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1. Kapitel: Harper

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Zerstreut saß ich an meinem Schreibtisch und starrte unentwegt auf die immer noch leeren Zeilen auf dem Bildschirm, die ich zwischenzeitlich längst mit Inhalt hätte füllen sollen. Seit ich hier saß – exakt eine Stunde, wie die kleine Uhr am Bildschirmrand mir unmissverständlich mitteilte –, hatte ich kein einziges Wort geschrieben, obwohl die Deadline für dieses Essay immer näher rückte. Normalerweise fiel es mir leicht, mich auf meine vier Buchstaben zu setzen und mich bis zum Hals in dicken Fachbüchern aus der Bibliothek zu verkriechen, aber heute blieb mir das Mysterium verschlossen. Wie ein in sich zusammenfallendes Kartenhaus sank ich schlapp auf meinem Stuhl zusammen, und mit einem Schlag resignierte mein Geist ob der unüberwindbaren Herausforderung.

Ich klappte mein Notebook zu und lehnte mich so weit auf meinem Schreibtisch nach vorne, dass ich die verschlungenen Seile der Manhattan Bridge unweit meines Zimmers erkennen konnte. Für ein Studentenwohnheim der Columbia war die Aussicht fabelhaft.

Und während die Fahrzeuge wie Spielzeugautos über die Brücke fuhren, schrie wie so oft die Stimme meines Vaters durch meinen Kopf. Natürlich wusste ich, wohin meine Motivation verschwunden war. In einen erneuten Streit mit meinen Eltern über meine fragwürdige Entscheidung, selbstständig leben zu wollen. Warum schlug sich Mom bloß immer auf seine Seite? Wo blieb denn dabei ihr sonst omnipräsentes Rückgrat?

Wieso begreift ihr es einfach nicht?

Dass ich kein Kind mehr war, das um jeden Preis behütet werden musste. Dass ich mein Studium der Medizin bereits bis ins vierte Semester überlebt hatte, musste doch Beweis genug für mein Erwachsenwerden sein.

Du hast es so gut hier, fernab von dem Dreck und dem Abschaum, der die Stadt seit Jahren überflutet.

Aber genau darum ging es mir.

Ich will ein eigenständiges Leben führen. Dazu gehört eben auch, mit vierundzwanzig Jahren endlich auszuziehen und meine eigenen Wege zu gehen.

Einen Teufel würde ich tun, mich wieder davon abbringen zu lassen. Abgesehen davon hätte es mich umgebracht, auch nur einen weiteren Tag in ihrem protzigen Haus zu verbringen. Dem Haus, in dem ich mit jedem Atemzug die Fassade einer perfekten Tochter aufrechterhalten musste. Auszuziehen war die beste Entscheidung meines Lebens gewesen. Auch wenn ich mich zu meinem großen Missfallen trotz allem ab und an bei irgendwelchen albernen Familienfesten blicken lassen musste – sofern ich mich nicht erfolgreich drücken konnte.

Menschen, die mich nicht kannten, hätten wohl gesagt, dass diese Vorstellung ziemlich versnobt war, zumal mir der Studienplatz in der Ivy League allein durch meinen Familiennamen bereits sicher gewesen war. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich um meinen Platz dort gekämpft, wie alle anderen auch. Jemand Außenstehendes hätte garantiert mit dem Kopf geschüttelt, wenn ich das erzählt hätte, dennoch änderte es nichts an der Wahrheit. Klischeehaft oder nicht, manchmal beneidete ich die Leute, die aus ärmeren Verhältnissen stammten als ich.

Der Gedanke, anders und normaler zu sein, begleitete mich an manchen Tagen durchgehend. Ich wollte mich nicht durch meine Eltern definieren, meine eigenen Erfolge schaffen, ganz ohne Nachhilfe. Doch leider war das nicht immer leicht. Zähneknirschend musste ich akzeptieren, dass meine Eltern meine Unkosten für die Universität beisteuerten. Der Job in einem Café, den ich mir damals gesucht hatte, hätte die Kosten nie allein decken können. Also musste ich vorerst mein Schicksal akzeptieren. Irgendwann, wenn ich selbst erfolgreich war, würde ich meinen Eltern jeden einzelnen Dollar zurückzahlen, den sie für mich ausgegeben hatten.

Sie konnten froh sein, dass ich überhaupt ihrem Wunsch entsprochen hatte, entweder Jura zu studieren, was mein Vater getan hatte, oder ebenfalls Medizinerin zu werden wie meine Mutter. Es war nicht so, dass ich mich nur wegen meiner Eltern für dieses Studienfach entschieden hatte, denn ich hatte mich aus freien Stücken dafür eingeschrieben. Schon seit ich denken konnte, war es mein Traum gewesen, anderen Menschen zu helfen. Und obwohl sich Mom demselben Beruf verschrieben hatte, wollte sie als Schönheitschirurgin viel lieber ihrer Brieftasche dabei helfen, noch fetter zu werden.

The Shadows on your Soul (ehem. Primed for Sin) #Wattys2020Kde žijí příběhy. Začni objevovat