Ralph klopfte an die Tür des Schulsekretariats. Kurz darauf öffnete ihm eine dunkelhaarige Frau, etwa in seinem Alter, mit Brille.

„Guten Tag, mein Name ist Flemming, ich hatte angerufen. Sie sind Frau Müller?", sagte Ralph.

„Ja, Herr Flemming.", bestätigte sie und gab ihm die Hand. „Kommen Sie herein!"

Ralph folgte ihr und zeigte seinen Dienstausweis, nachdem sie in den Raum getreten waren.

„Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.", sagte Ralph.

„Das ist doch selbstverständlich.", erwiderte Frau Müller. „Ich war total erschüttert, als ich hörte, was mit Andrea passiert ist. Sie war eine sehr nette und einfühlsame Kollegin..."

Während sie sprach, wischte sie sich eine aufkommende Träne weg.

„Entschuldigen Sie bitte!", fügte sie hinzu. „Nach Ihrem Anruf habe ich sofort das von Ihnen gewünschte Verzeichnis über die Schüler rausgesucht, die von ihr in den letzten zehn Jahren betreut wurden."

„Ich danke Ihnen.", erwiderte Ralph, als er die Liste entgegennahm. 

Frau Müller setzte sich während dessen hinter den Schreibtisch und nahm sich ein Taschentuch, um ihre Nase zu putzen und weitere Tränen abzuwischen.

„Sie war für mich wie eine zweite Mutter.", fuhr sie fort. „Nach der Trennung von meinem Mann hat sie mich wieder aufgebaut. Wir haben uns seitdem regelmäßig auch privat getroffen. Sie war ebenfalls alleinstehend, so sind wir hin und wieder gemeinsam Essen oder zu Veranstaltungen gegangen..."

„Darf ich Sie noch etwas fragen?", wollte Ralph vorsichtig wissen.

„Natürlich.", antwortete Frau Müller leise.

„Zunächst mal unabhängig von der Liste, können Sie sich jemanden vorstellen, der für alles verantwortlich sein könnte, sowohl für den Diebstahl als auch für den Mord?", fuhr Ralph fort.

„Nein, ich kann es mir überhaupt nicht erklären.", erwiderte Frau Müller.

„Und bei den Namen auf der Liste - ohne jemandem von vornherein etwas unterstellen zu wollen - aber gibt es da eine Person, die Ihnen spontan ins Auge fällt, vielleicht jemand, der regelmäßig mit schlechtem Verhalten auf sich aufmerksam machte oder aus einem schwierigen Elternhaus stammt?", fragte Ralph weiter und gab Frau Müller die Liste noch einmal zurück. „Ich muss, wie gesagt, alle Möglichkeiten in Betracht ziehen."

Frau Müller schaute einige Sekunden darauf und nickte kurz.

„Wenn Sie so fragen, gibt es da tatsächlich jemanden.", antwortete sie. „Ronni Radler aus der sechsten Klasse. Seine Kumpels nennen ihn Samson, auf Grund seiner Statur."

Sie zeigte Ralph die Spalte in der Liste, wo der Name aufgeführt war.

„Aus der sechsten Klasse?", fragte Ralph nach. „Laut seinem Geburtsdatum wird er dieses Jahr sechzehn."

„Er wiederholt die Klasse bereits zum dritten Mal und auch in diesem Jahr stehen seine Chancen, dass er das Klassenziel erreicht, leider sehr schlecht.", erklärte Frau Müller. „Es gibt viele jüngere Schüler, die Angst vor ihm haben und auch für die Lehrer war er bisher eine ziemliche Belastung, da er so gut wie nie sinnvolle Beiträge zum Unterricht geleistet hat."

„Hat er sich freiwillig dazu entschlossen, zu Frau Scholz zu gehen?", wollte Ralph wissen.

„Nein, das ergab sich nach einer Konferenz, die vor etwa einem halben Jahr seinetwegen einberufen wurde.", berichtete Frau Müller. „Er hatte sich mit einem Schüler aus der zehnten Klasse geschlagen und ihn auch verletzt. Am Ende wurde ihm ein Schulverweis angedroht und beschlossen, dass er bis zum Ende des Schuljahres auf Bewährung hierbleiben darf, allerdings unter der Voraussetzung, dass er in dieser Zeit an regelmäßigen Gesprächsterminen zu seinem Verhalten, unter anderem bei der Schulpsychologin, teilnimmt."

„Hat er sich daran gehalten?", erkundigte sich Ralph.

„Ja, es blieb ihm gar nicht anderes übrig.", erzählte Frau Müller. „Auch im Unterricht reißt er sich seitdem mehr zusammen als früher. Seine Leistungen sind aber nach wie vor nicht die besten."

„Es gibt doch sicher eine Schülerakte über ihn, in der alles dokumentiert ist.", schlussfolgerte Ralph.

„Ja, ich kann sie Ihnen raussuchen.", bestätigte Frau Müller und ging an den entsprechenden Schrank. „Glauben Sie, dass er etwas mit dem Tod von Andrea zu tun hat?"

„Nach allem, was Sie mir bisher über ihn erzählt haben, besteht leider diese Möglichkeit.", antwortete Ralph. „Ich werde mich auf jeden Fall mit ihm und seinen Eltern unterhalten."

„Da wünsche ich Ihnen viel Glück.", erwiderte Frau Müller und gab Ralph die Akte. „Sein Vater ist eine sehr dominante und temperamentvolle Persönlichkeit, wenn man es vorsichtig ausdrücken will. Wir haben schon oft versucht, allein mit Ronnis Mutter zu sprechen, aber sein Vater hat es bisher nie zugelassen. Das ist jedoch alles wieder eine Angelegenheit für sich."

„Ich danke Ihnen für die Vorwarnung.", entgegnete Ralph und blätterte die Akte auf.

Auf der ersten Seite war neben allen allgemeinen Angaben ein Foto von Ronni zu sehen. Es zeigte einen ziemlich kräftig gebauten Jugendlichen, der eine Schildmütze verkehrt herum trug. Ralph erinnerte sich sofort wieder an seine bereits getroffene Annahme, dass der Mörder ziemlich kräftig gewesen sein musste, um die Leiche in der Tonne unterzubringen. Diese Voraussetzung erfüllte Ronni in jedem Fall.

„Wenn ich mit Ronni und seinen Eltern gesprochen habe, werde ich entscheiden, ob möglicherweise die Beantragung einer Einsichtnahme in die Notizen, die sich Frau Scholz über ihn zu den Gesprächen gemacht hat, notwendig ist, auch wenn mir bei den anderen Leuten auf der Liste nach den Unterhaltungen mit ihnen etwas auffallen sollte.", fuhr Ralph fort, worauf Frau Müller nickte. 

Er nahm die Liste wieder an sich und legte sie auf Ronnis Akte, wobei er noch einmal einen Blick auf die angegebenen Namen warf.

„Gibt es noch weitere Schüler, deren Betreuung bei Frau Scholz für die Zukunft aus irgendwelchen Gründen in Erwägung gezogen wurde?", fragte er.

„Ja, eine Schülerin aus meiner Klasse.", antwortete Frau Müller. „Ihr Name ist Antonia Landers, vierzehn Jahre alt. Ich habe bei ihr in den letzten Wochen einen erheblichen Leistungsabfall beobachtet, den bisher weder sie noch wir uns erklären konnten. Es war noch nichts Genaues vereinbart, aber es war mein Plan, wenn die nächsten Arbeiten nicht besser werden, nochmal mit Antonia zu sprechen und ihr dann gegebenenfalls einen Termin bei Andrea zu organisieren..., wenn das nicht passiert wäre."

Erneut kämpfte sie mit den Tränen.

„Antonia Landers? Ist das nicht die Tochter von Detlef Landers?", fragte Ralph.

„Ja, das ist sie.", bestätigte Frau Müller.

„Hat es in der Vergangenheit schon mal irgendwelche Probleme mit ihr oder Herrn Landers gegeben?", fragte Ralph weiter.

„Nein, deshalb hat es mich so überrascht, dass sie plötzlich mit ihren Leistungen so abgerutscht ist.", antwortete Frau Müller. „Ihr Vater hat immer einen sehr netten und umsichtigen Eindruck gemacht. Er war auch bisher zu allen Elternabenden anwesend."

„Weiß er von den aktuellen schulischen Problemen seiner Tochter?", wollte Ralph wissen. 

„Noch nicht.", antwortete Frau Müller. „Ich hatte es Antonia zwar angeboten, mit ihm zu reden, doch sie hielt es bisher nicht für nötig. Jedoch bin ich mit ihr so verblieben, dass ich vor der möglichen Vereinbarung eines Termins bei Andrea definitiv auch mit Herrn Landers sprechen werde, wenn sich Antonias Leistungen nicht bessern. Vielleicht kann ich, was das betrifft morgen schon etwas Genaueres sagen, wenn ich heute Abend die letzte Klassenarbeit korrigiert habe."

„Halten Sie mich einfach auf dem Laufenden, wenn es etwas Neues zu Antonia Landers und ihrem Vater gibt!", bat Ralph.

„Das werde ich.", versprach Frau Müller.

„Sobald ich mit der Akte von Ronni Radler durch bin, melde ich mich ebenfalls.", fügte Ralph hinzu. 



Blankenthal: TeufelspaktWhere stories live. Discover now