Kapitel 142 - Georg

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Georg war stolz auf sich. Als jüngstes von sechs Kindern, aber als erstes sollte er aufs Gymnasium gehen. Das war nicht geplant gewesen, alle seine Geschwister besuchten die Hauptschule oder machten schon eine Lehre. Albert, sein ältester Bruder, der den elterlichen Hof übernehmen sollte, ging auf die Landwirtschaftsschule.

Doch der Pfarrer hatte seine Eltern überredet, ihren Jüngsten ins Internat nach Niederaltteich zu schicken, er würde sich sogar an den Kosten beteiligen, sich außerdem um Zuschüsse von der Kirche kümmern.

Er hatte das Potenzial bei dem Jungen erkannt, hoffte, er würde Priester werden. Georgs Familie war sehr fromm, es wurde viel gebetet, der Gottesdienst am Sonntag war immer sehr schön für den Kleinen, alles so feierlich, so ruhig, so innig.
Er war ein stiller Junge, der viel nachdachte, der nicht wie die anderen ständig raufte oder durchs Dorf zog, um Unsinn auszuhecken.

Er half seinen Eltern, wo er nur konnte, war immer folgsam, las viel.

Im Internat gefiel es ihm gut. Er durfte Klavierspielen lernen, war musikalisch sehr begabt, seine Stimme wurde geschult, er sang gerne im Chor, übernahm bald die Soli. In der Schule war er Klassenbester, alle mochten ihn trotzdem, denn er war ausgeglichen und wurde immer fröhlicher.

Als er sechzehn war, hätte er ein paar Antworten gebraucht, was mit seinem Körper los war, warum seine Augen immer nach Mädchen suchten, warum er sie so gerne ansah, warum sein Körper so reagierte. Aber Aufklärung war nicht vorgesehen in einem kirchlich geführten Internat.

Doch schließlich gab ihm Robert, ein Freund aus der 12. Klasse, alle Auskünfte, die er haben musste.
„Soll ich dich mal zu einem Mädchen mitnehmen?" fragte Robert ihn eines Tages.

Georg bekam einen roten Kopf, wollte aber unbedingt erleben, wovon der Ältere ihm so detailgetreu erzählt hatte. So stimmte er zu.
In der Nacht schlichen sie sich zu Petra, die für ein paar Mark bereit war, ihren Rock hochzuheben.

Was er da erlebte, ließ ihn lange nicht mehr los. Das war schön gewesen, das wollte er wieder machen. Aber dann durfte er nicht Priester werden, wenn ihm das mit den Frauen so gefiel! Doch genau das erwarteten sein Eltern und sein Gönner von ihm!

Er fuhr weniger oft nach Hause, sparte das Fahrgeld lieber für Besuche bei Petra. Sie brachte ihm auch ein paar Tricks bei, Hintergrundwissen, dass ihm Robert nicht hatte vermitteln können.

Als er achtzehn war, durfte er hin und wieder auf Feuerwehr- oder Kirchweihfeste. Da merkte er schnell, dass er den Frauen gefiel, dass er auch das eine oder andere Abenteuer haben konnte, ohne dafür zu bezahlen, noch dazu, da er eben über dieses Hintergrundwissen verfügte, das die Damen durchaus zu schätzen wussten.

Nach dem Abitur beschloss er, der Form halber Theologie und Musikwissenschaften zu studieren, aber Priester würde er mit Sicherheit nicht werden. Eher Religionslehrer oder Klavierlehrer, etwas in der Richtung.

Dann, mit 21, verliebte er sich. Mit Haut und Haaren, voll und ganz! Ein Jahr lang schwebte er auf Wolke sieben, bis er sie durch einen dummen Zufall mit einem anderen erwischte. Er wollte ein paar Tage seine Familie besuchen, doch als er ankam, lagen alle mit Brechdurchfall im Bett. Sie schickten ihn gleich wieder weg, damit er sich nicht ansteckte.

Auch nicht schlimm! dachte er. Ein paar Tage mit meiner Süßen!

Glücklich sperrte er die Türe seines Studentenappartements auf, in dem sie bei ihm lebte. Glücklich rief er nach ihr und fand sie im Schlafzimmer, wo sich zwei Menschen hektisch bemühten, in ihre Kleidungsstücke zu schlüpfen.

Wortlos verließ er die Wohnung, als er betrunken zurück kam, war sie verschwunden mit all ihren Sachen.

In den nächsten Wochen litt er wie ein Hund, schloss mit den Frauen ab, fand zu seinem alten Entschluss, Priester zu werden, zurück.

Wenn er männliche Bedürfnisse verspürte, suchte er eine Nutte auf, die es billig und manchmal, wenn sie zugedröhnt war, auch ohne Gummi machte.
Er wusste, dass er mit dem Feuer spielte, aber ihn reizte auch die Gefahr ein wenig. Zu dem lag ihm nicht mehr so viel am Leben, seit er seine Liebe verloren hatte.

Dann war Simone von einem Tag zum anderen verschwunden, er bekam doch Angst, ließ sich testen, war dankbar, dass er sich nichts eingefangen hatte.

Von da an ließ er auch von den Nutten die Finger, wandte sich wieder voll und ganz Gott zu. Er machte schnell Karriere, bekam mit knapp 40 die Stelle des Chorleiters des weltberühmten Knabenchores.

Bei der ersten Probe fiel ihm ein Junge auf, der ihm seltsam bekannt vorkam. Immer wieder blieb sein Blick auf dem hübschen Solosänger liegen. Er grübelte und grübelte, was an ihm so Besonderes war.

Er hatte ihn auch im Klavier-Einzelunterricht, war fasziniert von seiner Begabung.
Phillip Bergmann! Nichts klingelte in seinem Kopf bei diesem Namen.

Er nahm sich den Schülerakt vor. Eltern: Dr. Tom Bergmann und Sina Bergmann, geb. Christen.

Gut, von den beiden hatte er schon gehört und gelesen. Sie leiteten den Verein Kids Health, der sich gegen Drogenmissbrauch engagierte.
Anzahl der Geschwister: fünf! las er. Eine große Familie!
Er sprach mit dem Schulleiter über Phillip, versuchte, mehr Informationen, auch über die Familie, zu bekommen.

Der Chef rückte nach und nach mit Teilen der Geschichte des Jungen, seiner Geschwister und Eltern heraus.

„Die Kinder sind alle adoptiert, die leiblichen Kinder der Bergmanns, Zwillinge, sind von der Schwester Frau Bergmanns ermordet worden."

Georg konnte sich an den Fall erinnern, der vor Jahren im ganzen Land einen Aufschrei des Entsetzens hervorgerufen hatte. Mein Gott, wie hatten die beiden das überleben können!

„Und sie haben auch nach dem Tod der Kinder noch drei weitere adoptiert! Es sind unglaubliche Menschen!" berichtete der Chef.

„Und weiß man etwas über Phillips Eltern?" bohrte Georg weiter.

„Nein, das ist Verschlusssache beim Jugendamt!" Der Schulleiter hatte schon noch ein paar Informationen, aber die waren ihm von einer Mitarbeiterin des Amtes verraten worden, die ihm das Versprechen abgenommen hatte, sie für sich zu behalten.

Georg ging in seine kleine Wohnung nach oben.
Warum brachte er diesen Jungen nicht aus dem Kopf?

Immer wieder musste er ihn ansehen, bei den Proben, beim Klavierunterricht!
Er wollte ihn berühren, ihm nahe sein, aber das hatte überhaupt keine sexuellen Hintergründe, er stand weder auf kleine noch auf große Jungen.

Er spürte, wie unangenehm Phillip sein Interesse war, klar, die Jungs bekamen jeden Tag neue Missbrauchsmeldungen serviert, die hatten Angst!
Er versuchte sich in den nächsten Tagen wenigstens mit Berührungen zurückzuhalten.

Dann kam eines Tages die Lautsprecherdurchsage des Chefs: „Herr Dr. Bacher, kommen Sie bitte ins Direktorat!"

Ohne sich etwas dabei zu denken, betrat er den Raum des Schulleiters.

Auf den Besucherstühlen saßen die Eltern Phillips.


Es lohnt sich zu kämpfenWhere stories live. Discover now