36| »Eine verrückte Familie«

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„Daddy, nun gehört sie uns. Dir, Koa und mir. Mit wem spielen wir als nächstes?", höre ich nebelhaft eine äußerst bekannte Stimme sagen. Ich merke, dass ich langsam wieder zu mir komme, lasse mir jedoch nichts anmerken, da ich die Situation erstmal einschätzen möchte. Fakt eins: Ich sitze mit gefesselten Armen und Beinen auf einem harten und somit ungemütlichen Stuhl.
Fakt zwei: Ich habe einen, nach Schweiß stinkenden, Sack über dem Kopf, sodass ich nichts sehen kann.
Fakt drei: Zu meinen Entführern gehören derjenige, der mich damals bei meiner Flucht K. o. geschlagen hat, Koa und Isy, deren Rolle ich in dem Ganzen irgendwie nicht durchschauen kann. Fakt vier: So schnell werde ich hier wohl nicht flüchten können.

Okay, diese Erkenntnisse sind zwar nicht besonders hilfreich, aber immerhin ein Anfang, oder? Plötzlich höre ich wieder jemanden sprechen und spitze die Ohren. „Na na Isy, nicht so ungeduldig. Wir sind mit deiner Freundin ja noch längst nicht fertig, jetzt beginnt der Spaß doch erst richtig", sagt Daddy, wie ich ihn insgeheim getauft habe. Da meldet sich Koa plötzlich: „Dad, meinst du nicht dass der Verdacht auf uns fallen wird? Aislynn wird..." „Wie kannst du es wagen, mich Dad zu nennen? Nur dein Bruder hat das dürfen! Wenn der Name Keano nicht endlich in dein Hirn geht, werde ich ihn dir einprügeln, verstanden? VERSTANDEN?", brüllt Daddy ohrenbetäubend laut. „Ja, Keano", sagt Koa beinahe lautlos und kurz darauf höre ich Schritte, welche sich entfernen.

Kann das sein? Das Koa eigentlich der Bruder von Isy ist und alles seit langer Zeit geplant ist? Aber warum hatten sie mich erst nachdem der kleine Junge erfolgreich geflüchtet ist, im Visier? Wie krank ist diese Familie eigentlich?

Während ich meinen Gedanken nachhänge, hat Keano beschlossen, ein nettes Gespräch mit mir zu führen, für welches er den Sack von meinem Kopf herunter zerrt. Blinzelnd schaue ich ins gleißende Licht und werde von einem erstaunten Lachen begrüßt. „Na sieh mal einer an, Mademoiselle ist bereits wach. Eigentlich hätte die Betäubungsdosis auch einen Elefanten ausknocken können, du scheinst das Mittel ja ziemlich gut weggesteckt haben. Oh, wie unhöflich von mir, ich habe mich nicht einmal vorgestellt." Er grinst spöttelnd und verbeugt sich leicht, wobei er mit der einen Hand einen imaginären Hut zieht und die andere hinter seinen Rücken hält. „Keano Kele, zu Ihren Diensten."

„Daddy, um genau zu sein ist sie von nun an zu unseren Diensten", mischt sich Isy ein und tritt in mein Sichtfeld. Ich tue so, als ob ich über ihre Anwesenheit hier mehr als überrascht wäre, damit niemand Verdacht schöpft, dass ich schon länger wach bin. Sie hat zwar bei meiner Entführung geholfen, doch es hätte ja sein können, dass sie gezwungen worden ist, deshalb gebe ich mich unwissend: „Isy? Oh mein Gott, Isy, hilf mir! Der Verrückte hier...", Isy spuckt mir direkt ins Gesicht und unterbricht mich so mitten im Satz. „Entschuldige dich sofort! Sofort, habe ich gesagt!", keift sie und tätschelt leicht Keanos Oberarm. „Sorry, Sie sind natürlich kein Verrückter sondern, hm... mieses Schwein ist eher zutreffend", sage ich mutig und erwarte fast, von Isy oder ihrem Daddy Schläge zu bekommen, doch diese bleiben, dankenswerterweise, aus.

Ich öffne vorsichtig meine Augenlieder, welche ich nach meinen Worten reflexartig geschlossen habe und sehe etwas, dass mich mehr als überrascht. Keano und Isy stehen mit erhobenen Fäusten vor mir, bereit auf mich einzuschlagen. Einzig und allein die Anwesenheit von Koa, welcher sich vor mir platziert hat, hält sie davon noch ab. „Koa, du undankbarer Verräter, geh SOFORT zur Seite. Hast du mich nicht verstanden? Beweg deinen vermaledeiten Arsch!", brüllt Keano zornig, eine dicke Ader pocht auf seiner Stirn und lässt ihn wie ein nicht menschliches Wesen erscheinen. Koa bleibt jedoch wie angewachsen stehen und ich verstehe die Welt nicht mehr, denn er hat vor Kurzem versucht, mich indirekt umzubringen und ist bei meiner Entführung ebenfalls maßgeblich beteiligt gewesen, doch nun hält er seine durchgeknallte Familie davon ab, mich grün und blau zu schlagen. „Danke Koa", flüstere ich so leise, dass nur er es hören kann. Er nickt unmerklich und wehrt die Fäuste von Isy und Daddy ab.

Kurze Zeit später haben sich die beiden jedoch wieder beruhigt und nun sitzen mir alle drei schweigend gegenüber. Keano ergreift schließlich das Wort: „Nun, wir werden höchstwahrscheinlich die Zeit bis zu meinem Lebensende gemeinsam verbringen, deshalb bekommst du hier und heute wahre Antworten auf all deine Fragen, danach stellst du keine einzige mehr, ansonsten schneide ich dir deine Zunge ab. Verstanden?".

Ich nicke erschrocken und er lehnt sich, zufrieden mit meiner Reaktion, in seinen Stuhl zurück. Die Tatsache, dass ich bis an das Lebensende dieses Bastards bei ihm bleiben werde, wage ich zwar zu bezweifeln, doch die Aussicht auf Antworten stimmt mich ein wenig versöhnlich. „Ich möchte wissen, warum ihr den kleinen Jungen entführt habt", sage ich schließlich und warte gespannt auf seine Antwort. Er räuspert sich: „Hm, da muss ich weit ausholen, damit du meine Beweggründe wirklich verstehst, es wäre ja schade, wenn ich deine Zunge rausschneiden müsste, nur weil du die Zusammenhänge nicht verstanden hast, oder? Es ist ungefähr vierzehn Jahre her, als wir einen Fünfjährigen in unsere Familie aufgenommen haben."

Ich unterbreche ihn: „Sie meinen entführt haben, nicht wahr?". Widerwillig nickt er und fährt mit seiner Erzählung fort: „ Er ist vier Jahre lang ein Teil unserer Familie gewesen, bis er eines Tages nicht mehr von der Schule nach Hause gekommen ist. Keiner hat ihn gesehen, mein Kontakt bei der Behörde hat in meinem Auftrag eine Fahndung rausgegeben, doch niemand hat sich gemeldet und die Sache ist im Sand verlaufen. Drei Monate später ist die damals siebenjährige Isy in unsere Familie gekommen und bereichert uns nun seit zehn wundervollen Jahren. Vor fünf Monaten haben wir im Familienrat entschieden, dass wir noch ein Familienmitglied haben wollen, und zwar möglichst ein unverdorbenes. Hier kommen wir zu der Antwort auf deine Frage. Der Kleine ist eineinhalb Jahre alt gewesen, als er zu uns gekommen ist und vor zwei Tagen bin ich mit ihm im Park spazieren gewesen, als er sich unerlaubterweise entfernt hat und ins Wasser gefallen ist. Du bist vor mir bei ihm gewesen und somit habe ich nichts mehr tun können. Nun kommen wir zu dir: Du stehst schon länger auf Isys Liste und auch Koa hat mit der Zeit Gefallen daran gefunden, den Familienkreis zu erweitern. Der kleine Junge ist nun kein Teil mehr von uns, deshalb haben wir einen Ersatz gebraucht."

Ich schaue ihn ungläubig an, muss das Ganze erstmals verdauen und denke mir, dass ich in der Hölle gelandet bin. Um von mir abzulenken, stelle ich die nächste Frage: „Ist Koa dein leiblicher Sohn?". Keanos Ader an der Schläfe beginnt gefährlich zu pochen und ein orkanartiger Schrei lässt fast meine Trommelfelle platzen.

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Wie ein Psychopath zu denken beziehensweise hoffe ich, das Psychopathen so denken, fällt mir äußerst schwer, doch ich hoffe, es ist mir gelungen.

Ich freue mich auf eure Gedanken zu diesem Kapitel, dessen Inhalt eine bedeutende Rolle im Geschehen spielen wird. 😉

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