31. Allaas Nachfolgerin

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Simon kam nicht mehr oft ins Institut mit. Tani forschte an anderen Probanden. Aber wenn er kam, begegnete er seinem Vorbesitzer Reo. Sie trugen ihre Forschungsergebnisse zusammen und waren tagelang damit beschäftigt. Simon hatte Reo vermisst. Er ihn auch. Er hatte ihn, bevor Belu ins Heim kam, nicht oft besucht, da er befürchtete, Belu könne mit seinem ausgezeichneten Geruchssinn Simons Geruch an ihm wahrnehmen. Dann hätte er sich darüber aufgeregt und vor allem gewusst, dass Simon in seiner Nähe war. Belu wäre ausgerissen, um ihn im Institut zu besuchen.
Jetzt konnte er Reo bedenkenlos umarmen. Einmal hatte er ihm aus herumliegenden Schnüren eine Puppe geknotet. Da hatten seine Augen geleuchtet.
„Bist du das, Nio? Du gibst mir dich? Das bedeutet mir sehr viel. Ich werde es an den Kühlschrank hängen, damit ich es jeden Tag sehe. Weißt du, ich habe dich auch sehr lieb." Dann hatte er ihn auf die Wange geküsst. „Ich bin so froh, dass wir uns wiedersehen können. Ich muss mich nämlich bei dir entschuldigen. Ich hätte dich nie mit meinem Sohn allein lassen dürfen. Ich dachte, er kommt jetzt in ein Alter, in dem viele von uns automatisch Verantwortungsbewusstsein erlernen. Du darfst ihm nicht übel nehmen, dass er es nicht gelernt hat. Er kann nichts für seine Missbildung."
„Da kommt voll viel Liebe rüber", sagte Tani im Jargon der Jugendlichen. Dann hatten sie gelacht. Natürlich hatte sie überlegt, Simon an Reo zurückzugeben. Er hatte abgelehnt mit dem Argument, dass er nun länger bei ihr war als damals bei ihm und er sich schon an Tanis Familie gewöhnt hätte. Ganz zu schweigen von Vogo und Arui, die ihn liebgewonnen hatten und schrecklich vermissen würden.

Simon hatte immer gern gebastelt. Tani gab ihm Papier mit alten Notizen, die sie nicht mehr brauchte. Daraus faltete er Papierflieger oder malte sich selbst Bildkarten. Die Aliens waren davon fasziniert. Tani hatte sie fotografiert und versucht, ihre Bedeutung zu entschlüsseln. Doch sie kam nicht dahinter und musste immer den Kopf schütteln, wenn Simon sie mit den Karten um etwas bat. Sie kannte weder SpongeBob Schwammkopf noch Frühlingsrollen, weder Poolnudeln noch Pfeifenreiniger zum Basteln.
Schließlich ging sie die Fotos durch, die die aktuelle Forschungsgruppe „unsichtbar" von der Erde geschickt hatte, fand aber nichts, was auf Simons Bilder passte.
„Irgendwann kriege ich raus, was du mir sagen willst, verlass dich drauf." Das nahm sie sich fest vor.

Bald legte sich Tanis Nachbar erneut einen Menschen zu: Ein pflegeleichtes Mädchen aus Singapur in Simons Alter. Sie hieß Jamuna und hatte viele Verpflichtungen auf der Erde gehabt: Schule, danach drei Stunden Lernen, dienstags Geigenunterricht, donnerstags und freitags Ballett und täglich Hilfe im Haushalt. Sie brachte viele gute Noten nach Hause, hatte jedoch nie Zeit für Freunde, von denen keiner so viel lernen musste wie sie. Sie trug ihre Schuluniform: Weiße Bluse, karierter blauer Rock und Kniestrümpfe. Die Aliens hatten sie auf dem Rückweg vom Geigenunterricht entführt, weshalb sie ihre Geige noch besaß. Sie hatte sich in ihr Schicksal gefügt, doch sie wurde das Gefühl nicht los, ihre Familie zu entehren, indem sie ihren Verpflichtungen nicht nachkam.
Allaa war für jeden Spaß zu haben gewesen. Sie waren zusammen vor den Aliens geflohen. Jamuna saß nur nachdenklich da, dachte an die vielen Schulstunden, die sie verpasste, und die Schimpftiraden, die zuhause deswegen warteten. Täglich übte sie Geige, spielte traurige Stücke, die ihrer Stimmung entsprachen. Es war nicht so, dass sie ihre Familie vermisste. Sie war eigentlich sehr froh, nichts tun zu müssen. Doch das Gefühl, ihre Pflichten zu vernachlässigen und dafür bestraft zu werden, plagte sie immer noch. Sie schaute auf ihrem Handy Lernvideos, um mit dem Schulstoff nicht zurückzufallen. Und sie fragte Bazu regelmäßig, ob sie im Haushalt helfen sollte. Einmal hatte sie sich das gespülte Geschirr geschnappt und abgetrocknet.
„Nein, Laya, du musst mir nicht helfen!", lachte er dann. „Hier muss niemand irgendwas. Außer Arbeiten, das muss ich hin und wieder." Dann setzte er sich an den Computer und programmierte.

Als Simon sie kennenlernte, ertönte nachts die Geige. Die Musik machte Simon traurig. Er hasste Geigenmusik. Jamuna spielte super, aber das änderte nichts an seiner Abneigung. Es war nun schon die zweite Nacht, in der Simon dieses grässliche Quietschen hörte.
„Leise, ich will schlafen!", rief er. Sie spielte einfach weiter. Also kletterte er über den Zaun und schaute, woher die Musik kam. Von Jamunas Anblick war er fasziniert: Sie war wunderschön. Er interessierte sich zwar noch nicht für Mädchen, aber er konnte sie ja trotzdem schön finden.
„Hi", sagte er schüchtern.
„Hi." Er zückte die Übersetzungs-App auf dem Handy:
„Ich bin Simon. Ich wohne nebenan."
„Ich bin Jamuna. Ich wohne seit zwei Tagen hier", antwortete sie auf Englisch. Sie machte nicht den Eindruck, reden zu wollen. Simon war fast beleidigt. Allaa war wie er extrovertiert gewesen. Jamuna war das totale Gegenteil. Und die Stille verkraftete er schwer. Seine Mitschüler hatten oft so getan, als würde er nicht existieren. Deshalb versuchte er, ein Gespräch in Gang zu bringen.
„Wo kommst du her?"
„Aus Singapur." Sie stellte keine Rückfragen. Sie schien sich also nicht für ihn zu interessieren.
„Wie alt bist du?"
„Ich werde bald neun."
„Ich auch! Dann können wir zusammen feiern. Isst du gerne Kuchen?"
„Nein." Jetzt war er perplex. Er hatte noch nie jemanden getroffen, der keinen Kuchen mochte!
„Nicht dein Ernst."
„Doch."
„Was magst du dann?" Sie überlegte.
„Frühlingsrollen."
„Ich auch. Kennst du Glückskekse?"
„Ja."
„Was esst ihr so in Singapur?" Hörte dieser Junge je auf zu reden? Sie wollte nur in Ruhe den Himmelswalen ihr Stück vorspielen und mit ihren melancholischen Gedanken allein sein. Sie vermisste ihre Freunde. Aber sie vermisste auch die Lebensfreude, die sie nie hatte. Manchmal wünschte sie sich sogar, tot zu sein und diese Wunde, die ihre strikte Erziehung gerissen hatte, nicht mehr zu spüren. War sie depressiv? Konnte man in ihrem Alter schon depressiv sein?

Das Alien-HaustierWhere stories live. Discover now