49 ~ Victoria

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Das Auftauchen meiner Mutter hatte mich komplett aus dem Konzept gebracht und ich war froh, dass ich ihr nicht allein hatte gegenübertreten müssen. Lando war mir eine große Hilfe gewesen, einfach nur durch seine Anwesenheit und das Gefühl der Sicherheit, das er mir gab.
Und dass er mir nach dem Zusammentreffen mit Mum bei meinem Wutanfall geholfen hatte, hatte mir ein bisschen die Angst vor mir selbst genommen, die ich in diesen Momenten immer empfand.

Zum Glück hatte ich meine Mutter dazu bringen können, unverrichteter Dinge wieder abzureisen, aber ihre Worte blieben trotzdem in meinem Kopf hängen und wurden in Endlosschleife wiederholt.

„Ich erwarte, dass du mit einem genauen Plan für deine Zukunft zurück nach Hause kommst und direkt wieder mit dem Training loslegst."

Ein genauer Plan für die Zukunft? Den hatte ich nicht. Als ich nach England gekommen war, war ich mir sicher gewesen, unendlich viel Zeit zu haben und herauszufinden, wie es weitergehen sollte, aber jetzt-

„Deine Zeit läuft ab, junge Dame."

Mum hatte Recht, meine Zeit rann mir durch die Finger wie Sand und ich konnte nichts dagegen tun.
Was würde Ende des Jahres passieren?
Würde ich tatsächlich nach Idaho zurückkehren?
Und falls ja, würde ich dann wieder Eiskunstlaufen oder etwas anderes machen?
Konnte ich überhaupt etwas anderes?
Dieser Sport war mein Leben, ich kannte nicht wirklich etwas anderes.
Hatte ich also überhaupt eine Chance, etwas zu ändern und in Zukunft etwas anderes zu machen?

Je mehr ich über all das nachdachte, umso mehr Fragen ergaben sich und ich stellte fest, dass ich mich in falscher Sicherheit gewogen hatte. Durch die Beziehung mit Lando war der Sturm in meinem Inneren beruhigt worden, aber jetzt begriff ich, dass das nicht unbedingt etwas gutes war.

Denn dadurch, dass ich mich besser gefühlt hatte, hatte ich nicht bemerkt, dass ich mich zunehmend aus meinem eigenen Leben zurückzog. Ich hatte die Kontrolle darüber, die ich in England eigentlich hatte erlangen wollen, längst wieder abgegeben - falls ich sie überhaupt jemals zurückgekriegt hatte.

Die ganzen letzten Monate hatte ich die Frage nach der Zukunft einfach verdrängt und mich auf die Gegenwart mit Lando konzentriert. Ich hatte daran gedacht, wie schön es mit ihm war und wie gut es mir bei ihm ging, aber ich hatte nie darüber nachgedacht, wie es mit uns auf Dauer weitergehen sollte.

Vom Roller Derby und Kritiken schreiben konnte ich nicht mehr leben, wenn meine Eltern mir den Geldhahn zudrehten und das würden sie definitiv machen, falls ich nicht nach Idaho zurückging. Aber ich hatte außer einem Schulabschluss noch nichts gelernt, keinen Beruf, in dem ich hätte arbeiten können. Von Lando wollte ich auch nicht abhängig sein, es kam gar nicht in Frage, dass er die Kosten für mich trug.

Wenn ich darüber nachdachte, wie es weitergehen sollte, scheiterte ich bereits an der ersten Frage:
England oder USA?

Hierbleiben würde bedeuten, dass Lando und ich uns weiterhin regelmäßig sehen und Zeit miteinander verbringen konnten, außerdem wäre ich in gewisser Weise meine Eltern los oder ihnen zumindest nicht mehr dauerhaft ausgesetzt. Allerdings stellte sich dann die Frage, wie ich meinen Lebensunterhalt hier finanzieren würde und was ich überhaupt mit meinem Leben anfangen wollte, wenn Eiskunstlauf darin keine Rolle mehr spielte.

In die Staaten zurückzukehren würde hingegen bedeuten, dass ich Gefahr lief, damit auch in meinen alten Trott zu verfallen. Immer nur zu tun, was man mir sagte, mein Leben von meinem Eltern bestimmen zu lassen. Außerdem würde mich dort wieder alles an Luke erinnern und ehrlich gesagt war ich mir nicht sicher, ob ich dafür schon bereit war und ob ich es überhaupt jemals sein würde.

Und selbst wenn ich zurückgehen würde, was sollte ich dann machen?
Wieder in den Leistungssport einsteigen und meiner Karriere auf dem Eis noch eine Chance geben oder etwas ganz anderes tun?
Was würde es für Landos und meine Beziehung bedeuten, wenn wir auf unterschiedlichen Kontinenten lebten und uns viel weniger sehen konnten?

"Was soll ich bloß tun?", flüsterte ich leise vor mich hin und beendete mein Herumtigern im Raum, um mich ans Fenster zu stellen und nach draußen zu schauen. Dort unten im Paddock herrschte regen Treiben, das meine wirren Gedanken zu versinnbildlichen schien, aber das half mir leider auch nicht weiter.
Was ich brauchte, war eine Entscheidung, von der ich keine Ahnung hatte, wie ich sie treffen sollte.

Mein Blick fiel auf eine Familie mit zwei kleinen Kindern, die sich gerade ihren Weg durch die Menge bahnten und dabei von unzähligen Menschen umringt wurden. Der Mann schien einer der anderen Formel-1-Fahrer zu sein und als ich die beiden Kleinen sah, musste ich unweigerlich an die vielen kleinen Mädchen in Russland denken, die mich nach einem Autogramm gefragt hatten.

All die Fotos aus besseren Zeiten, auf die ich meine Unterschrift gesetzt hatte, hatten Erinnerungen geweckt, die ausnahmsweise mal positiv gewesen waren. Und auch meinen Tag in der Eishalle mit Lando hatte ich in guter und dankbarer Erinnerung, weil mir dort klargeworden war, wie sehr ich es vermisste, Eiskunstläuferin zu sein.

Mir fehlte das Gefühl zu fliegen, das Gefühl, wenn sich das viele Training auszahlte und man eine hohe Punktzahl bekam, das Gefühl absoluter Synchronisation mit dem Partner.

Mir fehlte es, mit Luke übers Eis zu schweben und in unserer ganz eigenen Welt zu sein.

Mir fehlte mein altes Leben.

Ich hätte gern eine Zeitmaschine gehabt, um wieder in den Januar 2018 zu reisen und Luke nicht mehr dazu zu überreden, die neue Figur auszuprobieren, aber das war unmöglich. Jetzt musste ich irgendwie das Beste aus der Situation machen, auch wenn ich noch keinen blassen Schimmer hatte, wie das aussehen sollte.

"Hey, hier bist du", riss mich Landos Stimme aus meinen Gedanken und ich drehte mich überrascht um.

Mein Freund trug bereits seine Alltagskleidung und wirkte deutlich weniger angespannt als heute Morgen. Das Rennen war recht gut gelaufen und McLaren hatte die Plätze 7 und 8 aus dem Qualifying halten können, wobei die Fahrer jedoch die Positionen getauscht hatten und Lando deshalb dieses Wochenende das bessere Ergebnis verzeichnen konnte. Das freute mich sehr für ihn und ich hoffte, dass es so positiv weitergehen würde.

"Hey, ich hab dich gar nicht kommen hören", begrüßte ich ihn lächelnd und wir küssten uns kurz.

"Du warst ja offensichtlich in Gedanken, wahrscheinlich lag es daran. Willst du drüber reden?"

Einen Moment lang rang ich mit mir, dann nickte ich.

"Ja, wir müssen dringend reden, Lando. Aber nicht hier. Lass uns ins Hotel fahren und dort sprechen."

Under Pressure (Lando Norris FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt