𝓚𝓪𝓹𝓲𝓽𝓮𝓵 3: 𝓘𝓶𝓪𝓰𝓲𝓷𝓪𝓽𝓲𝓸𝓷

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Der Regen strömte unbarmherzig auf die Stadt hernieder und verwandelte die Straßen und Gassen Danglors in kleine Bäche, die sämtlichen Müll und Unrat mit sich rissen. Ein Blitz jagte den nächsten, dicht gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnergrollen. Der Sturm hatte seinen Höhepunkt erreicht und entfaltete seine komplette Kraft.

Kalia presste sich zitternd an Terik, als sie spürte, wie die Nässe durch ihre Kleidung drang und ihren Körper mit eisiger Kälte zu umhüllte. Die beiden Kinder hockten weiterhin in der kleinen Seitenstraße, gut verborgen hinter ausrangierten und kaputten Kisten, die hier irgendwann einmal abgestellt wurden und nun langsam verrotteten. Serana hingegen kauerte nur eine Armlänge neben Kalia an einer steinernen Hausmauer und wippte mit ihrem schmächtigen Körper verängstigt vor und zurück. Sie war eindeutig nicht erpicht darauf zu erfahren, welche Beobachtungen ihre Freunde hier anstellten. Ganz im Gegenteil.

„Was machen die hier?", wurde die Frage leise von Kalia gestellt und wischte sich dabei über das blasse Gesicht, um eine nasse Haarsträhne hinter ihr Ohr zu verbannen.
Der Junge hingegen zuckte nur ahnungslos mit den Schultern und hob freudig die Mundwinkel empor. Kalia konnte es ihm von der Nasenspitze an ansehen, dass er seine Begeisterung kaum im Zaume halten konnte. Ein Enthusiasmus, den das Mädchen weder teilen noch nachvollziehen konnte.

„Ich habe keine Ahnung, aber, es muss wichtig sein, wenn der Marder höchstpersönlich auftaucht.", flüsterte Terik leise, ohne den Blick auf die Gruppe, welche sich in der nächsten liegenden Seitengasse befand, abzuwenden. Er machte 16 Individuen aus, wobei er nur vier von ihnen erkannte und eindeutig der Gosse zuordnen konnte. Der Rest war ihm vollkommen unbekannt. Eine Person stand dabei im Zentrum seiner Aufmerksamkeit sowie seiner reinsten Begeisterung.

Mit seinem rotbraunen Haar, dem eingefallenen Gesicht sowie den dunklen Augen war der Mann, den sie alle, nur den Marder nannten, unverkennlich. Er hatte sich in einen dunklen Umhang gehüllt, der seine Gestalt beinahe perfekt verbarg und auf dem Kopf trug er einen ledernen Dreispitz, dessen Feder schlapp herab hing. Seine Statur war alles andere als hochgewachsen oder breit gebaut, dennoch besaß dieser Mann eine düstere Ausstrahlung, von der jeder nur zu gerne Abstand nahm.

Nervös kaute Terik auf seiner Unterlippe herum, während sein Herz vor Aufregung mit aller Kraft gegen seine Brust hämmerte. Er beobachtete, wie sich ein unbekannter Mann mit Glatze vor dem Marder aufbaute und diesem beinahe um einen Kopf überragte. Er kannte den Glatzkopf nicht, jedenfalls konnte sich der Junge nicht entsinnen, diesen Kerl jemals hier in der Gosse gesehen zu haben.

Sie sprachen miteinander, doch jedes Wort wurde dank des prasselnden Regens sowie des pfeifenden Windes im Keime erstickt. Ein durchaus ärgerlicher Umstand, denn Terik würde dafür sterben, um zu erfahren, was die Männer hier gerade besprachen. Auch wenn er keines der gesprochenen Worte vernehmen konnte, so fühlte der Junge nur zu deutlich die Angespanntheit, welche von den beiden Parteien ausging. Hier musste etwas sehr Wichtiges im Gange sein, davon war Terik mehr als überzeugt. Nicht umsonst wurde dieses Treffen bei solch Wetter in einer dreckigen Gasse geführt, sowie im Schatten einer noch andauernden Hinrichtung, jenseits des Ostufers.

Die Konversation zwischen dem Marder und dem Fremden war durchaus kurzweilig, als der Glatzkopf plötzlich eine schlichte Umhängetasche von der Schulter streifte und dem Marder entgegenwarf. Dieser fing die Tasche mit Leichtigkeit auf und warf sogleich einen Blick in deren Innerstes.

Teriks Augen begannen zu leuchten, als er glaubte, hier ein dreckiges Geschäft beobachten zu können. Er spürte förmlich, wie das Adrenalin durch seinen Körper strömte und sein gesamter Körper vor Aufregung zu beben begann. Die Finger des Jungen krallten sich regelrecht in das morsche Holz der Kisten, als er darüber sinnierte, eine bessere Position einzunehmen und sich unbemerkt der Gruppe weiter zu nähern.

„Wir sollten lieber von hier verschwinden. Wenn sie uns entdecken, bringen sie uns um.", zischte Kalia zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und begann, Terik kurz sowie kräftig zu schütteln. Er hingegen ließ sich von seinem Vorhaben nicht abhalten und schlug kurz auf die Hand des Mädchens, als wäre diese nur eine lästige Fliege.

Säuerlich presste sie die Luft in ihre Wangen und bohrte ihren giftigen Blick in sein Rückgrat und hätte dabei am liebsten Gift und Galle gespuckt. Kalia konnte es einfach nicht fassen! Wie egoistisch er doch war, obwohl er genau wusste, in welcher Gefahr sie hier schwebten. Vor allem, da er wusste, welch Ängste Serana gerade ausstehen musste. Es war immer dasselbe, immer dann, wenn die Sonne hinter den unzähligen Dächern der Stadt versank und sich das Firmament verdunkelte.

Als Kalia ihren Blick langsam auf das blonde Mädchen lenkte, breitete sich ein dumpfes Gefühl des Unwohlseins in ihrem Körper aus und stellte sich dabei die Frage, welche Dinge nur in dem Kopf ihrer Freundin vorgehen mussten, dass sie solche Angst vor der Dunkelheit hatte. Serana bemerkte die mit Sorge erfüllten Blicke von Kalia nicht. Viel zu sehr wurde sie von ihren eigenen düsteren Gedankenwelt eingenommen.

Warum nur? Warum konnten weder Kalia noch Terik die Gefahr erkennen, die die Nacht stets mit sich brachte? Wieso wurde Serana immer wieder gesagt, dass diese Dinge nur in ihrem Kopf seien? Sie würde sich alles nur einbilden oder habe schlicht und ergreifend eine zu bunte Vorstellungskraft. Sie solle es einfach ignorieren, wurde ihr der beherzte Ratschlag mit auf den Weg gegeben. Einfach verdrängen. Wie jedoch sollte sie es schaffen, solche Dinge einfach auszublenden? Erschienen sie ihr doch viel zu real.

„Ich möchte nach Hause, bitte", flehte Serana weinerlich und drückte das Flechtkörbchen stärker an sich, bevor ihr gesamter Leib zu erschaudern begann. Jeder Donnerschlag hallte laut in ihren Ohren und veranlasste das Mädchen mehr und mehr in sich zusammensinken. Ihren Blick hatte sie stoisch auf die wenigen Pilze geworfen, während die Furcht wie eine hungrige Ratte an ihr nagte. Innerlich verfluchte sie Terik für seine Sturheit sowie seine Faszination für den Marder. Ein leises Schluchzen löste sich aus ihrer Kehle, als weitere Gedanken durch ihren Kopf zu geistern begannen.

Serana stockte der Atem, als sie, wie aus dem Nichts, ein leises, gurgelndes Geräusch durch den prasselnden Regen hindurch vernahm. Intuitiv hob sie vorsichtig ihren Kopf und warf einen spähenden Blick zu ihrer Linken in die schmale Straße hinein. Der Schleier aus Regen sowie die Dunkelheit der Nacht verwehrten ihr eine weite Sicht. Nur schemenhaft konnte sie sperrigen Müll sowie die Umrisse der heruntergekommenen Gebäude erkennen. Als ein greller Blitz für einen kurzen Moment die Straße mit weißem Licht flutete, stockte ihr der Atem.

Es war zu spät.

Sie hatte es gesehen. Eine düstere Silhouette, die sich deutlich hervorhob und sich langsam in ihre Richtung schleppte. Ein innerlicher Aufschrei erstickte in ihrem Hals und sogleich wurde das Köpfchen des Mädchens so tief wie möglich in den Korb gesteckt. Sie durfte nicht hinsehen. Einfach nicht hinsehen.

Minuten fühlten sich wie Stunden an, als das Gurgeln lauter wurde und sich mit schlurfenden Schritten vermischte. Es war nahe. Viel zu nahe. Selbst der fallende Regen sowie der erdige Geruch der Waldpilze, die in dem Korb lagen, schafften es nicht, den immer stärker werdenden, beißenden Geruch von Aas und Verwesung zu übertrumpfen. Serana begann zu würgen, als der Gestank in ihre Nase drang und hatte größte Mühe, das wenige Essen in ihrem Magen zu behalten. Dann durchfuhr ein eiskaltes Schaudern ihren Leib, als das Gurgeln laut und das Geräusch der Schritte verschwunden war. Sie musste nicht aufsehen, um zu wissen, dass das Wesen nun direkt vor den drei Kindern zu stehen gekommen war.

Vorsichtig hob Serana ihren Blick und erkannte nackte Beine, deren Fleisch in Fetzen gerissen wurde und in hervorstehenden Beckenknochen endeten. Das humanoide Wesen hatte eine gebückte Haltung eingenommen und sie konnte selbst in der Finsternis erkennen, dass die ledrige, verweste Haut sich löchrig über den Rippenbogen spannte. Dort wo einst der rechte Arm gewesen war, klaffte ein großes Loch aus dem dunkles sowie zähflüssiges Blut lief und sich mit dem herabfallenden Regentropfen vermischte. Der Wiedergänger vermisste nicht nur seinen rechten Arm, sondern ebenso seinen Unterkiefer und seine Nase, während der Schädel am Hinterhaupt aufgeplatzt war.

Mit einem ertrinkenden Glucksen hatte das einst menschliche Wesen seine Aufmerksamkeit auf Kalia und Terik gerichtet. Es ging direkt vor den beiden Kindern in die Hocke und begann, den Kopf neugierig an Kalias Ohr zu legen. Es betrachtete das Mädchen aus verschiedenen Perspektiven und roch an ihr. Ohne dass sie auch nur die geringste Notiz von der Kreatur nahm. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, Terik endlich zur Vernunft zu bringen und diesen Ort zu verlassen. Immer wieder redete sie auf ihn ein und begann an seiner Kleidung zu zerren. Ohne dabei irgendeine Form des Erfolgs zu erzielen.

Warum konnte sie es nicht sehen? Der Wiedergänger hockte doch direkt vor ihnen! Warum in aller Welt konnten ihre Freunde den Tod nicht sehen, der mit gierigen Blicken das Leben vor ihm betrachtete?

Serana bemerkte nicht, dass sie den Wiedergänger zu lange anstarrte, bis dieser plötzlich sowie ruckartig seinen Kopf in ihre Richtung riss und sie aus leeren, milchigen Augen heraus anstarrte. In diesem Moment überkam sie das Gefühl, als würde ihre Seele aus der doch so jungen sowie sterblichen Hülle fahren. Dieser intensive Blick, als würde sie in einen endlosen, dunklen Schlund hineinstarren und langsam darin versinken. Er ließ das Blut des Mädchens in sämtlichen Venen und Arterien gefrieren und die Zeit für einen Moment stillstehen. Eine erneute Regung durchzuckte den verwesenden Körper und das ertrinkende Gurgeln drang bedrohlich an ihre Ohren.

„Er weiß es!", echote eine Stimme alarmierend sowie tief in ihrem Hinterkopf und brachte düstere Erkenntnis mit sich. Die Furcht begann, ihre Brust einzuschnüren und ihre Augen mit Tränen zu füllen.

Der Wiedergänger wusste, dass sie ihn sehen konnte.

Dann ging alles rasend schnell, als sich die Lungen des Mädchens mit Luft füllten und ein sich schriller Schrei aus ihrer Kehle zu lösen begann. Als der Wiedergänger gerade im Begriff war, sich auf das Mädchen zu stürzen, warf sie ihm mit aller Kraft ihr Flechtkörbchen entgegen und sprang empor. Ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen, sprintete sie los und lief so schnell sie konnte die kleine Seitenstraße entlang.

Von dem plötzlichen Aufschrei Seranas vollkommen überrascht, stieß Kalia einen Schreckensschrei aus und sprang ebenfalls auf ihre Beine. Dabei stieß sie sich bei Terik ab, der wiederum seine Balance nicht mehr halten konnte und geradewegs gegen die ausrangierten Kisten stützte. Mit lautem Krach fielen diese neben dem Jungen zu Boden, auf dem er nun bäuchlings gelandet war. Ein stummer Fluch glitt von seinen Lippen, als er aufsah und sogleich bemerkte, dass sämtliche Blicke auf ihn gerichtet wurden. Natürlich hatte die Gruppe die zwei Schreie gehört und den Jungen bemerkt!

Terik konnte erkennen, wie der hochgewachsene Glatzkopf zu brüllen begann und dem Marder die zuvor übergebene Ledertasche aus den Händen riss. Daraufhin zogen die übrigen Männer nervös ihre Waffen und stürzten sich mit ohrenbetäubendem Kampfschrei auf den Marder sowie seinen drei Verbündeten. Sogleich brachen ein hektischer Kampf und unerwartetes Chaos zwischen den Leuten aus. Dieses Geschäft, oder was auch immer die Leute hier trieben, war offenbar geplatzt.

Zu weiteren Beobachtungen kam der Junge nicht, als er spürte, wie Kalia ihm am Kragen packte und er von ihr in die Höhe gerissen wurde. Taumelnd kam Terik auf die Beine und rannte sofort los. Er hatte Mühe, mit Kalia mitzuhalten, die den Rock ihres Flickenkleides mit beiden Händen gerafft hatte und einen unvergleichlichen Sprint vorlegte. Von Serana fehlte bereits jede Spur und er verfluchte sich innerlich selbst und vor allem seine verdammte Neugier. Immerhin wusste er doch, welche Dinge seine Freundin in der Dunkelheit zu sehen vermochte.

Ab jetzt war sie auf sich alleine gestellt.



In rascher Geschwindigkeit flogen die Häuser und sämtlicher Abfall, der auf der Straße lag, an Serana vorbei. Ihre Lunge brannte wie Feuer und ihre Flanke schmerzte und stach fürchterlich. Immer wieder wollten die Muskeln ihrer Beine ihr den Dienst verwehren, doch das Mädchen lief einfach weiter. Sie durfte nicht anhalten. Nicht hier an diesem Ort. Mit lautem Keuchen sah sie auf, nur um einen weiteren Schrei herunterzuschlucken, als ein weiterer Wiedergänger plötzlich ihren Weg kreuzte, der wie aus dem Nichts aus einer Seitenstraße angelaufen kam. Sie schaffte es gerade noch, der Kreatur auszuweichen, als diese sich bereits umdrehte und ihr rasch hinterher hechtete.

Sie wagte es nicht, einen Blick über die Schulter zu werfen. Zu sehen, wie viele von diesen Wesen sie bereits verfolgten. Es mussten mindestens vier oder fünf von ihnen sein. Nur eine grobe Schätzung des Mädchens, die ebenso irrelevant war. So rasch es ihr zierlicher Körper erlaubte, bog sie in die nächste Gasse ein und wurde abrupt von einer etwa fünf Meter hohen Mauer gebremst.

Es war eine Sackgasse.

Nur schemenhaft konnte Serana einige alte Barriquefässer, kaputtes, sperriges Mobiliar und anderen Plunder entdecken. Nach Luft ringend beugte sie sich ein Stück nach vorne und hielt ihre Hände gegen ihren Rippenbogen, um dem Seitenstechen entgegenzuwirken. Vergebens. Gerade als das Mädchen sich um die eigene Achse drehen wollte, um einen neuen Fluchtweg zu suchen, bog der erste Wiedergänger in die Sackgasse ein und stürmte auf sie los, dicht gefolgt von drei weiteren.

Serana blieb kein Moment, um einen klaren Gedanken zu fassen. Rein intuitiv reagierte sie schnell und sprang auf eines der alten Fässer. Sie musste es über diese Mauer schaffen, dies war ihre einzige Möglichkeit, dieser Falle zu entkommen.

Die aufgetürmten Fässer schwanken leicht unter dem Gewicht des Mädchens und sie musste sich anstrengen, um ihre Balance zu halten. Der Regen sowie die rutschige Oberfläche des Holzes erschwerten ihr Vorhaben ungemein. Dennoch schaffte sie es, zügig auf das nächste Fass zu klettern und erreichte mit höchster Anstrengung sowie auf Zehenspitzen gerade noch das oberste Ende der Mauer. Serana wollte gerade Schwung holen, um mit einem Sprung die letzte Distanz zu überwinden, als sie spürte, wie etwas ihren rechten Knöchel packte und an diesem zu zerren begann. Sogleich schrie sie laut auf und begann nach dem Wiedergänger so heftig zu treten, wie sie nur konnte.

Es war ein wildes, panisches Rumgezappel und Treten, als sie um ihr Leben zu kämpfen begann. Ein Tritt nach dem anderen wurde ausgeteilt, während sie sich weiterhin mit den Armen an das obere Ende der Mauer klammerte. Dann schaffte sie es endlich, den Wiedergänger mit einem kräftigen Fußtritt gegen den Kopf loszuwerden. Dieser stürzte kreischend und gurgelnd zu Boden und wurde sogleich von den restlichen Wesen überrannt, die ebenfalls versuchten, das Mädchen zu fassen zu bekommen. Die Fässer unter ihrem Körper begannen zu schaukeln und kurz bevor diese krachend zu Boden stürzten, setzte Serana zu einem Sprung an und zog sich an der Mauer empor, um schlussendlich auf dieser sitzen zu können.

Schwer atmend sowie den Schrecken und die Furcht, noch tief in den Knochen sitzend, blickte sie hinab auf die Kreaturen, die sich eng an die Mauer pressten und ihre halb verwesten Hände nach ihr ausstrecken. Unmenschliche, wütende Laute drangen aus ihren Mündern, während sie immer wieder versuchten, das Mädchen zu erreichen.

Zitternd zog sie ihr rechtes Bein ein und erkannte eine blutende Wunde an ihrem Knöchel, genau an der Stelle, an der sie von dem Wiedergänger zuvor gepackt wurde.

Wie nur? Wie konnte all dies nur in ihrem Kopf und doch real sein? Warum konnte nur sie diese Kreaturen sehen? Wieso konnten diese wandelnden Leichen sie verletzen? Es war mehr als bloße Imagination, davon war sie fest überzeugt. Ein großer Kloß bildete sich in ihrem Hals, als sie an Kalia und Terik dachte. Sie konnte nur hoffen, dass der Marder ihre beiden Freunde nicht in die Finger bekommen hatte.

Es war alles ihre Schuld.

Der kalte Regen vermischte sich mit ihrem Angstschweiß und ließ den kindlichen Leib erschaudern. Sie musste hier weg, bevor noch mehr von den Wiedergängern kamen und sie hier endgültig festsitzen würde. Forschend wurde der Blick auf die andere Seite der Mauer geworfen und erkannte einen kleinen Innenhof, der in tiefe sowie dunkle Schatten getaucht war. Nur vage konnte sie die verwahrlosten Hausmauern sowie einen kleinen Steinbrunnen im Zentrum des Hofes erkennen.

Ein letztes Mal warf sie ihr Hauptaugenmerk auf die Wiedergänger unter ihr. Wie leere Puppen sahen sie aus, die verzweifelt versuchten, ein Stück Leben zurückzubekommen. Serana wusste nicht warum, doch aus irgendeinem Grund überkam sie ein Gefühl des Mitleids. Was war nur mit diesen Menschen geschehen? Waren diese Kreaturen überhaupt einmal Menschen?

„Sei kein Narr, diese Monster wollen dich umbringen!", ermahnte sie sich in Gedanken selbst und bleckte fauchend wie eine wütende Katze ihre weißen Zähne. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und begann so vorsichtig wie möglich von der Mauer zu klettern, um die sichere Seite erreichen zu können. Mit den Beinen voran drehte sie sich um und hielt sich an der nassen Kante fest. Keinen Moment später rutschte das Mädchen ab und fiel, wenige Meter, hart auf den Boden. Ihr Sturz wurde nur von einigen verwilderten Sträuchern abgefangen, die in dem Innenhof wuchsen. Die Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst und sogleich konnte sie den Schmerz fühlen, der wie eine wilde Kaskade durch ihren Körper zuckte. Es bedurfte einen etwas längeren Moment, bevor sich das Mädchen stöhnend aufsetzte und sich vorsichtig den Weg aus dem Gestrüpp bahnte. Von der anderen Seite der Mauer aus konnte sie das laute Klopfen und ekelhafte Gurgeln der Wiedergänger hören, die noch immer versuchten, selbst diese Mauer zu überwinden. Unweigerlich stellten sich ihr die Nackenhaare auf, als sie daran dachte, wie knapp sie gerade mit ihrem Leben davongekommen war.

Nach Hause, das war ihr einziges Ziel. Endlich der Nacht, dem Sturm und vor allem diesen Kreaturen entkommen. Langsam tastete sie sich voran und entdeckte rasch einen kleinen Durchgang, der den Innenhof mit einer weiteren Straße der Gosse verband. Mit höchster Vorsichtig betrat sie die Straße und atmete sogleich erleichtert auf, als sie keine Seele entdecken konnte. Ebenso wusste sie, wo sie war, immerhin kannte sie die Gosse wie ihre Westentasche. Ein großer Vorteil, wenn man nichts anderes kannte als das Leben in diesem Elendsviertel.

Serana sammelte ihre letzte Kraft und nahm erneut die Beine in die Hand. So schnell sie konnte, bog sie in unzähligen, verwinkelten Gassen und Straßen des Viertels ein, bis sie endlich an ihrem Ziel angekommen war.

Das Haus hob sich mit seiner maroden Holzfassade nicht sonderlich von den anderen Häusern ab und wirkte von außen nicht alles andere als gepflegt. Doch es war immer noch besser, als bei solch einem Wetter oder dem nahenden Winter im Freien zu nächtigen und leben zu müssen.

Sofort stieß sie mit beiden Händen die einst in roter bemalte Tür auf und stolperte schwer keuchend über die Schwelle. Dunkelheit umfing sie und wurde nur von dem grellen Licht eines Blitzes durchbrochen. Achtlos schlug sie die Tür hinter sich in das Schloss und stürmte hastig die abgenutzte Holztreppe empor, die jeden ihrer Schritte mit einem lauten Knarren kommentierte.

Der Flur im oberen Stockwerk war, wie das restliche Haus, in Dunkelheit gehüllt, dessen einzige magere Lichtquelle ein kleines Fenster an dessen Ende war. Vollkommen am Ende ihrer Kräfte wandte sie sich der ersten Tür zu ihrer Linken zu und begann, wie wild an der Klinke zu rütteln, nur um wenige Sekunden später feststellen zu müssen, dass diese verschlossen war.

„Mama! Mach auf, bitte! Bitte mach doch die Tür auf! Ich bin es! Mama, bitte!", schrie sie aus voller Kehle, während die ersten Tränen der Verzweiflung an ihren Wangen hinab zu perlen begannen. Panik machte sich erneut in ihr breit, während sich ihr Flehen in lautes Brüllen wandelte. Lautstark hämmerte sie mit der Faust gegen das stabile Holz, gefolgt von verärgerten sowie hektischen Fußtritten. Doch auf der anderen Seite der Tür blieb es still.

Vollkommen in sich aufgelöst, sank Serana auf Knien zusammen, während ihr Klopfen und Schlagen an Kraft verlor und schließlich vollkommen verstummte. „Bitte lass mich rein", weinte sie bitterlich, bis sie plötzlich von einem lauten Knall aus ihrer Verzweiflung gerissen wurde. Sofort hob sie ihren Blick und warf diesen erschrocken durch den dunklen Flur. Ihr Körper begann zu verkrampfen, als erneut heiße Tränen über ihre Wangen liefen. Dies war ihr Ende.

Sie war nicht mehr allein hier.

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⏰ Last updated: Jun 11, 2023 ⏰

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Das Flüstern der DunkelheitWhere stories live. Discover now