Kapitel 6

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„Du willst mich nicht dabei haben, aber das ist kein Grund, mich gänzlich mit Verachtung zu strafen."
Ando verdrehte ermattet seine Augen und schaute dann hinter sich zu Gunnar, der seine beiden Hände in die Höhe hob und somit seine Unschuld demonstrieren wollte. Diesen Satz hatte er in den letzten Tagen sehr oft von Jurid gehört. Er seufzte leise und drehte sich im Sattel zu ihr um.
„Es ist zu gefährlich."
Auch diese Erklärung hatte er nun schon so oft abgegeben, dass sie ihm wie ein Sinnspruch vorkam. Genau wie Jurids versteckte Frage.
Ando hatte seine Bedenken bezüglich der jungen Frau jeden Tag verlauten lassen, so lange sie auf dem Gut seines Vaters waren. Er hörte auf dem Boot nicht auf, dass sie zu der letzten Anlegestelle des Nordens brachte. Selbst jetzt erwähnte er es jeden Tag mindestens einmal, was er davon hielt, Jurid mit auf diese gefährliche Reise mitzunehmen.
Doch niemand hörte auf ihn.
Nicht sein Vater.
Nicht seine Mutter.
Nicht einmal Birger.
Und schon gar nicht die Seherin.
„Gefährlich für wen? Wenn du mir nun damit kommst, dass Frauen zu schwach für den Kampf sind, werde ich dich daran erinnern, dass ich mich damals sehr gut gegen dich und deine Brüder wehren konnte."
Gunnar kam etwas näher an die beiden heran geritten. Sein Grinsen verriet, dass er ungemein neugierig auf die Erlebnisse seines jungen Waffenbruders war.
„Erzähl, Mädchen."
Ando stöhnte leise.
„Das sind keine interessanten Geschichten.", behauptete er leise.
Gunnar schüttelte übertrieben den Kopf.
„Oh doch. Ich finde es wirklich sehr interessant." Er wandte sich an Jurid. „Wie war mein Waffenbruder? War er schon immer so ruhig, ja beinahe schon langweilig?"
Jurid lachte spöttisch, während Ando verärgert knurrte.
„Langweilig? Ich glaube, es war keinen Moment mehr langweilig, als der Jarl diese Burschen mitgebracht hat und sie später auch noch seine Söhne nannte. Sie hielten zusammen und viele dachten, dass die Gemeinschaft nie zu brechen sei."
Sie sah zu Ando.
„Ich kann mich noch daran erinnern, dass Bjarne mich immer ärgerte und ihr anderen in dieselbe Kerbe schlugen. Aber sie wussten nicht, was sie damit entfesselten."
Gunnar beugte sich interessiert vor.
„Was haben sie denn entfesselt?"
Ando stöhnte leise.
„Du kennst Birger. Er ist Jurids Vater."
Gunnar starrte ihn und Jurid einen Moment an, dann begann er schallend zu lachen. Das Lachen hallte an den steilen Wänden der Schlucht wieder, die sie gerade durchquerten.
„Bei allen Göttern. Hat sie ihm alles erzählt und Birger hat euch daraufhin verprügelt?"
Jurids Grinsen war jetzt wirklich reine Provokation und Ando musste sich zusammenreißen, dass er nicht seinen Bogen nahm, um sie mit einem Pfeil zu bedrohen.
„Es war schlimmer.", knurrte er.
Gunnar machte eine fordernde Handbewegung.
„Ja und?"
Jurid neigte sich lachend zu ihm.
„Ich erzählte es Vater tatsächlich, bat ihn aber, ihnen nichts zu tun. Du kannst dir vorstellen, dass ihm das sehr schwerfiel, aber meine andere Bitte besänftigte ihn etwas. Denn ich bat ihn, mir zu zeigen, wie ich mich gegen einen Jungen wehren kann, der um einiges älter und stärker war."
Sie hob eine Hand an den Mund und versuchte so, ein Kichern zu unterdrücken.
„Ich konnte nicht ahnen, dass ich mich gegen jemanden zur Wehr setzen musste, der beinahe schon ein Mann war."
Gunnar stand der Mund vor Erstaunen offen.
„Du meinst Ando? Du hast ihn verprügelt?"
Dann sah er zu Ando.
„Und du wolltest ein Mädchen schlagen?"
Ando sah zum Himmel und hoffte, die Götter hatten ein Einsehen mit ihm. Thor konnte bestimmt Blitze zu ihnen senden und ihn damit erschlagen.
„Ich wollte sie nicht schlagen. Es war ein Missverständnis."
Jurid nickte, wirkte aber dabei gelangweilt.
„Das entspricht der Wahrheit, aber das wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht."
Gunnar zügelte etwas sein Pferd, dem alles zu langsam ging.
„Wie kam es dennoch dazu?"
Ando wusste, dass Gunnar keine Ruhe geben würde, bis er alles erfuhr.
Er schloss ergeben einen Moment die Augen.
„Mein Bruder Bjarne war damals sehr unruhig und suchte überall Streit. Leider unterschied er da nicht zwischen angehenden Männern, denen er gewachsen war, und kleinen Mädchen, die ihm sowieso schon aus dem Weg gingen. Nun, eine tat es nicht und das war Jurid. Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam, dass Bjarne sich drohend vor sie aufbaute, aber ich sah es und wollte ihn vor Prügel bewahren, die er bestimmt nicht nur von Vater bekommen hätte, wenn er Jurid nur ein Haar krümmte."
Jurid schnaubte böse.
„Das hättest du anders anstellen sollen. Am besten hättest du dich gar nicht eingemischt, dann wäre es Bjarne gewesen, der sich an diesen Tag blamiert hätte. Und glaube mir, er verdiente es."
Ando nickte.
„Das ist mir wohl bewusst, aber ich bin sein älterer Bruder und damit auch für seine Dummheiten verantwortlich. Außerdem wollte ich dich schützen, denn ich weiß, wie unbeherrscht Bjarne sein kann."
Gunnar schnippte mit seinen Fingern.
„Ich bin kein bisschen schlauer. Was ist also passiert?"
Ando zog tief Luft in seine Lungen, bevor er weiter erzählte.
„Ich rannte zu den beiden und wollte Bjarnes Wut auf mich lenken. Stattdessen stolperte ich über Bjarnes vermaledeiten Hammer und stürzte auf Jurid."
Sie nickte.
„Ich dachte wirklich, Ando wollte mich angreifen. Es ging alles so schnell. Ich hob meine Faust und schlug sie ihm ins Gesicht."
Gunnar starrte sie eine Weile erstaunt an. Seine Lider blinzelten immer schneller und man sah ihm im Gesicht an, dass er es nicht ganz begreifen konnte.
„Der Schlag traf mich so unverhofft, dass ich zu Boden stürzte, wie ein gefällter Baum. Ich konnte Jurid und Bjarne nur einen Moment anstarren und dann verlor ich meine Sinne."
Gunnars Lippen zuckten unkontrolliert, doch dann begann er schallend zu lachen.
„Ein Mädchen, eine kleine Maid, brachte dich zu Fall?" Er sah zu Jurid. „Ich hätte dich das büßen lassen."
Sie nickte.
„Das hätte Ando auch machen sollen. Aber er tat es nicht."
Ando schnaubte.
„Was hätte es mir gebracht, wenn ich meinen und deinem Vater die Wahrheit erzählt hätte? Bjarne und auch du wärt bestraft worden."
Gunnar wurde sofort ruhig.
„Was hast du stattdessen getan?"
Ando zuckte mit den Schultern.
„Ich habe es so aussehen lassen, als ob ich Jurid schlagen wollte und sie sich nur wehrte."
Gunnars Unterkiefer sackte nach unten.
„Dann hast du es so aussehen lassen, dass du ein Mädchen verprügeln wolltest?"
Jurid nickte.
„Nicht nur, dass er Spott erntete, weil er von einem Mädchen so sehr verprügelt wurde, dass er seine Sinne verlor. Nein, er bekam auch eine Strafe auferlegt. Und Prügel von meinem Vater, der sich dieses Mal nicht zurückhalten wollte."
Ando hob einen Finger.
„Das nehme ich dir übel, Jurid. Immer noch. Du hättest Birger wenigstens die Wahrheit sagen können. Der Faustkampf gegen ihn war nicht gerecht und ich lag mehrere Tage auf meinem Lager, bevor ich die Bestrafung angehen konnte."
Er sah zu Gunnar.
„Ihr Vater hat mir mehrere Rippen gebrochen. Mein Gesicht, das sowieso schon von Jurids Schlag gezeichnet war, schillerte in verschiedenen Farben und ich konnte wochenlang nur Brühe trinken, weil meine vorderen zähne locker saßen. Das Schlimmste waren allerdings seine Verspottungen, die so lange anhielten, bis Jurid ihm endlich die Wahrheit erzählte."
Jurid wirkte nun wenigstens etwas zerknirscht.
„Das tut mir leid. Wirklich. Finn und ich haben seine Bestrafung auch erledigt. Und Bjarne hat geholfen, weil er auch ein schlechtes Gewissen hatte. Alle deine Brüder haben mitgeholfen, als sie sahen, dass Finn sich für dich vor deinem Vater einsetzte."
Ando lächelte.
„Finn war schon damals ein guter Anführer und setzte sich für alle seine Brüder ein, auch wenn die meisten älter als er sind."
Sie nickte und zupfte, scheinbar verlegen, am Saum ihrer Tunika.
„Ja. Finn war der Beste von allen. Es ist schade, dass er nicht mehr oft bei euren Eltern sein kann."
Ando hob grinsend beide Augenbrauen und auch Gunnar feixte wissend.
„Du magst meinen Bruder wohl?", fragte Ando.
Jurid schnaubte.
„Ich kenne ihn kaum noch. Und wir sind doch gerade unterwegs, um ihm seine Braut zu suchen."
Gunnar ritt näher zu ihr ran und legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter.
„Ach Mädchen. Hattest du Hoffnung, du siehst ihn ein letztes Mal und er verliebt sich in dich?"
Jurid schnaubte und schüttelte seine Hand ab.
„Nein. Die Völva sagte mir, dass ich euch begleiten soll. Meine Fähigkeiten werden wohl auf der Reise gebraucht und ich meine damit nicht, dass ich für euch beide koche oder eure Kleidung flicke."
Ando schüttelte den Kopf.
„Wir können uns selbst Nahrung zubereiten. Aber ich frage mich..."
Er ritt zu ihrem Pferd und hob etwas die Decke an, die sie hinter ihren Sattel befestigt hatte. Grinsend sah er das Schwert und die Streitaxt, die Bjarne für sie hergestellt hatte. Die beiden Waffen waren nicht für einen Mann gemacht, sondern klein und das Heft schmal. Sehr gut geeignet für eine kleinere Frauenhand.
Ando wusste, dass Bjarne jedes Mal eine Waffe für Jurid schmiedete, wenn er sich wieder daneben benommen hatte. Es war seine Art der Entschuldigung.
„Ich wusste, dass du immer noch die Waffen hast. Ich nehme an, du weißt sie auch immer noch zu gebrauchen?"
Sie nickte ernst
„Vater übte mit mir, wenn er zuhause war. Und in den letzten Jahren zog es deinen Vater nicht mehr so oft in die Ferne."
Ando grinste.
„Ich nehme an, das heißt, du hast oft geübt?"
Sie nickte.
„Aber deswegen schickte mich Völva Hjördis nicht mit euch, sondern deswegen."
Sie beugte sich herunter und holte einen großen Beutel, den sie Ando reichte. Neugierig entfernte er die Verschnürungen und besah sich den Inhalt. Er fand kleine Tontöpfe und Linnen, welches zu mehreren Rollen geschnürt war. Außerdem fand er noch feinen Faden und Knochennadeln, die so dünn waren, dass sie sich für Stiche in die Haut eigneten. In Menschenhaut.
Erschrocken sah er Jurid an.
„Was hat die Völva gesehen, dass sie uns eine Heilerin zur Seite stellt? Wird es zu einem Kampf kommen?"
Sie nickte.
„Ja, aber erst einmal werde ich mein Werkzeug nicht benutzen müssen. Später. Ich hoffe, viel später."
Sie seufzte.
„Ihre Prophezeiung war wirr und wer bin ich, die Wörter der Götter richtig deuten zu wollen? Aber sie warnten mich, so viel ist sicher. Ich werde gebraucht. Auch wenn ich nicht weiß, für was."
Ando nickte und gab ihr den Beutel zurück.
„Wir wissen alle nicht, welches Schicksal uns die Nornen auferlegen. Wir können nur hoffen, dass sie uns freundlich gesinnt sind."
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Klugscheißermodus:
Wie ihr vielleicht schon in meinen Gunnarsson-Romanen gelesen habt, sind die Nornen Schicksalsgöttinnen, denen sogar die Götter selbst unterstehen. (Haben sie ja bei den Gunnarssons sehr eindrucksvoll bewiesen.) Sie leben unter der Weltenesche Yggdrasil.
Ich zitiere da mal vom Runenlied Odins:
Die eine heißt Urd (das Gewordene),
die andere Werdandi (das Seiende oder Werdende)
-sie schnitzen am Losstab-
Skuld (das Werdenwollende oder Werdesollende) ist die dritte;
des Lebens Lose
legen sie fest
den Menschenkindern,
der Männer Schicksal

Nach der Mythologie haben die Nornen auch die Schicksalstafeln übernommen, nachdem die Götter sich (mal wieder) gestritten haben und nun sind sie für das Schicksal der Menschen und auch der Götter verantwortlich, in dem sie den Lebensfaden spinnen und ihn weiter verarbeiten, bis sie ihn am Ende abschneiden.
Sie gelten auch als Schutzgöttinnen für die Geburt. Urd und Werdandi segnen dabei das Kind großzügig, während Skuld dem sozusagen ein Ende setzt und zwar durch den von ihr vorbestimmten Tod.
Wie ihr vielleicht merkt, ist dieser Teil der Mythologie auch die Grundlage des Märchens „Dornröschen". Zumindest waren die drei Nornen Vorlage für die guten Feen und der bösen Fee.

Quelle: Die Edda
artedea.net
Nordische Mythologie von Paul Herrmann

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