4. Ankommen

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Der große Alien verließ den Raum. Der kleinere setzte sich zu Simon auf den Boden und betrachtete die Bildkarten.
„Cool, Memory!", sagte Belu. „Aber es gibt von jeder Karte nur eine. Wo sind die anderen?", fragte er Simon. Er schüttelte den Kopf. Es war sicherer, zu allem Nein zu sagen, fand er.
„Willst du kein Memory spielen? Na gut, du kapierst das sowieso nicht. Ich hole den Schleim." Belu lief kurz aus dem Zimmer, um Spielzeug zu holen. Nur mit ihm dazusitzen war doch sterbenslangweilig.

Sobald Simon allein war, rannte er zum Fenster. Als seine Augen sich an die helle Sonne gewöhnt hatten, blickte er hinaus in eine öde rote Wüste, durchbrochen von Gebäuden aus demselben Sand. Sie hatten überhaupt keine geometrische Form. Sie wirkten wie aus der Steinzeit, viel zu primitiv im Vergleich zu den modernen Maschinen, die er im Labor des großen Aliens gesehen hatte. Vielleicht war das ihr Schönheitsideal. Wenn sie nur diese weißen Gewänder trugen, schienen sie mehr auf innere Schönheit oder so einen Quatsch zu stehen. Hin und wieder gab es Bäume mit roten Blättern und Schuppen am Stamm. Zwei Häuser hatten einen kleinen Garten mit einem Rasen, ein drittes glänzte durch einen Pool. In der Ferne beschrieb ein unlesbares gelbes Schild den Straßennamen.
Wie ging dieses Fenster auf? Es gab keinen Griff, um es zu öffnen, nur einen kleinen Knopf. Er drückte den Knopf und ein mechanisches System öffnete das Fenster. Simon brauchte sich nur noch die Nadel herauszureißen und in die Freiheit zu springen. Aber er befürchtete, dann wie ein Schwein zu verbluten. Und die Hitze, die von draußen hereinströmte, schien ihn fast zu erschlagen. Wohin sollte er auch rennen? Wenn er hier in einen Zug stieg, fiel er auf wie ein bunter Hund. Vielleicht gab es einen Bahnhof für die Raumschiffe. Ehe er den gefunden hätte, würde er von der Polizei aufgegriffen werden.
Es gab keinen Ausweg! Er musste die Folter stumm ertragen. Seine Panik fütterte ihn mit paranoiden Gedanken. Die großen Aliens hatten ihm bereits ein Organ entfernt, das verriet die Narbe am Bauch. Die Flüssigkeit in dem Infusionsbeutel bereitete ihn auf eine größere Operation vor. Und der Junge sollte Zeit schinden, bis die Forscher mit dem Folterwerkzeug zurückkamen.
Andererseits hatten sie ihm den Maiskolben und das Kleid gegeben. Würde ein Folterknecht das tun? Wenn sie freundlich waren, wessen er sich noch nicht sicher sein konnte, sollte er sich auf sie einlassen. Bisher hatte ihm noch niemand Schmerzen zugefügt. Im Gegenteil, die Schmerzen in seinem Bauch besserten sich.

Belu kehrte mit einem großen blauen Klumpen zurück. Er schloss das Fenster und gab Simon davon:
„Mach mir nach. Wehe, du isst ihn auf." Er formte ein Ufo aus dem Schleim. Simon war ganz begeistert. Seine Eltern wollten ihm nie so etwas kaufen. Sie meinten, es mache Dreck. Dieser Schleim war anders als der, den man im Spielzeuggeschäft bekam. Er hinterließ überhaupt keine Rückstände an den Händen und ließ sich viel leichter zu Dingen formen.
„Er ist blau! Ich mache einen Schlumpf. Kennst du die Schlümpfe? Hast du auch weißen Schleim für die Mütze?"
„Das gefällt dir, was? Ich habe gleich gespürt, dass du intelligenter bist als Debilon. Was machst du da?" Belu war schon lange mit seinem Ufo fertig. Als nächstes formte er eine Rakete. Simon beschäftigte sich immer noch mit dem Schlumpf. Die Schmerzen waren weg, die Angst vergessen. Er genoss seine letzten Tage im Leben. Wer sagte, dass er nicht glücklich sterben durfte?
Stolz präsentierte er Belu sein Werk:
„Das ist ein Schlumpf! Es gibt ganz viele von ihnen in Schlumpfhausen. Gargamel und seine Katze machen immer Jagd auf sie, aber sie finden sie nie. Papa Schlumpf trägt rote Sachen und kann zaubern." Simon hatte ganz vergessen, dass Belu ihn nicht verstand. Sehr skeptisch betrachtete und verurteilte er den Schlumpf:
„Hey, was soll das denn darstellen? Das sieht voll komisch aus! Gib es zurück!" Er entriss ihm den Schlumpf und quetschte den Schleim zu einem Klumpen. „Du solltest mir nachmachen! Aber das kapierst du auch nicht. Vielleicht täuscht mich meine Wahrnehmung. Das macht sie leider öfters."

Reo kehrte mit vier Tüten voller Lebensmittel zurück.
„Ah, ich sehe, er hat die Nadel schon vergessen. Du hast ihn gut abgelenkt. Aber sag mir, warum er wütend ist."
„Wir haben mit dem Schleim gespielt und er hat irgendwas Komisches gemacht. Er sollte mir nachmachen, weil ich dachte, er wäre intelligent."
„Das ist er auch. Nur leider versteht er unsere Sprache nicht. Ich vermute auch, dass er die Hälfte unserer Worte gar nicht hört, weil sie jenseits der Frequenz liegen, die er hören kann."
„Heißt das, er ist taub?"
„Nein, nur eingeschränkt. Sprich tiefer, aber nicht zu tief mit ihm. So wie mit Debilon."
„Dabei komme ich mir doof vor."
„Das ist dann halt so. Bring schon mal die Einkäufe in die Küche. Ich komme gleich nach."

Reo bemerkte, dass die Infusion zur Hälfte durchgelaufen war. Simon betrachtete ihn wütend.
„Willst du den Schleim wieder? Ich hole ihn dir. Dann darfst du machen, was du willst." Er führte ihn an der Hand aus dem Zimmer. Im Wohnzimmer lag eine Kiste mit Spielsachen. Dort hatte Belu den Schleim hingelegt. Simon hatte jedoch die Lust auf Schlümpfe verloren. Stattdessen versuchte er, den Hund zu formen, der vor dem Sofa schlief.
Er wurde von seinem Modell unterbrochen. Der Hund erwachte von dem Essensduft und begrüßte Simon, indem er ihn zu Boden warf, die Pfoten auf die Brust drückte und intensiv an ihm schnupperte. Als er beschloss, dass er ein Freund war, leckte er ihm das Gesicht.
„Du bist ja ein Lieber! Am Anfang dachte ich, du wolltest mich fressen wie ein großer böser Wolf!" Wie zur Bestätigung, dass er ein Wolf war, stieß er ein heiseres Bellen aus.
„Hast du einen Namen? Bestimmt hast du einen, aber du kannst ihn mir nicht sagen. Ich nenne dich Bob." Nein, das passte nicht. Er brauchte einen gefährlicheren Namen wie... Simon fiel keiner ein. Der Hund hatte aufgehört, sein Gesicht abzulecken, und ließ sich den Bauch kraulen. Während Simon über ihm kniete, überlegte er. Litt er noch an Amnesie? Nicht einmal das wusste er.
„Wie schön! Debilon mag ihn!", rief Belu freudig aus. Auch Simon freute sich. Wenigstens einen Freund hatte er in dieser Welt. Vielleicht war auch der große Alien ein Freund, denn das Mittel in dem Beutel hatte ihn noch nicht umgebracht. Stattdessen durfte er im Wohnzimmer mit dem Hund spielen -den Schleim hatte er schon vergessen- und erfahren, was die Aliens aßen. Er selbst hatte großen Hunger und hoffte, dass sie ihm etwas abgaben. Das konnte auch giftig sein. Aber er war nun schon einige Stunden, vielleicht sogar einen ganzen Tag auf Kuyan. Hätten sie ihn umbringen wollen, hätten sie es schon getan. Er mahnte sich zur Vorsicht, denn er konnte es sich immer noch mit ihnen verscherzen.
Zumindest der Hund akzeptierte ihn. Sein Bruder in Gefangenschaft. Oder eine Schwester? Simon war es egal. Er hatte einen Freund gefunden. Er konnte gar nicht aufhören, den Hund zu streicheln. Er keuchte und ruderte mit den Beinen, während er ihm den Bauch kraulte.
„Hat unser Haustier unser Haustier adoptiert?", wunderte sich Belu.
„Ich habe ja gesagt, er ist intelligent."
„Ich nenne dich einfach Teufelchen", sagte er zu dem Hund.

Belu setzte einen Teller rohes Fleisch vor Debilon ab. Der Hund begann zu fressen. Simon wartete darauf, dass er etwas bekam. Es roch sehr lecker. Er hatte Lust auf Hamburger. Oder zumindest gebratenes Fleisch. Doch alles, was er bekam, waren Knochen. Angewidert schob er den Teller von sich. Hielten sie ihn für ein Raubtier? Sah er aus wie das Teufelchen?
„Belu, wenn er kein Fleisch mag, mag er auch keine Knochen", rügte Reo seinen Sohn.
„Was isst er überhaupt?"
„Bist du mit deinem Gemüse fertig?"
„Ja." Er tauschte die Knochen gegen das Gemüse ein. Das sah schon besser aus. Zwar kein Hamburger, aber immerhin verdaulich. Simon traute sich nicht, nach Besteck zu fragen, obwohl er eine Bildkarte mit einem Löffel gesehen hatte. Womöglich verstanden sie es falsch und nahmen ihm das Gemüse wieder weg. Also schaufelte er es mit den Händen hinein. Weiße Kügelchen, die nach Reis schmeckten, fielen auf den Boden. Sauce tropfte auf die Fliesen. Das Gemüse schmeckte nach einer Mischung aus Weißkohl und Karotten. Nicht gerade sein Leibgericht, aber immerhin etwas.
„Du musst deinen Teller leer essen, Belu. Du kannst nicht immer alles den Tieren geben."
„Ich bin satt. Und er sah hungrig aus."
„Ich hätte ihn schon noch gefüttert. Sieh dir an, was für eine Sauerei er veranstaltet! Der halbe Boden ist voll. Das wirst du jetzt sauber machen." Belu stöhnte entnervt und kramte im Schrank nach einem Lappen. Als er Simons Sauerei abwischte, fragte er wütend:
„Hat es wenigstens geschmeckt?" Simon leckte den Teller ab. Das fand er lustig. Zuhause wurde ihm das nicht gestattet. Hier verbot es ihm niemand. Belu nahm ihm den leeren Teller weg und wischte mit dem Lappen auch Simons Hände ab, damit er nicht wieder alles dreckig machte.
„Es ist dein Haustier. Du hast es dir gewünscht", sprach Reo.
„Aber es ist dein Forschungsobjekt."
„Punkt für dich. Ich spüle ab."

Das Mädchen hörte nicht auf, Fragen zu stellen:
„Woher wusstest du, was die Aliens sagten?"
„Ich habe es aus dem Kontext erschlossen", erklärte Simon. „Ich habe sie erforscht, wie sie mich erforscht haben. Als Kind wollte ich immer Forscher werden. Ich schätze, der Wunsch hat sich erfüllt."
„Warum können wir ihre Sprache nicht übersetzen?"
„Sie kommunizieren viel über Infra- und Ultraschall. Wenn wir die Worte, die in dieses Spektrum fallen, in unsere hörbare Frequenz umwandeln würden, würden sie eine ganz andere Bedeutung bekommen. Wir können nur das sprechen, was wir auch selbst hören."
„Erforschen die Aliens immer noch Menschen?"
„Alle intelligenten Wesen wollen die Natur der Dinge verstehen. Es ist normal. Im Gegensatz dazu, wie wir Labortiere behandeln, sind ihre Forschungsmethoden viel humaner. Sie müssen nicht viel aufschneiden, weil sie Scanner haben. Sie müssen uns keine Elektroden ans Gehirn kleben, weil sie Antennen haben."
„Warum redest du so nett über die Aliens? Sie haben dich entführt!"
„Nicht alle waren Entführer."


Das Alien-HaustierWhere stories live. Discover now