57 ~ Victoria

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Nervös betrachtete ich mein Spiegelbild und zog die Bluse unter dem Pullover zurecht. Die Schneeflocken, die den Pulli zierten, erinnerten mich an die kalten Winter in Coeur d'Alene und ich fragte mich, wie viel Schnee dort wohl gerade lag.

Wahrscheinlich war es einer dieser eisigen Dezember, in denen Luke und ich früher so lange draußen getobt und auf irgendwelchen zugefrorenen Seen getanzt hatten bis uns beinahe die Finger abfielen vor Kälte. Der Gedanke zauberte mir ein kurzes, trauriges Lächeln auf die Lippen, dann widmete ich mich wieder meinem Spiegelbild.

Meine Haare hatte ich zu einem tiefen, geflochtenen Dutt zusammengefasst, aus dem einige lose Strähnen fielen und mein Gesicht umspielten, die Bluse unter dem Pullover und der Faltenrock erinnerten ein wenig an eine Schuluniform, aber es war der perfekte Mittelweg zwischen lässig und elegant und passte zum Anlass.

Heute war es soweit, ich musste mich von allen bei McLaren verabschieden. Als ich Lando vor drei Wochen in Abu Dhabi gesagt hatte, dass bis zu diesem Abschied noch genug Zeit war und wir daran keinen Gedanken verschwenden sollten, hatte ich nicht erwartet, dass die Weihnachtsfeier in Woking dann doch so schnell kommen würde.

Überhaupt waren die letzten Wochen wie im Flug vergangen, als ob zum Ende hin alles schneller laufen würde. Die Zeit zerrann mir zwischen den Fingern wie feiner Sand und beim Gedanken daran, dass ich England schon in neun Tagen verlassen würde, zog sich alles in mir zusammen.

Keine Ahnung, was ich erwartet hatte, aber ich war wohl irgendwie davon ausgegangen, dass das Erinnerungen-Schaffen mit Lando die Zeit langsamer vergehen lassen und den Abschied leichter machen würde. Aber die Realität war, dass ich mich mit jedem weiteren Tag elender fühlte, weil mein Herz wie ein Magnet zu dem Briten gezogen zu werden schien.

Mehrmals hatte ich unsere Entscheidung hinterfragt, hatte Gedankenspiele angestellt, in denen ich doch hieblieb oder in denen wir eine Fernbeziehung versuchten, aber all diese Szenarien endeten in Verzweiflung und Tränen, weshalb ich diese Tagträume immer wieder verwarf. Wir waren noch so jung, unser Leben lag quasi noch vor uns und jeder von uns musste jetzt erstmal seinen eigenen Weg gehen.

Wer weiß, vielleicht würden wir uns eines Tages nochmal begegnen und vielleicht würden die Umstände dann anders sein. Aber bis dahin war das hier der Punkt in unserer Geschichte, an dem wir in unterschiedliche Richtungen gehen würden und das war okay. Na ja, das sollte es zumindest sein.

Ein lautes Geräusch ließ mich zusammenzucken und riss mich aus meinen Gedanken und es dauerte einen Augenblick bis mir klar wurde, dass es die Klingel war. Lando war also schon unten und wartete auf mich, damit wir gemeinsam nach Woking fahren konnten.

Schnell griff ich nach meiner Handtasche und schlüpfte in meine Schuhe, dann schloss ich die Wohnungstür hinter mir ab und lief nach unten. Als ich die Haustür öffnete, begrüßten mich das typische Grinsen und die glänzenden Augen, in die ich mich verliebt hatte und ich ließ mich schmunzelnd auf eine Umarmung und einen Kuss ein, bevor wir zu Landos Auto gingen und losfuhren.

Nachdem wir schon fast eine Dreiviertelstunde gefahren waren und nur über Belangloses gesprochen hatten, räusperte Lando sich unsicher und an der Art, wie er seinen Griff ums Lenkrad verstärkte, erkannte ich sofort, dass ihm die nächsten Worte schwer fielen.

"Wie wollen wir es ihnen sagen? Und wann? Am Anfang oder am Ende oder mittendrin?"

"Am Ende ist es glaub ich nicht so gut. Eigentlich wollen alle schon gehen, aber wir ziehen die Veranstaltung unnötig in die Länge und lassen alle mit den schlechten Neuigkeiten im Ohr nach Haus gehen. Wenn wir es am Anfang sagen, kann ich mich im Laufe des Nachmittags verabschieden und das ohne großes Tamtam, sondern in persönlichen Gesprächen", antwortete ich nachdenklich und Lando nickte zustimmend.

"Ja, da hast du wohl Recht. Irgendwie seltsam, dass wir heute allen sagen werden, dass wir uns trennen. Wir haben schließlich niemals allen gesagt, dass wir zusammen sind. Das wusste einfach irgendwann jeder", murmelte er und ich schluckte angespannt den Kloß herunter, der sich bei seinen Worten in meinem Hals gebildet hatte.

"Ich weiß, was du meinst. Aber dieses Mal ist es anders, weil ich sie alle nie wieder sehen werde und nicht einfach abhauen möchte, ohne mich zu verabschieden."

"Wenn wir uns irgendwann „normal" getrennt hätten, hättest du dich auch nicht verabschieden können, weil wir es ja vorher nicht gewusst hätten."

"Aber wir wissen es", entgegnete ich entschlossen, "und es käme mir irgendwie heuchlerisch vor, jetzt allen zu sagen, dass wir uns im nächsten Jahr wiedersehen werden, obwohl ich weiß, dass es nicht so sein wird."

Lando nickte bloß, dann blinkte er und wir passierten das Eingangstor zum Hauptquartier. Ich war noch nie hier gewesen und starrte mit Augen so groß wie Untertassen aus dem Fenster, als wir vor das gigantische Gebäude fuhren und dort parkten.

Ein riesiger See, an dessen Rand sich einige Eiskristalle festgesetzt hatten, grenzte an den Gebäudekomplex und ich konnte mir vorstellen, dass es atemberaubend sein musste, wenn man hier arbeitete und abends die untergehende Sonne im Spiegelbild des Sees beobachten konnte.

Bevor wir ausstiegen, griff ich instinktiv nach Landos Händen und zog damit seinen Blick auf mich. Durchdringend sah ich ihn an.

"Wir stehen das durch, oder?"

Ich hasste die Unsicherheit und den weinerlichen Unterton in meiner Stimme, aber ich konnte nichts dagegen tun.

"Natürlich schaffen wir das, wir haben ja uns. Gemeinsam packen wir das", antwortete Lando mit gespielter Zuversicht und ich ahnte, dass er sie nicht nur für mich vortäuschte.

Aber ich versuchte seinen Worten Glauben zu schenken, nickte knapp und öffnete dann die Beifahrertür, um auszusteigen. Mein Freund tat es mir gleich und gerade als wir in Richtung des Eingangs gehen wollten, hielt ein weiteres Auto neben uns, in dem ich Carlos und Isa entdeckte.

Es bedurfte nur eines kurzen Blickwechsels, dann hatten Lando und ich uns schweigend darauf geeinigt, es den beiden schon jetzt zu sagen, damit sie es gleich nicht mit allen anderen zusammen erfahren würden. Ich hatte mich immer gut mit Isa verstanden und ich wusste, wie sehr Lando Carlos vertraute und ihn als Freund bezeichnete, deshalb war es nur fair, den beiden gegenüber reinen Tisch zu machen.

Nachdem wir einander alle begrüßt hatten, nickte Carlos mit dem Kopf in Richtung des Eingangs und schaute fragend in die Runde.

"Okay, gehen wir rein?"

"Noch nicht. Ähm, Vicky und ich wollten euch noch... Also wir... Wir haben... oder nein, wir werden... also...", begann Lando stockend und ich griff unterstützend nach seiner Hand, um ihm zu zeigen, dass ich bei ihm war, "Vicky wird Anfang Januar zurück nach Amerika gehen und deshalb werden wir uns trennen."

Sofort starrten Carlos und Isa uns mit weit aufgerissenen Augen an und ich konnte es ihnen nicht verdenken, denn damit hatten sie wohl als Letztes gerechnet.

"Ihr... oh man, das... das tut mir Leid zu hören. Und es macht mich traurig, dass ich dich dann wohl nicht mehr sehen werde", fand Isa als Erste ihre Sprache wieder und sah mich traurig an, was ich erwiderte.

"Mir wird unser gemeinsames Warten auf die Jungs während sie irgendwelche Teambesprechungen haben auch fehlen", stimmte ich zu, dann räusperte ich mich, um den Frosch aus meiner Kehle zu vertreiben, "Wir werden es gleich bei der Feier offiziell bekanntgeben, damit ich mich richtig verabschieden kann, aber wir wollten es euch beiden gerne vorher noch sagen."

Ich bemerkte, dass Carlos mit versteckter Sorge in den Augen seinen Teamkollegen musterte und ich musste innerlich seufzen. Einerseits, weil ich traurig war, dass diese Sorge überhaupt nötig war. Andererseits, weil ich froh darüber war, dass es Menschen gab, denen Lando wichtig war und die gut auf ihn Acht geben würden, wenn ich es nicht mehr konnte.

Mir war klar, dass Lando diese Menschen auch schon gehabt hatte, als wir uns Anfang des Jahres kennenlernten, aber damals hatte er sie noch nicht an sich ran- und ihre Fürsorge noch nicht zugelassen. Das war jetzt anders. Er wusste um diese Menschen in seinem Leben und deshalb musste ich mir keine Sorgen machen. Crispie war in guten Händen.

Under Pressure (Lando Norris FF)Where stories live. Discover now