Reue

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Gut gelaunt schlug Yanna den letzten Nagel in ein neues Bücherregal und lächelte zufrieden. In den vergangenen drei Tagen hatte sie unermüdlich gearbeitet und wie der Rest von Shanks' Crew beim Wiederaufbau der Stadt geholfen. Alle bis auf Dan und Junie, die kümmerten sich noch immer gemeinsam mit den hier lebenden beiden Ärzten um die zahlreichen Verletzten.
Aber Yanna war froh, wenigstens hier helfen zu können... wenn sie schon beim Kampf nutzlos gewesen war. Seufzend stellte sie das Regal auf.
„Na also, fertig! Ist noch was kaputt?", rief sie laut durch die kleine Bibliothek, in der sie gerade arbeitete. Aus einem Hinterzimmer hörte sie Geschirr klappern, ehe einen Augenblick später eine... richtige alte Hexe auftauchte. Zumindest sah sie in Yannas Augen aus wie eine: sie hatte graues, wirres Haar, eine schnabelähnliche Nase im runzligen Gesicht und stechende, kluge Augen. Außerdem war sie sogar noch kleiner als die Handwerkerin.
In ihren runzligen Händen hielt sie ein Tablett mit zwei Tassen Tee.

„Danke, Kind! Wenn du mir jetzt noch mein Bett reparierst, das diese Dünnschissgurgler zerstört haben, wär ich dir wirklich dankbar!", antwortete die Alte und stellte das Tablett auf einen kleinen, bereits reparierten Tisch. Yanna prustete erheitert.
„Mit dem größten Vergnügen, Ma'am! Und Hut ab für die geniale Beleidigung, die wandert auf jeden Fall in meinen Wortschatz!", kicherte sie begeistert. Die Angesprochene feixte.
„Man muss auch im Alter kreativ bleiben! Aber jetzt mach erst mal ne Pause, ich hab uns Tee gemacht!"
„Das ist wirklich nett, aber ich bin nicht so der Tee...", setzte Yanna an, doch schon traf sie der scharfe Blick dieser Hexe und ließ sie überrascht verstummen.
„Ich sagte: ich hab Tee gemacht und der wird auch getrunken. Ich kipp deine Tasse sicher nicht in den Gulli, du Gör!" Gleich darauf grinste sie mit lückenhafter Zahnpracht. „Glaub mir, zwischendurch etwas anderes als Alkohol schadet euch Piratenpack nicht, sonst siehst du in fünfzehn Jahren aus wie ich!"

Offenbar sah Yanna derart entsetzt drein, dass sie in bellendes Gelächter ausbrach. Verlegen griff die junge Frau nun doch nach der Tasse und nahm einen Schluck. Erstaunt musterte sie das Getränk.
„Schmeckt ja gar nicht übel...", gab sie zu, was die Alte zufrieden dreinschauen ließ.
„Na das will ich meinen. Ist ne Spezialmischung von meiner Schwester Baska, dieser alten Kräuterhexe. Sie lebt auf der Grandline, auf so ner durchgedrehten Insel namens Curious und betreibt ne Apotheke. Wir haben uns schon Jahre nicht mehr gesehen, weil wir beide zu alt zum Reisen sind, aber wir schicken uns regelmäßig Pakete!", erklärte die Alte munter, ehe sie innehielt und die Stirn runzelte. „Himmel Arsch - ich hab mich noch nicht mal vorgestellt, oder? Sag das doch, mein verkalktes Hirn is nicht mehr das Beste! Nenn mich einfach Memo, das tun alle!"

Grinsend nahm Yanna die angebotene Hand und war überrascht, wie kräftig der Händedruck ausfiel.
„Memo ist aber ein komischer Name...", merkte die Blonde an, was die Alte erneut grinsen ließ.
„Ist die Abkürzung von Memoirst, eine Art Titel, den ich vor Jahrzehnten bekommen hab wegen der vielen Memoiren, die ich im Laufe meines Lebens für andere verfasst hab. Über vierhundert, ohne prahlen zu wollen! Marine, Piraten und alles dazwischen, was es wert ist, in Erinnerung behalten zu werden. Quer durch die Blues und über die Grandline bin ich gereist... an meinen richtigen Namen erinnert sich doch sowieso keine alte Sau mehr, also spar ich mir die Mühe und bleibe bei Memo!", erklärte sie gut gelaunt und trank ihre Tasse in einem Zug leer.

Nachdenklich runzelte Yanna die Stirn.
„Ich glaube... meine Freundin kennt deine Schwester! Sie war ein Straßenkind in Curious und ich meine, dass sie mal was von einer verrückten Hexe namens Baska erzählt hat..."
Memo lachte.
„Oh, verrückt war sie auf jeden Fall! Die war auch immer auf Achse und hat sich von einem Abenteuer ins nächste gestürzt auf der Suche nach unentdeckten Heilkräutern. Und anbrennen lassen hat sie dabei auch nichts; stell dir vor, die hat als junges Mädchen sogar Whitebeard persönlich flachgelegt!", berichtete sie munter. Nun brach Yanna in Gelächter aus.
„Oh Gott, das ist sie! Das hat Jules erzählt! Ahahaha, das stürzt sie heute noch in Verlegenheit!"

Die Alte schnaubte.
„Pff, warum denn? Sie ist doch auch eine Piratin, da wird sie doch nicht so prüde sein, oder? Man darf die Dinge ruhig beim Namen nennen und muss sie nicht schönreden...", erwiderte sie lässig.
„Im Gegensatz zu mir ist sie schon eine Piratin, aber eine sehr... brave. Und sie gehört ja eigentlich zu Whitebeard, da will man solche Sachen über seinen Adoptivvater vielleicht nicht unbedingt hören!", erklärte die Blonde und nahm sich vor, nachher Junie hierher zu schaffen - das würde lustig werden!
Memo musterte sie ausgesprochen interessiert.
„Wenn du keine Piratin bist, was tust dann bei einem Piratenkaiser? Und was macht deine Freundin bei einem Piratenkaiser, zu dem sie gar nicht gehört?"

Yanna seufzte.
„Ich und Jules suchen eine Insel auf der Grandline, sie liegt aber abseits der üblichen Magnetströme. Shanks will uns helfen, sie zu finden", erklärte sie kurz - und jaulte gleich darauf schmerzhaft auf, als Memo ihr ziemlich rabiat den Gehstock gegen das Schienbein schlug.
„Dummes Gör, warum sagst du das nicht gleich? Hast du mir nicht zugehört?! Ich sagte doch grade, dass ich quasi schon überall war! Komm mit, du taube Nuss!", schimpfte sie und zog die perplexe, leicht hinkende junge Frau an ihrem Werkzeuggürtel quer durch die Bibliothek in die angrenzende Wohnung. Dort ging es eine Treppe runter, zuerst durch eine Art Vorratskeller und dann in eine gemütlich eingerichtete Schreibstube.

„So, da wären wir. Jetzt sieh und staune!", feixte die Alte, räumte den wuchtigen, dunklen Schreibtisch von Papier und Schreibzeug frei und betätigte einen im Schnitzmuster verborgenen Mechanismus. Ein Klicken ertönte, dann klappte Memo die komplette Schreibtischplatte hoch.
„Heilige Scheiße...", murmelte Yanna ehrfürchtig. Neben mehreren Seekarten lagen in dem verborgenen, überraschend großen und breiten Geheimfach eine Unmenge an Logports. Nein, das waren Eternalports!! So viele hatte sie noch nie auf einem Haufen gesehen.

„Großartig, was? Dann pack die Glubscher wieder ein und sag mir, welche Insel du suchst!", grinste Memo und sah sie abwartend an. Yanna kicherte - die alte Hexe war ganz nach ihrem Geschmack, auch wenn sie bezweifelte, dass sie ausgerechnet DIESEN Eternalport hatte.
„Die Insel heißt Fought... es ist nur eine kleine, unbedeutende..."
„Hab ihn! Willst ihn als Geschenk verpackt?"
Yannas Grinsen erstarb, als sie auf den Eternalport in Memos Hand sah.
„Fought" stand unglaublicher Weise tatsächlich in geschwungenen Lettern oben am Rand des schlichten Holzgestells. Die Nadel hing schlaff herunter, weil sie sich nicht auf der Grandline befanden... aber sobald sie den Rivers Mountain überquert hatten, würde sie ohne Umschweife auf die Insel zeigen.

Memo musterte die verstummte junge Frau genau.
„Keine guten Erinnerungen an diese Insel, hm?", mutmaßte sie mit deutlich sanfterem Ton. Yanna atmete mühsam aus und griff nach dem Holzgestell.
„Nein. Gar nicht. Aber... genau deswegen müssen wir da hin. Es verfolgt uns schon so lange. Es muss ein Ende haben...", murmelte Yanna gepresst und steckte das Ding vorsichtig in eine ihrer Taschen am Gürtel. Die Alte legte den Kopf schief und sah sie auf eine so intensive Art und Weise an, dass sie unbehaglich die Schultern hochzog. Als wüsste sie sehr genau, wovon Yanna da sprach... aber das war unmöglich. Oder?
„Woher hast du diesen Eternalport?", fragte sie leise.

Memo seufzte sehr tief, und auf einmal wirkte sie noch viel älter.
Und ernster.
„Ich sagte dir doch, dass ich Memoiren schreibe - von jedem, dessen Geschichte es wert ist, erzählt zu werden. Vor ein paar Jahren kam ein junger Mann auf mich zu und erzählte mir seine Geschichte... aber nicht als Erinnerung, sondern als eine Art Buße. Weil er es sonst niemandem sagen konnte. Was er mir berichtete war schrecklich, es hat ihn krank gemacht und lässt ihn bis heute nicht los... und das geschah auf dieser Insel. Du bist eins der Kinder, die dort gefangen waren, stimmts?"

Völlig entsetzt starrte Yanna auf die alte Frau. Sie wusste Bescheid! Sie kannte die Wahrheit über die Insel! Ihre Gedanken wirbelten durcheinander.
„Wer?", stellte sie tonlos die einzige Frage, die sie greifen konnte. Wessen Geschichte hatte die alte Frau aufgeschrieben?
Wachsam musterte Memo sie.
„Sagt dir der Name Veritas etwas?"
Yanna fiel aus allen Wolken. Und ob dieser Name ihr etwas sagte!! Zornrote Flecken erschienen in ihrem Gesicht, während sie ihre Hände zu Fäusten ballte.
„WAS?!?!", schrie sie aufgebracht. „Aber.. aber... ER WAR EINER VON DENEN!!!"

Memo blieb erstaunlich ruhig.
„Ich weiß. Wie gesagt, er hat mir alles anvertraut und nichts beschönigt. Nur die Namen der Kinder und ihrer Eltern hat er nicht genannt. Aber sonst weiß ich alles. Er war ein regierungstreuer Marinesoldat und hat die Ansichten der Weltregierung niemals in Frage gestellt. Doch als er Wärter in dieser Einrichtung wurde und zusehen musste, wie kleine Kinder leiden mussten, kamen ihm Zweifel. Er hat sich mit aller Macht an die Begründung geklammert... doch dann kam ein weiteres Mädchen in die Einrichtung. Und sein Glaube an die absolute Gerechtigkeit ist vollständig zerstört worden..."
„DAS WILL ICH NICHT HÖREN!! Was interessiert mich sein dämlicher Glaube?! Er war dort. Er hat mitgemacht. Er hat zugesehen wie... wie... WIE JUNIE IN DEN TOD GESPRUNGEN IST!", brüllte Yanna außer sich und raufte sich die Haare. All das hier hatte sie völlig überrumpelt, sie wusste gerade gar nicht, wohin mit all ihren Gefühlen.

„Kindchen, ich weiß, dass es schwer ist, aber Menschen können sich ändern. Vielleicht hat er deinen Hass verdient, aber beurteile ihn nicht, wie er jetzt ist! Er ist ein guter Mensch geworden, an dem die Ereignisse von damals noch heute zehren - und die er bitterlich bereut!", versuchte Memo sie zu besänftigen, doch Yanna schnaubte abfällig und tigerte aufgebracht hin und her.
„Ist mir egal! Verdammt egal! Von mir aus kann die Reue ihn mit Haut und Haaren auffressen, ich würde ihm keine Träne nachweinen. Ich bin froh, dass ich ihn nie mehr..." Abrupt stoppte sie und sog scharf die Luft ein. „Warte mal, Oma... was meinst du mit ‚zehrt bis heute an ihm'? Wann hast du das letzte Mal mit ihm gesprochen?!"

Ernst sah die alte Frau sie an.
„Vor dem Überfall der Piraten. Er hat gegen sie gekämpft und wurde verwundet. Es geht ihm aber schon besser, ein Nachbar hat erzählt, dass er heut morgen das Bewusstsein wiedererlangt hat!"
Yanna erbleichte vollends.
„Er... ist... hier?!", stieß sie hervor.
„Ja. Er ist vor sechs Jahren bei der Marine ausgetreten und arbeitet hier als Lehrer. Ist das wirklich so schlimm?", fragte Memo stirnrunzelnd.
Schlimm?! Das war eine verdammte Katastrophe!! Fahrig strich sich die Blonde durchs Gesicht.
„Ja, das IST schlimm! Ich bin nämlich nicht das einzige Kind aus der Einrichtung, das in diesem Augenblick auf der Insel ist. Jules, das Mädchen, das damals in den Tod gesprungen ist, hat überlebt und ist ebenfalls hier - und sie ist die Tochter von Ben Beckmann, dem Vize und besten Freund von Shanks!", fauchte Yanna. „Sag mir sofort, wo der Scheißkerl jetzt ist! Jules darf ihn auf keinen Fall sehen, sie verkraftet die Erinnerungen an früher nicht und würde schlimmstenfalls vor den Augen ihres Vaters zusammenbrechen. Was glaubst du, wird dann passieren?!"

Nun wurde auch die alte Frau blass - ein mächtiger, zorniger Pirat wie Ben Beckmann war in der Tat Grund zur Besorgnis.
„Oh, verflucht... das klingt wirklich beschissen. Veritas wurde in sein Haus gebracht, an der Nordseite der Stadt direkt am Meer, neben einem Angelladen!"
Ohne ein weiteres Wort schoss Yanna nach draußen und rannte nach Norden.
Und wenn sie dem Mistkerl beide Beine brechen oder ihm Türen und Fenster zunageln musste - sie würde nicht zulassen, dass er Junie zu nahe kam!
Nicht nochmal.

******

Nicht weit vom Hafen entfernt kämpfte sich währenddessen ein Mann mühsam durch die Gassen der Stadt. Er stützte sich rechts auf eine Krücke, sein halbes Gesicht war unter Verbänden verborgen, genau wie auch ein Großteil seines Körpers. Obwohl er kaum älter als Mitte dreißig aussah, war sein kinnlanges Haar schneeweiß.
Keuchend lehnte sich Veritas an eine Hausmauer, um zu verschnaufen. Der Arzt hatte ihm zwar strikte Bettruhe verordnet, doch er konnte unmöglich liegen bleiben. Nicht, seitdem er wusste, wer die Insel gerettet hatte... und dass sich genau der eine Mann hier befand, mit dem er schon seit Jahren reden wollte.
Der Mann, der mit Sicherheit sein Leben beenden würde, wenn er fertig erzählt hatte... aber das war in Ordnung. Er schuldete es ihr...
Ein Leben für ein Leben, das war nur gerecht.

Entschlossen stieß er sich von der Wand ab und quälte sich weiter vorwärts. Veritas' ganzer Körper schmerzte, er hatte übel einstecken müssen und der Arzt der Rothaarpiraten hatte gesagt, es sei ein kleines Wunder, dass er überlebt hatte. Doch er hatte überhaupt kein Wunder gewollt! Bei der Verteidigung der Insel zu sterben, die in den letzten Jahren sein Zuhause gewesen war, wäre ein angemessenes Ende gewesen. Wobei sein Überleben ihm nun die Gelegenheit gab, endlich Buße zu tun... und dafür war er wiederum dankbar. Auf keinen Fall durfte er diese Chance verstreichen lassen, indem er im Bett herumlag.

Schmerzerfüllt stöhnend hielt er wenige Meter weiter erneut inne, um zu verschnaufen.
„Du siehst nicht so aus, als solltest du hier rumlaufen", erklang plötzlich eine besorgte, weiche Stimme neben ihm. Veritas warf einen flüchtigen Blick zur Seite und sah eine schwarzhaarige, junge Frau neben sich stehen. Er kannte sie nicht, aber das wunderte ihn auch nicht - er lebte sehr zurückgezogen und außer den Kindern, die er unterrichtete, und deren Eltern kannte er kaum jemanden. Hart schnaufend rang er sich ein Lächeln ab.
„Das sollte... ich auch nicht... aber... es muss sein", keuchte er und richtete sich etwas auf. „Machen Sie sich... keine Sorgen... Miss!" Entschlossen setzte er erneut einen Fuß vor den Anderen - er würde den Hafen erreichen, selbst wenn er dorthin kriechen musste. Doch zu seiner Überraschung schlang sich ein Arm vorsichtig um seine Mitte und die junge Frau schob sich stützend unter seine linke Schulter.

„Wenn es so wichtig ist, lass mich dir wenigstens helfen, okay?"
Veritas blinzelte überrumpelt, doch dann lächelte er erneut - diesmal war es ein Ehrliches.
„Vielen Dank, Miss... das ist... sehr freundlich", stieß er hervor und machte sich nun langsam mit ihr gemeinsam auf den Weg. So war es tatsächlich einfacher, der Schmerz beinahe erträglich.
„Gern, auch wenn es nach wie vor sehr unvernünftig ist. Verrätst du mir, was so wichtig ist, dass du dafür deine Gesundheit aufs Spiel setzt?", fragte sie so mitfühlend, dass er das merkwürdige Gefühl hatte, als wüsste sie genau was in ihm vorging. Zunächst schwieg er und biss die Zähne zusammen, doch irgendwas in ihm wollte mit ihr reden. Ihre Gegenwart war... eigenartig tröstlich.

„Eine Schuld gestehen...", antwortete er schließlich leise und zischte gleich darauf gepeinigt, als er mit einem Bein falsch auftrat und der Schmerz vom Knöchel bis in den Rücken schoss. Die junge Frau hielt besorgt inne und wartete, bis er wieder freier atmete.
„Warum kann das nicht warten, bis es dir besser geht?"
Veritas stöhnte.
„Weil sie dann weg sind. Das ist vermutlich die einzige Chance, die ich habe, um mit ihm zu reden... ich muss es tun... er muss erfahren... was ich getan habe...", ächzte er und setzte seinen Weg verbissen fort.

Er fühlte, wie sich seine Begleiterin ein wenig anspannte.
„Du redest von Shanks und seiner Crew? Was hast du denn Schlimmes getan?", wollte sie alarmiert wissen, doch Veritas schüttelte erschöpft den Kopf.
„Tut mir leid, Miss... aber... das muss ich... ihm persönlich sagen. Dann darf er... über mich richten..."
Er hörte, wie sie scharf die Luft einsog.
„Über dich richten? Rechnest du damit, dass dir etwas passieren wird für das was du sagst?", entgegnete sie leise, doch er seufzte nur. Er hatte noch immer keine Ahnung, warum er mit der Fremden so offen sprach; vielleicht, weil sein Ende ohnehin nah war und sich ihre zufällige Gesellschaft so angenehm anfühlte?
„Das hoffe ich. Das wäre... Gerechtigkeit. Ich hab... es ohnehin... nicht verdient... zu leben!"

Auch wenn Veritas verbissen auf die Straße vor sich sah, spürte er ihren intensiven Blick in aller Deutlichkeit auf sich brennen.
„Das ist nicht wahr! Natürlich verdienst du es, zu leben! Ich weiß nicht, was du getan hast, aber du bist kein schlechter Mensch. Das fühle ich!", erwiderte sie ernsthaft.
Nun lachte Veritas verbittert auf, was gleich darauf in ein heiseres Husten überging.
„Oh doch... wenn du wüsstest... wobei ich tatenlos zugesehen und sogar mitgeholfen hab... würdest auch du... mich verurteilen...", keuchte er und klammerte sich instinktiv fester an sie, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Schmerz und Schuld tobten qualvoll in ihm; er war fast schon froh, wenn das alles endlich vorbei war.

Die junge Frau ließ es zu, legte sogar sanft ihre freie Hand auf seine.
„Nein, das würde ich nicht. Weißt du, ich hab in meinem Leben schon viel Schlimmes durch die Hand anderer ertragen müssen - aber keinem davon wünsche ich den Tod. Im Gegenteil, wenn ich wüsste, dass sie Reue für ihre Taten empfinden, würde mich das für sie freuen! Auch wenn du mir vielleicht nicht glaubst, aber jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient!", erklärte sie so voller Überzeugung, dass er sich abwandte und heftig blinzeln musste. So ähnliche Dinge hatte die alte Memo ihm auch gesagt... doch es fiel ihm wirklich schwer zu glauben, dass er tatsächlich eine verdient hatte.

Bis heute verfolgten ihn die ängstlichen, hilflosen Augen jener Kinder von damals. Vor allem jene sanfte, nachtschwarze Augen, die ihn so hoffnungslos und gebrochen angeblickt hatten, bevor... Veritas erschauderte und biss erneut heftig die Zähne zusammen.
Nein, das Kind hatte auch keine zweite Chance bekommen.
„Danke... für deine Worte, aber... du solltest jetzt... weggehen. Wir sind fast... da", schnaufte er und sah am Ende der Straße bereits das eindrucksvolle Schiff der Piraten im Hafen.
„Nein, ich bring dich zu ihnen. Da wollte ich nämlich auch hin", erwiderte sie zu seiner Überraschung. Wieder sah er sie an, doch der Verband war im Weg, sodass er sie nicht genau sehen konnte, ohne sich ihr komplett zuzuwenden.

„Gehörst du... zu ihnen?", fragte er erschöpft. Sie lachte leise.
„Nicht direkt, aber ich reise grade mit ihnen. Es sind wirklich wunderbare Menschen!"
Veritas verzog unglücklich das Gesicht. Das machte es ihm nicht leichter, einem davon so ein schreckliches Geständnis zu machen. Doch er straffte sich und ging schweigend weiter.
Zusammen betraten sie den Hafen und gingen langsam auf das Schiff zu, vor dem ein geschäftiges Treiben herrschte. Er erkannte das flammend rote Haar des Kaisers, neben dem Chiyoko stand, die Tochter des Bürgermeisters. Und neben ihr...
Hart schluckte er. Ben Beckmann, der Mann, dessen Tochter er mit auf dem Gewissen hatte.

*******

Am Hafen verluden die Rothaarpiraten eine riesige Menge an Vorräten und Alkohol in den Bauch der Red Force.
„Sicher, dass ihr uns so viel geben wollt? Wir wären auch durchaus bereit dafür zu bezahlen", wandte sich Shanks erneut an die neu gewählte Bürgermeisterin. Doch die junge Frau schüttelte energisch den Kopf.
„Bitte - ich bestehe drauf! Ich kann euch als Dank für eure Hilfe leider kein Geld geben, weil wir das für die Reparaturarbeiten selbst brauchen. Aber an Lebensmitteln mangelt es uns nicht; hier wird niemand am Hungertuch nagen, nur weil wir euch einen Teil davon schenken", erwiderte Chiyoko ernsthaft und strich über ihre hellblaue Bluse bis zum Bund ihrer schwarzen Hose. Das erste Mal war sie Shanks in ihrem zerrissenen Kleid gegenübergetreten; so fühlte sie sich nun aber deutlich wohler und sicherer.

Der Kaiser lächelte sie anerkennend an. Auch wenn sie noch jung war und auf den ersten Blick etwas schüchtern wirkte, steckte doch sehr viel innere Stärke in ihr. Vermutlich hätte sie selbst es nie für möglich gehalten, jetzt hier als Bürgermeisterin so souverän agieren zu können - nur wenige Tage nach dem Tod ihres Vaters.
„In diesem Fall bedanken wir uns für eure Großzügigkeit, junge Dame! Die Menschen hier haben eine gute Wahl für ihr Oberhaupt getroffen..." Er neigte leicht den Kopf und zwinkerte ihr zu
Sie wurde rot, lächelte jedoch verlegen.
„Das hoffe ich... aber gern geschehen. Das ist das Mindeste, das wir tun können! Ist Junie hier? Ich würde mich auch gern nochmal bei ihr bedanken", fragte sie zaghaft. Ben, der sich soeben mit der Ladungsliste zu den beiden gesellte, lächelte.
„Die hilft noch beim Verarzten der Verwundeten in der Stadt. Ich werds ihr aber... ah, da kommt sie doch!", korrigierte er sich und deutete auf eine kleine Seitengasse.

„...und sie hat jemanden mitgebracht", fügte Shanks hinzu und betrachtete aufmerksam den bandagierten, offenbar schwer verletzten Mann, den sie stützte.
„Aber das ist doch Veritas, einer unserer Lehrer! Was um alles in der Welt macht er hier, er hat doch Bettruhe verordnet bekommen!", rief Chiyoko höchst besorgt und lief ihnen entgegen, dicht gefolgt von den beiden Männern.
Junie sah ihnen entgegen, Besorgnis spiegelte sich auf ihrem Gesicht.
„VERITAS! Meine Güte, was tust du denn hier?", stieß Chiyoko hervor und löste Junie als Stütze ab. Der Verletzte rang vor Anstrengung nach Atem.

Junie nutzte das und trat zu den anderen beiden, auch wenn sie nachdenklich die Stirn runzelte. Veritas? Der Name klang seltsamerweise vertraut. Kopfschüttelnd wandte sie sich an Ben.
„Ich hab ihn auf der Straße aufgesammelt, er wollte unbedingt hier her, um euch etwas zu sagen. Etwas, das ihn selbst unheimlich quält und von dem er denkt, dass es gerecht wäre, wenn ihr ihn dafür... bestraft", berichtete sie leise und sehr besorgt. Shanks und Ben warfen dem Mann prüfende, wachsame Blicke zu, ehe der Kaiser vortrat.
„Danke, Kleine! Also gut, was möchtest du uns sagen?", wandte er sich ernst an den Weißhaarigen.

Der löste sich mühsam von Chiyoko - und fiel mit einem schmerzerfüllten Ächzen auf die Knie, wo er sein Haupt demütig senkte.
„Ich... mein Name ist Veritas. Und... früher gehörte ich... zur Marine... vor sechs Jahren bin ich... ausgetreten, weil... ich dort unverzeihliche Dinge getan und... tatenlos mitangesehen hab...", stieß er schwer atmend hervor und hob seinen Blick, um zu aller Erstaunen Ben mit einem fürchterlich gequälten Blick ansah. „Es... tut mir so leid... es geht um..."

„STOPP!! HALT DEN MUND DU VOLLIDIOT!!"

Yannas aufgebrachter Schrei ließ sie alle zusammenzucken. Wie von Sinnen stürmte die Blonde auf die anderen zu und krachte regelrecht in Junie, die sie perplex anstarrte. Sie fühlte Sorge, Wut und einen heftigen Drang zu beschützen in ihr - doch sie hatte keine Zeit groß darüber nachzudenken, denn Yanna packte sie augenblicklich grob am Arm und zerrte sie kompromisslos weg in Richtung Red Force.
„Was...?", fing die Schwarzhaarige verdattert an, doch ihre Freundin schüttelte heftig den Kopf.
„Stell jetzt keine Fragen und denk nicht nach. Vertrau mir - ich erklärs dir später, aber du musst weg von hier, verstanden?", zischte sie eindringlich und zerrte sie zwischen den verdutzten Piraten die Planken hoch.

Junie verstand.

Es gab nur einen Grund, weshalb Yanna sich ihr gegenüber so benahm... sie lief Gefahr, einen Anfall zu bekommen. Hektisch begann sie, im Geiste alle Logbücher der Moby Seite für Seite durchzugehen, um ihre Gedanken beschäftigt zu halten.
Yanna sah ihre konzentrierte Miene und atmete ein wenig befreiter durch.
„Hör zu, geh in unsere Kajüte, okay? Ich... muss da wohl noch ein überfälliges Gespräch führen. Aber ich komme nach! Und solange hältst du dein Hirn auf Trab und schottest dich am besten so gut es geht ab, klar?"
Junie, die blass und angespannt wirkte, nickte. Abrupt wandte sie sich um und rannte fast schon unter Deck, die Hände an die Ohren gepresst.

Besorgt sah Yanna ihr nach, dann drehte sie sich um und ging mit zornig geballten Fäusten wieder nach unten. Keiner hatte sich in dieser einen Minute Abwesenheit bewegt, aber alle sahen sie an. Shanks und Ben grimmig und alarmiert, Veritas und Chiyoko verwirrt.
„Yanna, was ist los?", wollte der Kaiser ernst wissen.
„Yanna...?!", hauchte Veritas und starrte sie entgeistert an. Sie ignorierte ihn jedoch vorerst und wandte sich den beiden Piraten zu.
„Ich glaube, ich weiß, was der Kerl dir beichten will, Ben... darum musste ich sie wegbringen, sonst hätte sie direkt einen Anfall bekommen!", erklärte die Blonde und warf dem knieenden Mann einen aggressiven Blick zu.

Ben verspannte sich sichtlich und sein Blick wurde stählern. Auch Shanks' Gesicht wurde finster, als er sich an Chiyoko wandte.
„Du solltest besser gehen, zu deiner eigenen Sicherheit. Und wir verlegen dieses Gespräch in das Bootshaus da hinten, da sind wir ungestört!" Das war mehr ein Befehl als eine Aufforderung, dennoch zögerte die Angesprochene und biss sich auf die Lippen.
„Bitte... tut ihm nichts. Veritas ist seit fünf Jahren hier Lehrer... und die Kinder lieben ihn! Er gibt kostenlos Nachhilfe und Selbstverteidigungskurse... bitte... was auch immer er getan haben mag, er ist kein schlechter Mensch!" Sie warf dem Weißhaarigen einen sehr besorgten Blick zu. Doch der lächelte sie traurig an.

„Ich danke dir, aber... glaub mir, ich hätte jede Strafe verdient... daran lässt sich leider nichts beschönigen", erwiderte er leise und erhob sich ächzend, um dem Befehl nachzukommen und in das Bootshaus zu gehen.
Die junge Frau sah aus, als wolle sie widersprechen, doch ein Blick in die übrigen Gesichter zeigten ihr, dass es sinnlos wäre. Abrupt wandte sie sich ab und verließ den Hafen, doch sie würde in der Nähe bleiben.

In angespanntem Schweigen betraten die Vier das naheliegende Gebäude, in dessen einzigem, langgezogenen Raum sich ein gutes Dutzend Ruderboote befanden, zwei davon lagen offensichtlich zur Reparatur aufgebockt in der Mitte.
Kaum hatte Veritas die Tür hinter sich geschlossen, packte Ben ihn unsanft am Kragen und hievte ihn weiter in den Raum hinein neben die beiden beschädigten Boote.
„So, und jetzt erklärst du mir, was du mit Yanna und meiner Tochter zu schaffen hattest!", knurrte er drohend und ließ ihn los.

Veritas' Augen weiteten sich kurz - er wusste von seiner Tochter? Aber natürlich, Yanna musste ihm von ihr erzählt haben. Sein Blick fiel erneut auf die Blonde, die ihm zornig entgegensah.
Zu Recht.
Schwer atmete er aus und sah zu Boden.
„Ich... ich war Mitschuld an ihrem Leid. Ich war dabei.. ich hab mitgeholfen... und am Ende tatenlos zugesehen...", gab er ohne Zögern zu.
Shanks schnaufte.
„Sollte die Marine unschuldigen Kindern nicht eigentlich helfen? Ihr habt euch die absolute Gerechtigkeit doch auf die Fahne geschrieben... haben sie dich deshalb gefeuert?"

Doch Yanna lachte kurz und bitter auf. Als der Kaiser sie ansah, stockte er unwillkürlich - ihre Wut war verschwunden; ihr Gesichtsausdruck war plötzlich kalt und teilnahmslos, ihre Augen seltsam leer.
„Du verstehst das falsch. Er hat auf ANWEISUNG gehandelt, er war im DIENST, während wir gelitten haben. In den Augen der Marine waren die Kinder in der Einrichtung nämlich niemals unschuldig, deshalb wurden wir ja nach Fought gebracht. Es war eine Art Umerziehungseinrichtung, obwohl das viel zu harmlos klingt. Wir alle waren nämlich von ‚bösem Blut'... die Kinder von bekannten Piraten!"
Bens Gesichtszüge entgleisten, als er verstand.
„Evelyn hat... Junie an die MARINE verkauft?! Das alles ist passiert, weil ICH ihr Vater bin?", stieß er fassungslos hervor und starrte sie an, während die schreckliche Tatsache durch seine Gedanken sickerte: Seine Entscheidung, Pirat zu werden, hatte mehr als das halbe Leben seiner Tochter zur Hölle gemacht; erst durch Evelyn, weil er sie verlassen hatte, dann durch die Marine wegen ihres Blutes.

Es war alles seine Schuld.

„HEY!" Grob packte Shanks ihn im Nacken und zwang ihn dazu, ihn anzusehen. Er wusste ganz genau, was sein Freund gerade dachte. „Ich habs dir schon mal gesagt und ich wiederhole es nochmal: Du bist an gar nichts schuld! Diese kranke Idiotie mit dem bösen Blut kommt von der Weltregierung und du weißt ebenso wie ich, dass das Blödsinn ist. Nicht DU hast Junie wehgetan, das waren andere!", knurrte er eisern. Sein Blick bohrte sich in den seines Vizen, der seine Zähne derart fest zusammenbiss, dass sie Sehnen an seinem Hals hervortraten.
„Shanks hat recht, Ben", mischte sich auch Yanna mit ungewöhnlich sanfter Stimme ein. Seine heftige Reaktion holte sie in die Realität zurück; in diesem Augenblick erinnerte er sie sehr an seine Tochter und weckte damit tatsächlich den selben Beschützerinstinkt.
„Junie hat schon geahnt, dass du so reagierst und ich soll dir sagen, dass sie keine Sekunde lang auch nur daran gedacht hat, dir für irgendwas die Schuld zu geben. Im Gegenteil, sie hat dich immer heimlich bewundert. Sie hat von Klein auf jeden einzelnen Steckbrief von dir und jede Nachricht über euch in der Zeitung ausgeschnitten und in ein Buch geklebt... sie hat mir mal gesagt, dass sie immer gehofft hat, dass sie dir nicht nur optisch ähnlich sieht, sondern dass auch wenigstens ein bisschen was von deiner Stärke in ihr steckt. Das hat sie immer motiviert, den ganzen Scheiß zu ertragen..." Kurz blitzte das Gesicht ihres kleinen Bruders in ihrer Erinnerung auf; er war IHR Hoffnungsschimmer gewesen. Sie hatte all das überlebt, um ihn eines Tages wiederzusehen.

Hart schnaufte Ben aus und wandte sich von beiden ab. Angestrengt rieb er sich über die Schläfen und versuchte, sich wieder zu konzentrieren. Was allerdings gerade nicht so einfach war...
„Na schön, die Marine hat also Piratenkinder in eine Einrichtung gesperrt. Was habt ihr mit den Kindern gemacht? Wie sollten sie ‚umerzogen' werden?", fragte Shanks leise, aber mit so zornigem Unterton, dass Veritas erbleichte. Doch er schluckte tapfer und antwortete ihm.
„E-es hieß, sie sollen mit... Disziplin und Härte erzogen werden... d-damit sie ihre schlechten Gene f-für etwas... Gutes nutzen!"
„Für etwas Gutes nutzen?", widerholte Ben wütend und wandte sich dem Verwundeten zu. Seine Augen glänzten gefährlich, als ihm ein Verdacht kam. „Warte mal... wurden wahllos alle Kinder von Piraten dort hingebracht?"
Der Angesprochene verzog bitter das Gesicht.
„Nein. Anfangs dachte ich das, aber... Es wurde gezielt nach Kindern von starken oder aufstrebenden Piraten gesucht. Yannas Vater ist der dunkle König... quasi ein Jackpot. Sie war eins der der ersten Kinder, die hingebracht wurden... und du, als rechte Hand von Shanks und damals schon als klügster Pirat auf See bekannt..."

„...da dachte sich die Marine, solche Gene sollte man für die eigenen Zwecke nutzen. Ihr wolltet Soldaten aus den Kindern machen, stimmts?", beendete Ben schneidend Veritas' Erklärung. Der nickte betreten.
„Ja. Oder man hätte sie, wenn sie den Erwartungen nicht entsprechen, alternativ als Druckmittel gegen ihre Eltern benutzen können", fügte er tonlos hinzu.
Shanks fluchte und fuhr sich durchs Haar.
„Das ist einfach nur krank. Aber UNS als die Bösen hinstellen und aufs Schafott bringen... Keiner von uns, nicht mal der von euch so gefürchtete Gol D. Roger, hat je unschuldige Kinder angefasst!" Seine zornige Aura bescherte Yanna eine Gänsehaut und ließ sie instinktiv zurückweichen. Er bemerkte es und im selben Moment verschwand das beklemmende Gefühl.

Der Weißhaarige biss die Zähne zusammen; er spürte es noch immer am ganzen Leib. Trotzdem sprach er weiter, er musste es endlich loswerden.
„Das ist der Grund, warum ich die Marine verlassen habe... solche gezielten Grausamkeiten dürfen im Namen der Gerechtigkeit nicht geschehen! Ich hab nie selbst Hand an die Kinder gelegt, aber ich hab jahrelang tatenlos zugesehen... ich war verblendet. Am Anfang, in den ersten Monaten, hab ich mich an den Glauben geklammert, dass es einem höheren Zweck dient... dass es den Kindern langfristig helfen würde, das böse Blut in ihnen zu besiegen... aber je länger ich dort war... desto schwerer wurde es daran zu glauben. Und dann... dann kam die kleine Juniper in die Einrichtung... und es war vorbei. Ich konnte nicht mehr dran glauben, es war unmöglich!"
Bens Augen wurden schmal.
„Was meinst du damit?"

Veritas' Gesicht verzog sich gequält.
„Niemand, der ihr je in die Augen gesehen hat, könnte ernsthaft glauben, dass in diesem Mädchen etwas Böses steckt!! Ich weiß nicht... was genau, aber... etwas an ihr war anders. Sie... war was Besonderes. Einmal hab ich mich bei Reparaturarbeiten verletzt; ein Stein fiel von einem durch einen Sturm beschädigten Mauerabschnitt und traf mich am Kopf. Und sie... kümmerte sich um mich. Sie... tröstete mich... machte aus ihrem Pullover einen Druckverband und holte Hilfe, obwohl sie dafür eine Regelverletzung begehen musste und Strafe zu erwarten hatte. Trotzdem hat sie keine Sekunde gezögert... sie war... einfach ein herzensgutes Mädchen", berichtete er mit brüchiger Stimme; der Gedanke an sie und ihr Ende schmerzte unaufhörlich. Er wandte sich an Yanna. „Auch wenn es für dich wertlos ist... es tut mir leid, euch damals so behandelt zu haben... und ich würde wirklich alles dafür tun, um es rückgängig machen zu können!"

Doch die Blonde zischte wie eine wütende Schlange.
„Das kannst du aber nicht - und du hast Recht, deine Entschuldigung bedeutet mir gar nichts! Das einzige, das ich dir zu Gute halten kann, ist dass du einer der Wenigen warst, die sich uns gegenüber nicht grausam verhalten und über viele Regelverstöße hinweggesehen haben, um uns die Strafe zu ersparen. Und deine Reue hat auch ihr Gutes - denn immerhin haben wir dank dir jetzt die Chance, nochmal zurückzukehren und alles aufzuarbeiten!" Finster zog sie den Eternalport aus ihrer Tasche und reichte ihn Shanks. Er musterte ihn mit gerunzelter Stirn.
„Nun, das beschleunigt die Sache natürlich. Hast du ihn aus seinem Haus?", wollte er wissen und steckte ihn nun seinerseits ein.

Yanna schüttelte den Kopf.
„Ich hab ihn von Memo, einer alten Schriftstellerin. Der da hat ihr seine Geschichte erzählt und ihr den Eternalport überlassen", erklärte sie missmutig. „Deshalb wusste ich auch von dem Kerl und bin durch die halbe Stadt gerannt um ihn zu suchen, damit er Jules ja nicht zu nahe kommt - und dann läuft er ihr direkt in die Arme!" Sie warf Veritas einen bitterbösen Blick zu. Der Kaiser seufzte.
„Zum Glück warst du rechtzeitig da bevor sie ihn erkannt hat!", erwiderte er ernst, doch Yanna schnaubte.
„Nein, ich war nicht rechtzeitig da, ich war zu spät. Ich hab ihr befohlen, ihre Gedanken absolut beschäftigt zu halten bis ich wieder da bin... das klappt und ist ähnlich wie Meditation, aber sobald sie damit aufhört, wird sie die Zusammenhänge natürlich verstehen, sich an ihn erinnern und der Anfall kommt. Ich konnte es nur rauszögern", korrigierte sie bitter.

„Jules? Ich erinnere mich an keine Jules...", warf Veritas vorsichtig ein und versuchte, aus dem Gesagten schlau zu werden. Giftig sah die Blonde ihn an.
„Jules oder Junie ist der Spitzname von Juniper, du Genie - sie verkraftet die Erinnerungen an damals nicht, deshalb hätte sie dich Trottel gar nicht sehen sollen! Aber stattdessen lässt du dich von ihr auch noch hertragen...", schnappte sie, doch Veritas starrte sie völlig fassungslos an. Er dachte an das vage Profil der jungen Frau - schwarze Haare, ein freundliches Lächeln, dunkle Augen... und eine sanfte, mitfühlende Stimme, die ihm erzählte, dass auch sie bereits durch die Hand anderer gelitten hatte.

Dass sie froh wäre, wenn diese Leute ihre Taten bereuen würden.

Dass sie ihnen nicht den Tod wünscht.

„Sie... sie... sie lebt?", stammelte er mit weit aufgerissenen, brennenden Augen. Ben runzelte die Stirn.
„Allerdings. Wieso sollte sie nicht?", knurrte er unwillig, doch der Weißhaarige brach unvermittelt in Tränen aus.
Juniper lebte!
Das kleine Mädchen war am Leben... sie hatte eine zweite Chance bekommen und war bei ihrem Vater! Und sie... hatte zufrieden geklungen.
Die hatte ihr gutes Herz behalten.
Das alles hatte sie nicht gebrochen!
Heftig schluchzend presste er die Stirn auf den dreckigen Boden und dankte Himmel und Erde für dieses persönliche Wunder.

Misstrauisch musterte Ben den Mann und wandte sich dann Yanna zu.
„Was soll das?", grollte er.
Yanna trat nervös von einem Fuß auf den anderen und warf Shanks einen warnenden Blick zu. Er verstand und trat näher an seinen Freund heran. Tief atmete sie durch und verzog ihr Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse - diesen Teil der Geschichte ertrug sie selbst nur schwer.
„Ben, hör zu. Wir Kinder wollten aus der Einrichtung fliehen und haben vor allem Dank Junie einen Fluchtplan entwickelt. Doch... ihr ging es zu dieser Zeit extrem schlecht. Wir wissen bis heute nicht warum, aber... sie haben ihr wehgetan, viel mehr als uns. Ein paar Wochen bevor wir fliehen konnten fing es an. Sie holten sie nachts und brachten sie ein paar Stunden später zurück... völlig verstört und... und... blutend. Ich hab immer versucht, sie so gut ich konnte zu verarzten, aber..." Heftig atmend wischte sich Yanna den kalten Schweiß von der Stirn und kämpfte sichtlich gegen ihre aufsteigende Übelkeit. All das Blut... überall Blut...
Sie würgte.

Shanks wäre gern zu ihr gegangen um ihr zu helfen, doch er wagte es nicht, sich auch nur einen Zentimeter von dem völlig erstarrten Ben wegzubewegen. Kein Muskel bewegte sich in seinem versteinerten Gesicht, doch in seinen Augen tobte ein mörderischer Sturm.
Auch Yanna bemerkte es und atmete tief durch. Sie musste es schnell zu Ende bringen.
„Das waren aber nicht wir...", mischte sich unerwartet Veritas wieder ein. Er schien sich erholt zu haben und richtete sich etwas auf. Sein tränenverschmiertes Gesicht war grimmig. „...das waren Agenten der Weltregierung. Solche Folter war nie vorgesehen! Uns wurde auch nicht gesagt, warum... Juniper sollte ihnen irgendwas Bestimmtes sagen, aber das hat sie nicht getan..."
„Die Weltregierung?! Was zum Teufel wollen die von einem kleinen Mädchen wissen?!", stieß Shanks fluchend hervor und biss die Zähne zusammen. Das kam unerwartet...
„Das stimmt..", bestätigte Yanna. „Junie hat das immer wiederholt, wenn sie wieder da war: ‚Ich kann es nicht sagen. Ich kann es wirklich nicht', aber was genau hat sie nicht gesagt. Aber bitte, kommen wir zum Ende der Geschichte, ja? Ich pack das nicht länger!" Sie wartete auf das bestätigende Nicken der zwei Piraten und fuhr dann endlich fort - wenn das hier vorbei war, brauchte sie ein ganzes Fass Rum.

„Wie gesagt, Junie war am Ende. Trotzdem hat sie für uns alle einen Fluchtplan ausgearbeitet. Sie hat sich gemerkt, wie die Türschlüssel unserer Zellen aussehen, und in wochenlanger Arbeit Kopien aus Holz angefertigt und an uns verteilt. Eines Nachts, als draußen ein lauter Sturm getobt hat, haben wir Attrappen aus Kleidungsstücken und Decken in unsere Betten gelegt, damit es vom Türspion aus aussah, als lägen wir drin. Als sie Junie nach... der nächtlichen Quälerei wieder ins Zimmer bringen wollten, ist sie ihnen auf halbem Weg abgehauen und hat dadurch den Alarm ausgelöst. Alle Wachen sind ihr nach, hoch aufs Dach. So konnten wir unbemerkt unsere Zellen auf- und wieder zuschließen. Wir haben Lampenöl auf die Gänge gekippt, das Eingangstor aufgeschlossen und sind raus. Zack, der Älteste von uns, hat gesagt, dass Junie einen anderen Ausweg nimmt... und hat es angezündet. Das Tor haben wir wieder verschlossen, damit keiner auf den Gedanken kommt, dass irgendwer geflohen sein könnte. Erst am Waldrand haben wir uns umgedreht... das ganze Gebäude, das am Rand einer Klippe stand, hatte schon angefangen zu brennen. Und dann... dann haben wir Junie ins Meer springen gesehen. Und verstanden, welchen Ausweg Junie gemeint hatte..."

Angestrengt atmete Yanna durch und blinzelte heftig.
„Zack war der einzige, der wusste, was passieren würde. Ich... hab es nicht wahrhaben wollen, aber... anders hätten wir es nie aus der Einrichtung geschafft. Einer musste sich opfern und Junie... hatte ohnehin keine Kraft mehr. Sie wollte es so... dank ihr gelten wir alle bis heute als tot und sind frei, weil keiner sich die Mühe gemacht hat, uns aus dem brennenden Gebäude zu holen. Ich weiß nicht, wie sie es überlebt hat - überall dort unten sind Felsen - aber sie tat es und wurde aufs Meer getrieben. Dort hat ein Schiff aus Curious sie aufgelesen und dorthin gebracht, wo sie zwei Jahre später auf Whitebeard traf. Und jetzt kennst du ihre ganze Geschichte...", beendete die Blonde erschöpft ihre Erzählung und fuhr sich durchs Gesicht. Sie war fix und fertig.

„Ihr habt... mein Kind... IN DEN SELBSTMORD GETRIEBEN?!"
Bens Wut traf sie unvermittelt so heftig, dass es sie buchstäblich von den Füßen riss. Dabei galt sie gar nicht ihr - sein hasserfüllter Blick bohrte sich in Veritas. Im selben Moment schlang sich Shanks Arm kraftvoll um seine Brust und hielt ihn davon ab, sich auf den leichenblassen Mann zu stürzen.
„BEN! Beruhig dich. Das würdest du später bereuen!", stieß der Kaiser angestrengt hervor. So, wie seine Muskeln hervortraten, machte Ben es ihm nicht gerade leicht.
„Einen Scheiß würde ich!", grollte der Grauhaarige, doch er machte auch keinerlei Anstalten, sich direkt gegen Shanks zu wehren.
„Doch, würdest du! Spätestens, wenn du Junie erzählen musst, was du getan hast!" Shanks fing seinen Blick ein und sah ihn unnachgiebig an. „Das hier ist der Falsche. Wenn du jemanden dafür zur Rechenschaft ziehen willst - was ich absolut unterstütze -, dann müssen wir die Leiter höher klettern, verstanden?"
Langsam, sehr langsam verschwand die tobende Wut aus Bens schwarzen Augen und er stieß fast schon resigniert den Atem aus. Shanks ließ von ihm ab, behielt ihn jedoch besorgt und wachsam im Auge. Fahrig zog sein Vize einen Zigarillo aus seinem Hemd und zündete ihn an um sich wieder sammeln zu können. Ein paar Herzschläge war es totenstill im Raum. Dann reichte er Yanna, die noch immer furchtsam auf dem Boden saß, die Hand.

„Tut mir leid, Kleine. Ich hätte die Beherrschung nicht verlieren dürfen...", brummte er bemüht ruhig und zog sie auf die Füße. Yanna ächzte.
„Schon gut. Ich kanns wirklich verstehen... auch wenn ich in meinem ganzen Leben noch nie so viel Schiss vor jemandem hatte", erwiderte sie und versuchte ein Lächeln. Himmel, so gern sie Shanks und seine Crew mittlerweile mochte - wenn sich ihre Wege irgendwann wieder trennen würden, wäre sie nicht lange traurig. Das hier war ihr einfach eine ganze Liga zu hoch.
Oder mehrere.
Keine Ahnung, wie Junie sich in der Gesellschaft von so mächtigen Männern so pudelwohl fühlen konnte.

Als sie wieder stand, wandte Shanks sich sichtlich entspannter ab und trat ernst zu dem noch immer knieenden Mann.
„Geh zurück zu deiner Bürgermeisterin, sie wartet draußen auf dich. Behalt aber alles für dich, was du hier drin gehört hast, verstanden?", fragte er streng. Veritas starrte ihn verständnislos an.
„Aber... aber das hab ich nicht verdient!", stieß er fast schon verzweifelt hervor und sah zu Ben und Yanna.
„Dein Gewissen ist Strafe genug. Sieh es als zweite Chance und nutz sie auch... also los, verschwinde jetzt", bestätigte Ben grimmig und zog heftig an seinem Glimmstängel. Yanna sah ihn an.
„Du wusstest, dass wir Kinder nicht tot sind, stimmts?", vermutete sie plötzlich. „Nur Junies Tod hat dich gequält - und mein Anblick hat dich zwar überrascht, aber nicht umgehauen. Also wusstest du, dass wir nicht im Feuer gestorben sind. Wer weiß es noch?"

Der Angesprochene zuckte zusammen.
„Nur ich. Ich hab mich freiwillig gemeldet, um nachzusehen... kein anderer hat das ausgebrannte Gebäude nochmal betreten. Ich hab gesehen, dass eure Zellen leer waren... aber ich hab gemeldet, dass ihr alle umgekommen seid. Das war alles, was ich für euch tun konnte...", flüsterte er gebrochen.
„Danke... du hast uns zumindest eine Chance auf ein Leben gegeben. Trotzdem hoffe ich, dass ich dich nie wieder sehe!", grummelte die Blonde und verschränkte die Arme vor der Brust. Schon wieder spürte sie gegen ihren Willen, wie ihr Groll auf jemanden schwand. Das war ja nicht zum Aushalten, Junie hatte einen miesen Einfluss auf sie!
Ein letztes Mal sah Veritas sich um, ehe er sich mühsam erhob.
„Es tut mir leid, dass ich nicht mehr getan hab. Wenn es möglich ist, sagt es bitte auch Juniper... es tut mir alles furchtbar leid...", murmelte er, stützte sich schwer auf seinen Stock und verließ das Bootshaus.

Dort herrschte kurz Schweigen, dann zog Shanks den Eternalport hervor und tauschte einen finsteren Blick mit Ben.
„Wir brechen noch heute auf. Mit den Vorräten von Yuvilé kommen wir locker bis zu dieser Insel. Es ist wirklich Zeit, dass diese düstere Geschichte ein Ende findet!", entschied er und sah Yanna prüfend an. Die schluckte zwar, nickte jedoch tapfer.
„Danke, Shanks!", murmelte sie und rieb nervös die Hände an ihre Hose. Also wurde es jetzt ernst, sie steuerten nun das Ziel ihrer Reise an. Sie betete, dass es wirklich ein Schlussstrich sein würde - und vor allem Junie dabei helfen konnte, ihren Geist zu befreien.
„Ich spreche mit Dan. Vielleicht finden wir eine Möglichkeit, es Junie leichter zu machen", stimmte Ben nicht minder entschlossen zu. Er würde Himmel und Hölle in Bewegung versetzen, um seiner Tochter zu helfen... nachdem er nun wusste, was sie alles durchgemacht hatte, sah er die Dringlichkeit dahinter nur umso deutlicher. In einem Kopf wie ihrem konnte Verdrängung nicht auf Dauer gut gehen - und so schmerzhaft es auch sein würde, es musste raus aus ihr, bevor es noch mehr Unheil anrichten konnte.

Angestrengt rieb er sich über die Schläfen.
„Ich könnt was zu trinken vertragen...", brummte er, was Shanks schief Lächeln ließ. Gemeinsam gingen sie nach draußen.
„Ich leiste dir gern Gesellschaft... stößt du dann auch zu uns?", wandte er sich an Yanna.
„Aber sowas von. Sobald ich Junie erlöst hab", bestätigte sie sofort.
„Kann ich helfen?", fragte Ben besorgt, doch die Blonde schüttelte den Kopf.
„Nein, ist schon in Ordnung. Bins gewöhnt... und vielleicht ist das ja dann das letzte Mal..." Zaghaft optimistisch sah Yanna auf die Red Force.

Sie hoffte es wirklich...

Das Feuer des Lebens (Überarbeitet)Where stories live. Discover now