Kapitel 9: Die Marionette

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Fernwood als Kleinstadt zu bezeichnen wäre furchtbar übertrieben gewesen. Das kleine Örtchen hatte ungefähr 10 Häuser und einen kleinen Minimarkt. Als Bob aus dem Auto stieg, dehnte er sich unentwegt, so dass sein ganzer Körper einmal ordentlich durchknackste.
Peter überredete Justus dazu, kurz im Minimarkt anzuhalten, sodass Peter sich ein Energydrink kaufen konnte.
Justus willigte grummelnd und nur halbherzig ein. Vorher hielt er jedoch einen endlos scheinenden Monolog über die Gefahr von Taurin in Energy.
Als die Glocke des Ladens läutete, stand ein Mann mit zerzausten Haaren und einem stoppeligen Bart an der Kasse und hatte eine Packung Malboro Red in der einen und einen Vodka in der anderen Hand. Er stritt sich aufgeregt mit dem Kassierer und schien die drei Jungen garnicht zu bemerken.
„Ich hab meinen Ausweis zu Hause vergessen. Aber sie wollen mir doch nicht weismachen, dass ich noch nicht 21 bin."
Der Mann gestikulierte wütend seinen Körper entlang und zeigte nervös auf sein Gesicht.
Plötzlich fiel Peter auf, dass der Mann garkein Mann war, sondern durch den krisseligen Bart nur so aussah. Das markante Gesicht mit den hohen Wangenknochen und denn unproportioniert wirkenden aufgeplusterten Wangen waren unverkennlich.
Und er und Justus warfen sich einen verständnisvollen Blick zu.
Der Verkäufer grummelte etwas und der Junge knallte die Packung Zigaretten auf den Tisch und zog sich eine weitere aus der Hosentasche, die er ausklappte und sich eine davon in den Mund schob.
„Hier haben sie ihre scheiss Zigaretten." nuschelte er und legte den Wodka so auf den Tisch, dass Gefahr drohte, er würde runterfallen.
Peter streckte seinen Arm und hielt die Glasflasche zurück, bevor sie vom Tresen flog und auf dem Boden zerbarst.
TJs Augen öffneten sich vor Schreck und Peter merkte, dass in seinen Bartstoppeln Brotkrümmel hingen. Er verzog das Gesicht und bevor er etwas sagen konnte, schnellte TJ an den Drei verdutzten Jungen vorbei.
Doch bevor er entweichen konnte, stellte Justus ihm ein Bein, über das er stolperte und geradewegs auf den steinigen Sand vorm Laden fiel.
Ächzend und stöhnend drehte er sich zu den Drei um, die sich in einem Kreis über ihn beugten.
„Träum ich?" nuschelte TJ, die Kippe immernoch fest zwischen den Lippen.
„Leider nicht." sagte Justus und streckte eine Hand aus. TJ grunzte etwas, was keiner der drei so recht verstand und rollte sich zurück auf den Bauch, bevor er sich mit beiden Armen hochdrückte. Peter stemmte die Hand in die Seite und guckte ihm dabei zu, wie er immer wieder auf seine Nase flog.
„Sag mal bist du besoffen?" fragte Bob nun trocken und hockte sich neben den nach Alkohol stinkenden Halbstarken.
„Ich doch nicht." nuschelte er durch fettige Haare, die ihm vors Gesicht hingen und den Mund verklebten.
„Der ist hacke." murmelte Peter zu Justus der nur stumm nickte.
Bob zog TJ an einem Arm hoch und Peter steckte seinen Kopf durch die andere Schulter des Jungen um ihn hochzuhieven. Er roch nach Whisky, Kotze und Rauch und Peter musste sich einen Würgereiz verkneifen.
„Was zur Hölle wollt ihr hier."
Während TJ redete verdrehten sich seine Augen in unnatürlichen Wegen nach oben und unten und sein Kopf sackte nach vorne wie als würde er Tonnen wiegen.
„Was zur Hölle machst du so nah an Rocky Beach? Verfolgst du uns?" fragte Bob und tat sein Bestes TJ nicht direkt anzugucken.
Sein Vater hatte ihm immer gesagt, wenn man Besoffenen direkt in die Augen schaute, dann wurden sie aggressiv. Möglicherweise war das auch nur ein Trick um ihn von Alkohol fernzuhalten aber es funktionierte immer noch.
TJ lachte grunzend, bevor das Lachen durch einen Schluckauf unterbrochen wurde.
„Ich wollte nur weg. Meine Rehabilitationsklinik ist hier und-"
„Rehabilitation? Nimm's mir nicht übel Tyler Jackson aber du bist doch wohl nicht rehabilitiert."
unterbrach Justus ihn bevor er zuende reden konnte. TJ guckte ihn durch wütend zusammengekniffene Augen an bevor er sich nach vorne beugte und ein wenig auf Peters Schuh reierte.
„Ih!" schrie Peter und sprang einige Meter zurück.
„Was zur Hölle?"
Wie auf Kommando ließ Bob den Sack an Mensch fallen, der mit einem dumpfen Plumps auf den Parkplatzboden klatschte.
Er lachte leise vor sich hin, die Backe gegen den Sand gepresst.
„Schieb dir die Rehabilitation in deinen dicken Ar-"
Bevor TJ seinen Satz zu Ende bringen konnte sackte sein Gesicht auf den Boden und mit einem lauten Schnarcher verabschiedete er sich von der Konversation.
Bob sah Peter und Justus mit zusammengezogenen Augenbrauen und verschränkten Armen an.
„Was für ein liebevoller Geselle."
———
Nachdem sie TJ in den Rücksitz des Autos geladen haben, und Peter ein wenig Lufterfrischer um ihn rum versprüht hatte, wachte er nach ungefähr 20 Minuten wieder auf um zu niesen.
„Was habt ihr hier für scheisse rumgesprüht?"
Er verzog das Gesicht und wischte sich den nassen Mund mit dem Ärmel seiner Jacke ab.
Justus murmelte einige Beleidigungen in sich hinein, bevor er sich zurück drehte und TJ musterte.
„Wir stellen dir ein paar Fragen. Dann bringen wir dich zurück zu deiner Klinik."
Er streckte die Hand auf, in der er eine volle Wasserflasche hielt und schraubte den Deckel auf, um sie an TJs Mund zu legen.
„Kopf nach hinten." murmelte Bob und nahm ihm die Flasche ab um TJ beim Trinken zu helfen.
Peter wunderte sich wie Bob es schaffte, noch nett zu solch einem Menschen zu sein.
Vielleicht lag es aber auch daran, dass sein Schuh immer noch dreckig war und nach Kotze stank, dass er keinerlei Sympathie für den Betrunkenen empfand.
TJ legte kaum widerwillig den Kopf nach hinten und nahm ein paar Schlucke, bevor er Bob nicht wenig ungestüm von sich wegdrückte.
Peter wurde wieder etwas wütender und griff den Mann am Kragen.
„Reiß dich zusammen Freundchen. Du kannst auf meinen Schuh kotzen, aber du fässt meine Freunde nicht an, ist das klar?"
TJ lachte nur etwas wirr und wendete den Blick von Peter ab, der ihn immer noch fest im Griff hatte.
„Was weißt du über die Träne der Quaoar?" fragte Justus vom Beifahrersitz, den Block bereits in der einen und den Stift in der anderen Hand.
„Was sucht ihr, eine Träne? Das Geschäft so schlecht mittlerweile?"
Peter biss die Zähne zusammen und musste sich zusammenreißen, dem Jungen nicht ins Gesicht zu schlagen. Bob legte ihm eine beschwichtigende Hand aufs Knie und Peter merkte in Bobs Blick das es nichts brachte, sich aufzuregen. Es war ein Gesicht voller Sorgen der vergangenen Wochen und eine Bitte danach, dass ab jetzt alles glatt laufen solle.
Peter ließ grummelnd ab und lehnte sich gegen den Fahrersitz, den Blick nach außen auf die Straße gerichtet. Der Staub wurde vom Wind aufgeweht und ein drahtiger Zaun versperrte die Sicht auf die Steppe.
„Ganz im Gegenteil." grinste Justus und klickte mit seinem Kugelschreiber.
„Und ich denke du bist nicht so dumm, wie du scheinst. Wie geht es Ms. Breckenridge?" fragte er mit einem Lächeln auf den Lippen, dass so aufrichtig und gleichzeitig scheinheilig wirkte, dass selbst Peter ihm alles erzählt hätte, was er wissen wollte.
TJ schrak bei dem Namen zusammen. Er wendete den Blick ab und griff nach der Wasserflasche, um einen weiteren Schluck zu nehmen.
„Du kannst Zeit schinden, aber desto länger du still bleibst, desto länger werden wir dich ausfragen und hier behalten."
TJ verdrehte die Augen und strich sich die Haare aus der Stirn, die so doll klebten, dass es mehrere Versuche brauchte.
„Denkt ihr ich will dahin zurück? Seht doch wie viel es mir bringt."
sagte TJ und begrub das Gesicht in den Händen. Bob warf den Zwei einen verwirrten Blick zu und Peter zuckte mit den Schultern.
„Hast du angefangen zu trinken, nachdem du aus dem Knast entlassen wurdest?"
Fragte Peter leise und rieb das Leder des Lenkers.
TJ vermied es, die Drei direkt anzusehen. Er strich über das Plastik der Flasche, sodass es ein unangenehm quietschendes Geräusch machte.
Nach einigen Sekunden holte er tief Luft ein und atmete lang aus, bevor er zu einem Satz ansetzte.
„Die Breckenridge und Alpha-Lambda-Chi haben mich unter Drogen gesetzt. Ich wusste garnicht mehr was abgeht. Ich hab die dümmsten Sachen gemacht. Und was hab ich davon? Nichts als schlechtes. Das wird für immer in meinem Kopf bleiben. Sowas geht nicht weg. Ich kann versuchen es zu ertränken, mit Alkohol und Rauchen und warten bis der Rauch und der Whisky mein Gehirn verklebt, aber sowas bleibt immer."
Er nahm einen Schluck vom Wasser.
„Habt ihr pausenlos das Gefühl, kontrolliert zu werden? Das jemand in euren Gehirn hockt und Stränge zieht und euch bewegt wie eine Marionette? So fühl ich mich. Pausenlos. Jeden Tag meines Lebens fühl ich mich wie eine Marionette."
Justus kritzelte nervös auf seinem Notizblock rum. Peter und Bob waren zu bedrückt, um etwas zu sagen. Doch das mussten sie nicht. TJ war noch nicht fertig.
„Wenn ich meine Augen schließe, dann seh ich sie. In einem von Kerzen beleuchteten Raum in ihren Roben stehen, wie sie singen. Und der runde Raum beflügelt den Schall und alles was ich höre sind die dumpfen Stimmen. Und vor mir sehe ich wie eine Kapuze langsam abgenommen wird und wisst ihr wer unter der Kapuze ist? Jedes Mal? Während ich gefesselt werde und mir die Roben Tabletten einwerfen, und sie steht im Schatten und grinst."
TJs Stimme zitterte während er redete. Er zuckte zusammen, als schien er bei der Erinnerung an die Szenerie zu erschrecken.
Bob machte sich ganz klein. Peter sah ihm an, dass er darauf nichts sagen konnte.
Das konnte man nicht, wenn man nicht in der Situation war.
Justus kritzelte immer noch.
„Ich will diesen Namen nie wieder hören. Erinnert mich nie wieder an diese Frau. Ich seh sie ohnehin jede Nacht. Ich kann meine Augen nicht schließen wie ihr und mich von Schmerz verabschieden. Wenn ich meine Augen schließe, dann kommt der Schmerz wieder auf. Tagelang lieg ich wach." er zeigte auf die tiefen lilanen Säcke unter seinen Augen, die wie schwere Schluchten unter den roten Augäpfeln klafften. Peter zog Luft ein durch zusammengebissene Zähne. Er verzog das Gesicht.
Er schüttelte langsam den Kopf in Justus Richtung, der kurz hochsah und die Lippen zusammenkniff.
„Bringt mich bitte einfach zurück. Ich will nicht mehr trinken müssen."
schluchzte TJ und rieb sich mit der Hand über die Augen.
Justus klappte den Block zusammen.
„In Ordnung." murmelte er und sah seinen damaligen Mitbewohner mitleidig an.
Er legte ihm eine Hand aufs Bein und nickte auf die Wasserflasche.
„Trink noch ein bisschen Wasser.
Dann bringen wir dich zurück."
———
Der Heimweg nach Rocky Beach war still und von unangenehm krisseliger Stimmung geprägt, die das Auto ausfüllte. Peter fuhr, und Bob lehnte sich mit dem Arm auf das offene Fenster der Autotür. Er hatte die Augen zusammengekniffen und atmete schwer. TJ hatte noch viel geweint, bevor sie ihn der Rezeption übergeben hatten. Sie hatten ihm versprochen, ihn mit dem Fall in Ruhe zu lassen.
Dankend hatte er sie alle umarmt, auch wenn diese liebevoll gemeinte Geste wohl von Alkohol beflügelt worden war.
Peter fühlte sich plötzlich schlecht, dass er so grob mit ihm umgegangen war. Er sah auf seine Hand, die immer noch rot war, als er seine Nägel ins Fleisch gedrückt hatte, um TJ nicht eine zu knallen.
Bobs Haare wehten im Wind und seine Brust bewegte sich nun langsamer auf und ab während er im Schlaf atmete.
„Bob sieht so friedlich aus wenn er schläft." murmelte Peter zu Justus, der auf dem Rücksitz lag.
Justus klickte mit seinem Kugelschreiber.
„Meinst du TJ wird das je wieder erleben?"
„Was?" fragte Justus, während er den Rücken zu Peter drehte, sodass sein Gesicht gen Sitz zeigte.
Peter biss sich auf der Unterlippe herum.
„Ruhigen Schlaf. Ein Schlaf ohne Alpträume."
Justus sagte eine Weile lang nichts, bevor er sich umdrehte und Peter eindringlich ansah.
Justus Sommersprossen waren über sein ganzes Gesicht verteilt, wild und durcheinander, anders als bei Jeffrey oder bei Bob. Es sah aus, als hätte man sie mit dunkler Farbe aufgespränkelt.
„Es gibt keinen Schlaf ohne Alpträume, Peter. Viele Träume an die man sich nicht erinnern kann, sind Alpträume. Wir alle haben sie. TJ muss bloß wieder lernen, sie zu vergessen. Und das wird er irgendwann. Er wird aufwachen, und der Alptraum war zwar da, aber er wird sich nicht an ihn erinnern können. Wir können unseren Schmerz nicht verdrängen, Peter. Wir können ihn nur verlernen. Auseinander knoten und aufarbeiten.
TJ hat seinen Schmerz so verdrängt, dass er ihn im Schlaf einholte."
Peter nickte beständig und guckte auf die Straße, die vom Licht der untergehenden Sonne bestrahlt wurde.
„Träumst du manchmal von dem was passiert ist?" fragte er und traute sich nicht, Justus anzugucken, der sein Gesicht wieder zurück gedreht hatte.
Justus atmete tief ein.
„Immer."
Eine unbeschreibliche Stille machte sich breit, bevor Justus weiterredete.
„Aber es sind keine schlimmen Träume mehr. Ich träume, dass ich neben ihnen gesessen habe, als es passiert ist.
Das sie mir zugeflüstert haben, dass alles okay sein wird. Und das der Tod nicht gruselig ist, weil wir zusammen sind. Und dann denke ich, dass es für sie vielleicht auch nicht gruselig war, weil sie einander hatten. Weil sie den Tod teilen konnten. Egal was danach passiert. Meine Mutter meinte, solange ich ihre Hand hielt und sie Papas Hand hielt, würden wir beieinander bleiben, auch im Jenseits. Und kurz bevor es passiert, reißt mich etwas zurück. Und ich schreie und weine nach meiner Mutter aber sie lächelt nur. Und sie sagt, ich solle auf mich aufpassen. Und dann wache ich auf."
flüsterte Justus, und irgendwas in seinen Augen glänzte. Peter hatte das Bild genau vor sich, obwohl er Justus Eltern nicht einmal gekannt hatte. Und vielleicht zum ersten Mal fühlte er sich, als ob Justus ein Mensch mit Emotionen war, der gute und schlechte Tage hatte und schlimme Dinge zu verarbeiten hatte, über die Peter garnicht wirklich nachdachte. Und dann lächelte Justus, und Peter wurde warm. Und er merkte, dass Schmerz nicht immer wehtat.
Oder zumindest nicht für immer wehtun musste.
„Vielleicht ist es gut, dass wir da waren."
Peter öffnete das Fenster.
Justus setzte sich auf.
Sein Gesicht war in rotes Licht getaucht.
„Warum das?"
„Vielleicht hilft ihm das, noch einmal über alles nachzudenken. Über den Schmerz. Und die Erinnerungen. Vielleicht verfolgen sie ihn dann nicht in der Nacht. Vielleicht macht irgendwann selbst der Schmerz einen Sinn."
Justus nickte und ein Lächeln spielte sich um seine Mundwinkel.
„Vielleicht, vielleicht nicht. Manchmal muss man nur daran glauben, dass der Schmerz eine Erinnerung daran ist, dass man überlebt hat. Das man lebt. Der Schmerz ist mein Geschenk. Und ich bin froh, dass ich die Hand meiner Mutter losließ. Und ich glaube, sie ist es auch."

Die drei Fragezeichen und der falsche Verbrecher Where stories live. Discover now