12 | Ethan

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C A Y E T A N A

Der Blick des Mannes weicht erschrocken zu mir. Ich schlage meine Hand auf meinen Mund. "Entschuldigung", sage ich und stehe schnell auf. "I-ich hab mich nur so erschrocken, weil ich sie nicht gesehen habe", stottere ich. Nervös beginne ich meinen Ehering hin und her zu schieben.

"Schon okay", erwidert er. "Ich hab mich nur auch etwas erschrocken", lacht er leicht. Erleichtert atme ich durch. Mein Blick weicht ungewollt zu dem Grab vor dem er steht. Es ist ein etwas frischeres.

Jeffrey Crist
Geliebt und unvergessen

*18.02.1950
+29.09.2022

Geliebter Ehemann, Vater, Onkel, Bruder, Großvater und Cousin

Oh. Der 29.09  war ja erst letzte Woche. "Mein Beileid", sage ich aufrichtig und sehe wieder zu ihm. Er nickt dankend. "Dankeschön", erwidert er leise und blickt an mir vorbei. "Ich schätze ihnen auch", sagt er. Ich schlucke. "Danke."

"Es ist beängstigend, wie schnell das Leben vorbei sein kann", murmelt er und richtet seinen Blick gedankenverloren zum Grabstein des verstorbenen. Ich lache bitter auf. "Da haben sie Recht. Bei mir war es nicht anders", erwidere ich genauso wie er. Dann sieht er mich wieder an. "Was ist ihrem..." Er schüttelt seinen Kopf. "Mein Mann hatte einen Unfall", fließendie Worte aus mir heraus. Ich bin erstaunt von mir selbst. Warum bin ich so offen? Kann man das überhaut Unfall nennen? Aber ich kann ja auch schlecht sagen, dass mein Mafiaboss-Ehemann erschossen wurde.

"Oh", entfährt es ihm mitleidig, was er mir auch mit seinem Blick zeigt. Ich mustere ihn. Er scheint gut gebaut zu sein, ist groß - nicht so groß wie Domenico. Der Fremde hat kurzes braunes Haar - kein schwarzes. Und er sieht mich aus brauen Augen an - keine blauen. Wieso, zum Teufel, verglich ich ihn mit Domenico?!

"Und ihr...?", frage ich. Ich habe zwar so gesehen kein Recht dazu, aber wenn ich unerklärlicherweise offen bin, kann er mir ja beistehen. Er räuspert sich kurz und befeuchtet seine trockenen Lippen. "Mein Großvater wurde erschossen", erwidert er fast flüsternd. Es fühlt sich an, als würde ein kalter Schauer über meinen Rücken laufen. "Er war gerade in einem Laden, welcher kurz darauf von mehren Leuten ausgeraubt wurde. Er war nicht das einzige Opfer."

"Oh mein Gott", entfährt es mir leise. Er nickt nur, sein Blick starr auf den Grabstein gerichtet. Er wirkt ziemlich niedergeschmettert, was vollkommen verständlich ist. Er hat letzte Woche seinen Großvater verloren und dann auch noch wegen so etwas. Ich habe absolutes Mitleid mit ihm. Wenn ich an den ersten Monat nach Domenicos Tod denke und wie verloren und kaputt ich war. Was ich dennoch noch bin, aber nicht mehr so stark wie am Anfang.

Dann sieht der Fremde wieder zu mir, ehe er mir seine Hand reicht. "Ethan", stellt er sich vor. Ich mustere kurz die Hand, bis ich sie zögerlich ergreife. "Cayetana", stelle ich mich ebenfalls vor und schüttle kurz seine Hand. Ich werde ihn vermutlich sowieso nie mehr wiedersehen.

Danach hebe ich meinen Block und den Stift von dem kalten Boden auf und stecke es in meine Tasche. Die Wolken werden grauer und ich befürchte, dass es bald regnen wird. Ich hasse Oktober.

"War schön dich kennenzulernen", sage ich bevor ich davon düse. Ich will nach Hause. Ich habe mit einem anderen Mann gesprochen. Habe ich Domenico damit irgendwie betrogen?

Amore mio | Wir für immerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt