Kleiner Hai

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„Nein...keine Mama...", vernahm Charlie eine Kinderstimme aus der Spielecke nur wenige Meter entfernt. „..Filip, wir spielen Mutter, Vater, Kind....natürlich gibt es da eine Mama", erklärte eine andere vehemente Stimme, welche sie sogleich Edda zuordnen konnte. Ein kleines vierjähriges Mädchen, ihr Vater ein bodenständiger Schreiner, ihre Mutter Zahnarzthelferin, jedoch aufgrund ihrer Schwangerschaft derzeit im Beschäftigungsverbot „...Aber... nein...es...du könntest genauso die Nanny sein.", erklärte Filip mit Nachdruck, was das kleine Mädchen hörbar schnauben ließ: „Eine richtige Familie hat aber nun einmal eine Mama". „Das stimmt nicht...ich habe auch keine Mama". „Dann hast du auch keine richtige Familie", fuhr Edda mit kindlicher Leichtigkeit fort. Eine für sie vollkommen logische Schlussfolgerung, welche Charlie jedoch unwillkürlich einen Stich versetzte. Doch schlagartig hielt sie inne, sah auf, geplättet von Filips beinahe gelassener Selbstverständlichkeit: „Dann habe ich eben eine falsche Familie...". Dieser Junge war unglaublich und zweifelsohne der Sohn seines Vaters.

„Charlie, fang mich", rief Mia freudig aus, tippte Charlie an und hechtete hastig davon. Charlie lachte leise, schüttelte zaghaft den Kopf und beobachtete das Mädchen, welches eilig über das Gelände des Spielplatzes rannte.

„Aaaaaauuaaaaaaaa", drang plötzlich ein spitzer Schrei an Charlies Ohren, ließ sie abrupt aufsehen. Auf dem Boden neben der Nestschaukel der kleine zierliche Junge, das Gesicht schmerzverzehrt, sein Schrei herzzerreißend. Scheiße! Eilig hastete sie los: „Filip!"

Charlie: Patryk, ruf mich bitte zurück. Es ist dringend!

Charlie: Wir sind im Vinzentius-Krankenhaus. Filip ist gestürzt...Es geht ihm gut. Aber bitte melde dich!

„Du bekommst jetzt erst einmal etwas gegen die Schmerzen, kleiner Mann...Sie sind seine Mutter?", erkundigte sich der junge Arzt aufmerksam und sah sie erwartungsvoll an. Rasch schob Charlie das Smartphone in ihre Tasche, schüttelte zaghaft den Kopf: „Ich bin die Erzieherin. Seinen Vater haben wir leider noch nicht erreicht." „Papa,...Papaaa....wo ist Papa?", wimmerte der kleine Junge eingeschüchtert, seine Wangen feucht, seine Augen verquollen, die kleine Brille zusammengelegt neben ihm auf der Liege. „Er ist sicher gleich da, Filip...und solange passe ich auf dich auf. Okay?", lächelte sie sanft, strich ihm behutsam über den Oberschenkel. Schniefend sah er auf, während sich eine Träne langsam über seine Wange schlängelte: „Ich will auch eine Mama...". Charlie schluckte fest, spürte, wie sich ihre Brust schmerzlich zusammenzog. Wo zur Hölle blieb Patryk?

„Der junge Mann hat eine Unterarmfraktur...nichts Dramatisches.", erklärte der Arzt ruhig und warf Filip ein beruhigendes Lächeln zu. Filip schniefte, musterte ihn argwöhnisch mit seinen großen grauen Augen, bevor er sich dichter an Charlie schob, beinahe auf ihren Schoß kletterte. „Hast du eine Lieblingsfarbe?", fragte der Arzt unbeirrt weiter und ließ sich auf dem Hocker vor dem kleinen Jungen nieder. „Du hast doch eine Lieblingsfarbe, Filip, oder?", schaltete Charlie sich ruhig ein, beobachtete ihren Schützling dabei aufmerksam. „...flüsterst du sie mir ins Ohr, damit ich sie dem Doktor sagen kann?", fuhr sie leise fort, versuchte so den Arzt in seiner Arbeit zu unterstützen. Bedächtig sah der kleine Junge auf, zögerte, bis er seinen Rücken durchstreckte und ihr tatsächlich eine Farbe ins Ohr flüsterte. „Dunkelblau?", wiederholte Charlie die Worte, was ihn schüchtern nicken ließ. Der Arzt schmunzelte: „Das schaffen wir."

„Filip...", ertönte eine heisere, von Sorge erfüllte Stimme, als sie den Flur des Krankenhauses betraten. Patryk! „Papa...", flüsterte der kleine Junge mit brüchiger Stimme, bevor Patryk eilig auf ihn zutrat, in die Knie ging und seinen Sohn erleichtert in seine Arme schloss. Prüfend sah er an ihm hinab, begutachtete missmutig den dunkelblauen Gipsverband, welcher seinen kleinen Arm zierte, seine Kiefermuskeln sichtlich verhärtet. „Er ist von der Schaukel gefallen", erklärte Charlie mit ruhiger Stimme. „Eine Unterarmfraktur. In zwei bis drei Wochen wieder wie neu...". Patryk atmete tief durch, richtete sich auf und sah ihr unvermittelt in die Augen, sein Blick eiskalt: „Es kann doch nicht so schwierig sein für ein paar Stunden auf ein Kind aufzupassen...vielleicht einfach mal weniger quatschen und mehr aufpassen", knurrte er gefährlich. Erschrocken, fassungslos sah Charlie ihren Gegenüber an, schluckte fest. War das sein scheiß Ernst? „...das sind Kinder, Patryk...das passi..." „...und ihr habt verdammt nochmal eine Aufsichtspflicht.", fiel er ihr schroff ins Wort. Charlie schnaubte, schüttelte verständnislos den Kopf: „...vielleicht solltest du dir einfach mal Gedanken darüber machen, wer die letzten zwei Stunden bei deinem Sohn war, während du nicht erreichbar warst und ‚gearbeitet' hast...", konterte Charlie beherrscht und setzte zum Gehen an: „...Das muss ich mir nicht geben...".

Eine unverhoffte Berührung an ihrer Hand ließ sie innehalten. Vollkommen perplex sah sie an sich hinab, erblickte ausgerechnet Patryks Hand, welche ihre fest mit seiner umschloss.

Überrascht hob sie eine Augenbraue, schaute fragend in seine hellgrauen Augen. Der Ausdruck darin außergewöhnlich sanft, während dessen Iridien sichtbar aufblitzten. Ein seltsames, ihr gänzlich unbekanntes Glitzern: „Du hast Recht...Entschuldige....", flüsterte er kaum hörbar und wich unvorhergesehen ihrem Blick aus, wobei er jedoch die Berührung seiner kühlen, beinahe schwitzigen Finger an den ihren auf ungewöhnliche Weise intensivierte. Eine Tatsache, eine kleine Geste, die Charlie zugegebenermaßen aufs Äußerste verwirrte.

„Papa,...ich...ich glaube ich habe nicht aufgepasst. Du darfst auf Charlie nicht böse sein...", wisperte der kleine Junge neben ihnen mit brüchiger Stimme. Nahezu ertappt sah Charlie auf, riss sich mühevoll zurück in die Realität, entzog ihm intuitiv ihre Hand. War Patryk Mazur grade tatsächlich ihrem Blick ausgewichen? „...sie ist sogar mit mir im Krankenwagen gefahren...sogar mit Sirene...sie ...sie hat auf mich aufgepasst, als du nicht da warst...". „Komm her", forderte Patryk an seinen Sohn gewandt, seine Stimme ruhig, während er ihn behutsam auf seinen Arm hob. „Ich bin nicht böse, ich habe mir nur Sorgen um meinen kleinen Hai gemacht..." „...ein Hai mit kaputter Flosse", warf Filip schmunzelnd ein und hob seinen Gipsarm in die Höhe, was nun auch Charlie leise lachen ließ . Patryk atmete tief durch, schien regelrecht aufzuatmen: „Komm, ich fahre dich zurück." Charlie warf einen Blick auf die Uhr, zuckte mit Schultern: „Ich glaube das lohnt sich nicht mehr." „Dann wohin du willst", zwinkerte er, bedachte sie erneut mit diesem undefinierbaren Blick und trat mit seinem Sohn auf dem Arm Richtung Ausgang.


DarkSide - Femme FataleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt