Lächeln, ehe sie rückwärts um die Ecke huschte und in der Küche verschwand.

Langsam trottete ich hinter zu dem kleinen Raum, der als Umkleide diente, und kramte meine Sachen aus meinem Spind. Nachdem ich die weiße Bluse zurecht gezupft und meine Haare schnell zu einem hohen Zopf zusammen gebunden hatte, verließ ich den kühlen Raum und trat in die Pizza-lastige Luft hinaus. Augenblicklich empfing mich die Hitze von den Öfen aus der Küche, die mir mittlerweile schon sehr vertraut war.

„Ach Alenia, mi Amore. Gut dich zu treffen", freute sich Gabriella, als ich durch die Küche in den Flur gelaufen kam. „Wir haben gerade eine Bestellung zum Ausliefern erhalten."

Kurz hielt ich inne und blickte sie mit einer unguten Vorahnung an. Neulich erst hatte ich einen Thriller geschaut, bei dem auch nur jemand Pizza ausliefern wollte und sich am Ende selbst erhängt hat, weil er so verzweifelt und fertig war, da er die ganze Zeit von Mensch zu Mensch rennen musste, um sein Geld für die Bestellung zu bekommen, sein Chef ihn durchgehend gehetzt und am Ende gefeuert hat, obwohl er doch diesen Job nur angenommen hatte, um seine kranke Mutter versorgen zu können und danach Chemie zu studieren.
Deshalb hätte ich mich am liebsten im Erdboden vergraben und eine Blume auf den Hügel über mir gesteckt, als ich den nächsten Satz hörte.

twisted love - was it all fake?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt