01 Lia

161 10 1
                                    

Ich war kurz davor den Glauben an die Liebe aufzugeben.
Ich beobachtete meine beste Freundin Josie dabei, wie sie sich ihr weißes Spitzenkleid anzog und darüber sinnierte, wieso sie zu einer White Party etwas so Grauenhaftes anziehen sollte. Dabei hatte sie keine Ahnung, dass ihr Freund im Restaurant zwei Decks über uns mit einem funkelnden Verlobungsring auf sie wartete.
Früher hatte ich gedacht, ich würde auch irgendwann heiraten. Ich hatte geglaubt, dass irgendwo ein Mann auf mich wartete, der mich so lieben würde wie ich war, und mir irgendwann einen glitzernden Diamantring anstecken würde, der auf wundersame Weise all meine Sorgen und Ängste in Luft auflösen würde.
Doch nach einer gescheiterten Beziehung und zwei Jahren Single-Dasein war ich mir sicher, dass es auf dieser Welt niemanden gab, der mit mir auskommen würde.
„Wieso muss ich das anziehen?", fragte Josie erneut. „Kann ich nicht einfach eine weiße Bluse anziehen?"
„Nein, kannst du nicht", antwortete ich bestimmt und stopfte ein rosa Tuch in meine Handtasche, dass ich später um meine Schultern wickeln konnte, wenn es kälter wurde.
Josie verzog das Gesicht zu einem Schmollmund. „Ich hasse weiß. Ich werde beim Essen kleckern und dann ist das schöne Kleid versaut."
Sie verengte die Augen und musterte mich. „Dein Kleid ist gar nicht weiß."
„Es ist weiß und rosa", erwiderte ich. „Das wird schon gehen."
Josie hatte sich geweigert, ein weißes Kleid einzupacken, deshalb trug sie jetzt mein Kleid und ich musste auf ein Ersatzkleid zurückgreifen.
Josie seufzte und sah sich in der Kabine um. „Wo zum Teufel sind meine Schuhe?"
Wir befanden uns auf einem Schiff mitten auf der Nordsee, irgendwo zwischen Dänemark und Norwegen. Es war unser letzter Abend an Bord, ehe wir morgen Mittag wieder an Land anlegen würden.
Es war keines der großen Kreuzfahrtschiffe, sondern ein eher kleines, auf das nur ein paar hundert Passagiere passten.
Die Reise war jetzt in der Nebensaison ein absolutes Schnäppchen gewesen.
„Seid ihr so weit?" Josies Freund Lukas streckte den Kopf durch die Kabinentür.
„Eine Minute, ich finde meine Schuhe nicht - ah, da sind sie ja."
Ich öffnete die Tür ganz und lächelte Lukas zu, der etwas nervös wirkte.
„Die anderen sind schon oben", erklärte er.
„Ich gehe schon mal vor."
Das war das Startsignal, das wir ausgemacht hatten und ich zwinkerte ihm zu, als er die Kabine verließ.
Josies Bruder Jan, seine Freundin Ellie, Josies Eltern und Noah warteten im Restaurant auf uns. Ihre Eltern waren erst heute Morgen bei unserem letzten Stopp an Board gekommen und Josie hatte keine Ahnung, dass sie hier waren.
Der Kapitän des Schiffes war ein langjähriger Freund der Winters und hatte zum Glück bei unserem Plan mitgeholfen.
Da wir die Reise relativ kurzfristig geplant hatten und Lukas uns noch kurzfristiger in seinen Plan, Josie einen Antrag zu machen, eingeweiht hatte, war uns nur wenig Zeit geblieben, alles perfekt zu planen.
Doch bis jetzt hatte glücklicherweise alles funktioniert und Josie ahnte absolut gar nichts.
Ich freute mich wahnsinnig für sie und Lukas. Die beiden waren in meinen Augen ein absolutes Traumpaar und dass Lukas sie nach bereits zwei Jahren Beziehung heiraten wollte, keine Überraschung.
Jan hingegen, der die Beziehung zwischen seinem Freund und seiner kleinen Schwester nur schwer verdaut hatte, war im Gegensatz zu mir aus allen Wolken gefallen. Ich vermutete, dass er sich sogar ein bisschen unter Druck gesetzt fühlte, da er und Ellie schon länger zusammen waren.
Josie zog endlich ihre Schuhe an und zusammen liefen wir zu dem kleinen Restaurant, das dank des Kapitäns heute nur für uns reserviert war.
Die White Party hatten wir uns nicht ausgedacht, sondern sie fand tatsächlich statt. Nur eben im Hauptrestaurant bei den anderen Gästen.
Nach dem Antrag würden wir in Ruhe essen und danach zur Party gehen.
Josie schwieg auf dem Weg und meine Gedanken schweiften ab zu den tausend Aufgaben, die ich dieses Wochenende noch zu erledigen hatte, sobald ich morgen Abend wieder zuhause sein würde.
Die Fotos vom Shooting der Webers nachbearbeiten, meine Bewerbung für die Kunstausstellung an der Hochschule fertig machen, Mona beim Backen für das Sommerfest auf Gut Greifenhof helfen, das Shooting von Donnerstag vorbereiten ...
„Wieso ist es hier so leer?", riss Josie mich aus meinen Gedanken.
Ich blieb an der Tür vor dem Restaurant stehen und ließ Josie zuerst den Raum betreten.
Wir hatten das Restaurant schlicht dekoriert. Alle Tische waren zur Seite geräumt, nur in der Mitte stand ein großer Tisch für uns. Von der weißen Tischdecke hob sich ein eleganter Strauß aus rosa Rosen und weißem Schleierkraut ab und goldenes Geschirr verlieh dem ganzen Eleganz und leise Musik spielte im Hintergrund.
„Geh schon", raunte ich und schubste meine beste Freundin leicht nach vorne.
„Was soll das hier?", fragte sie und blieb wie angewurzelt stehen, als sie ihre Eltern bemerkte.
„Was macht ihr denn hier?"
Lukas trat auf sie zu und griff nach ihren Händen. Während er sie in die Mitte des Raumes führte, schlich ich an den beiden vorbei und stellte mich neben Noah, der mich kurz anlächelte.
Noah war mein bester Freund.
Als meine Mutter mich mit einundzwanzig rausgeworfen hatte, war ich mitten in der Nacht auf dem Gutshof seiner Mutter aufgetaucht, war auf der Treppe gegen ihn geknallt und er war mit dem Kopf auf der Treppenstufe aufgeschlagen.
Die Platzwunde wurde mit drei Stichen genäht und verheilte und Noah und ich waren ab diesen Moment unzertrennlich.
Einen kurzen Moment lang glaubte ich sogar, er wäre der Mann, der mir irgendwann einen Diamantring anstecken und all meine Probleme lösen würde.
Doch seit zwei Jahren waren wir keine besten Freunde mehr, behandelten uns höflich, freundlich und distanziert und taten nach außen hin so, als wäre alles in Ordnung.
Aber das war es nicht und würde es auch nie wieder sein.
Ich lächelte ihn kurz an und wandte sofort den Blick wieder ab. Ich wünschte mir nichts mehr, als dass zwischen uns beiden wieder alles wieder in Ordnung kommen würde, doch wir hatten uns beide in den letzten Jahren verändert und egal was passieren würde, beste Freunde würden wir nie wieder sein. Dafür war zu viel geschehen, und zu viel stand zwischen uns.

Lukas kniete sich vor Josie auf den Boden und ihr Blick verwandelte sich von Verwirrung in Verständnis.
Lukas sagte ein paar Worte über die Zeit vor zwei Jahren, als er aus Amerika zurückkehrte und sie wiedertraf, ehe er ihr die entscheidende Frage stellte.
Ich schob das beklemmende Gefühl in meiner Brust zur Seite, dass sich in mir breitmachte, als ich an den Tag zurückdachte, an dem die beiden endlich zueinandergefunden hatten. Es war derselbe Tag, an dem Noah und ich einen Autounfall hatten und ich mein Baby verlor. Seit diesem Tag war mein Leben nicht mehr so, wie es mal gewesen war. 
Josie weinte und küsste Lukas, während sie immer wieder „Ja" sagte und ich schluckte die negativen Gefühle hinunter und konzentrierte mich auf die frisch Verlobten.

Ein, zwei oder vielleicht auch drei Gläser Wein später kam ich endlich in dieselbe Feierlaune wie meine Freunde. Mittlerweile waren wir auf der White Party und sie feierten ausgelassen.
„Du wirst meine Trauzeugin, oder?" Josie grinste mich glücklich an.
„Aber natürlich." Ich umarmte sie freudig. „Ich würde nichts lieber machen, als deine Trauzeugin zu sein."
„Ich kann es immer noch nicht glauben", schwärmte sie. „Ich werde wirklich seine Ehefrau. Kannst du das glauben, Lia? Ich werde heiraten!"
„Darauf sollten wir definitiv nochmal anstoßen." Ellie hielt uns beiden jeweils ein Glas Sekt entgegen. Wir stießen an und kurz darauf kamen die Jungs zu uns, die Lukas feierten.
Verstohlen musterte ich Noah.
Er war durchtrainiert und dank der letzten Tage in der Sonne braun gebrannt. Statt mit den anderen anzustoßen, tippte er geschäftig auf seinem Handy herum und ich frage mich, ob das geschäftlich war oder ob er mit einem Mädchen schrieb.
Ich hatte keine Ahnung, was in seinem Leben vor sich ging. Ich wusste, dass er die Bar gekauft hatte, in der er während seines Studiums gejobbt hatte und soweit ich es wusste, lief es unglaublich gut für ihn. Die Bar mit angeschlossenem Restaurant, dass er inzwischen zusammen mit Jan führte, florierte.
Mona und Chris, seine Eltern, in deren Gästehaus ich wohnte, sprachen manchmal darüber, wie gut es ihm ging, aber ich versuchte dann so gut es ging, nicht hinzuhören.
Nach dem Unfall und meiner Fehlgeburt hatte er mich im Stich gelassen.
Mona sagte, er gäbe sich die Schuld dafür, aber gesprochen hatten wir nie darüber.
Er war mir so lange aus dem Weg gegangen, bis ich irgendwann nicht mehr versuchte, mit ihm zu reden und ihn und unsere Freundschaft aufgab.
Urplötzlich wandte Noah den Kopf zu mir und fing meinen Blick auf.
Ich bemerkte es nicht schnell genug und sah nicht schnell genug weg.
Sein ernster Gesichtsausdruck wurde eine Spur weicher, doch länger als zwei Sekunden hielt ich seinem Blick nicht stand.
Ich hatte Noah schon immer attraktiv gefunden, aber seit er regelmäßig trainierte, hinterließ der Anblick seines Körpers ein heftiges Kribbeln in meinem Unterleib, was ich mir selbst kaum erklären konnte. Ich stand nicht auf ihn.
Er hatte mich allein gelassen, als ich ihn am meisten brauchte.
Als ich wieder zu ihm rüber sah, war das Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden und er war wieder der unnahbare Noah.

Verlass mich nichtWhere stories live. Discover now