Kapitel 64

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Die Mail kam dieses Mal von einer anderen E-Mail-Adresse, aber Hansson wusste sofort, dass sie von Lockwood kam. Der Betreff „Ihr Kollege lebt noch" war sehr verräterisch. Nervös öffnete er die E-Mail und fand wieder ein Video im Anhang. Der Text dazu war klar und deutlich:

„Machen Sie sich keine Mühe, mich zu finden. Sie verschwenden nur Zeit und Geld. Suchen Sie lieber Nicholas Chandler und Henry. Ihrem Kollegen geht es den Umständen entsprechend gut und daran wird sich auch nichts ändern. Ich halte mein Versprechen. Sobald ich überzeugt bin, dass Sie zu Ihrem Wort stehen, wird Bryan Mills ein freier Mann sein."

Hansson atmete ein paar Mal tief durch, ehe er angespannt das Video öffnete. Der Anblick des gefesselten Bryan versetzte ihm erneut einen Stich ins Herz, obwohl er das Bild inzwischen oft genug gesehen hatte. Doch etwas anderes erhielt schon im nächsten Augenblick seine volle Aufmerksamkeit: Hansson bekam dieses Mal viel mehr zu sehen! Lockwood filmte fast den ganzen Raum, in dem er Bryan festhielt. Es schien ein Keller zu sein, vollgerümpelt mit alten Möbeln. Und Bryan saß mittendrin. Ihm gegenüber: eine Kamera. Hansson schluckte. Genauso musste es bei Joy gewesen sein. Hatte Lockwood tatsächlich ihre Situation nachgestellt?

Seltsamerweise benutzte der Professor nicht die Kamera auf dem Tisch für das Video. Der Qualität nach zu urteilen, handelte es sich eher um eine Handykamera. Lockwood ging auf Bryan zu und Hanssons Atem stockte. Bryans Gesicht sah übel aus, noch schlimmer als auf dem letzten Video.

Mit einer Mischung aus Erleichterung und Entsetzen sah Hansson dabei zu, wie Lockwood Bryan mit Essen und Trinken versorgte und sich dabei mit ihm unterhielt, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Als Bryan von einem Foto sprach, wurde Hansson hellhörig. Was für ein Foto? Es schien mit Joy zu tun zu haben. War es der Beweis für ihren Tod? Leider ging Lockwood nicht darauf ein. Verdammt, Hansson hätte es allzu gerne gewusst. Was für ein Foto konnte Bryan den Appetit verderben? Doch was Hansson wirklich sprachlos zurückließ, waren Bryans Worte, mit denen das Video endete:

„Sobald Sie mich gehen lassen, werde ich alles dafür tun, diesen Psychopathen Chandler aufzuspüren und für immer in den Knast zu bringen. Das verspreche ich Ihnen."

So etwas versprach Bryan dem Mann, der ihn seit zwanzig Stunden menschenunwürdig gefangen hielt und verprügelt hatte? War Hansson denn irgendetwas entgangen? Er sah sich das Video wieder und wieder an, doch er sah jedes Mal dasselbe: Lockwood gab Bryan Essen und Trinken und unterhielt sich mit ihm. Er behauptete, dass er Bryan gut behandelte, doch es war leicht ersichtlich, dass Bryan das anders sah. Trotzdem schien Bryan nach wie vor Mitgefühl für den Professor zu empfinden. Oder tat er es nur für Joy und um Lockwood zu manipulieren?

Hansson las sich Lockwoods E-Mail noch einmal durch, dann rief er Krauss und Stevens zu sich. Sie hatten nun eine neue E-Mail-Adresse und Videoaufnahmen von dem Raum, in dem Bryan gefangen gehalten wurde. Vielleicht half ihnen das weiter. Zugleich hatte die E-Mail bei Hansson genau das erreicht, was Lockwood wohl hatte erreichen wollen: Er war ein wenig beruhigter. Er hatte sich in den letzten Stunden immer wieder bei dem Gedanken ertappt, ob Bryan überhaupt noch am Leben war und wie es ihm erging. Jetzt wusste er es und Hansson hoffte, darauf vertrauen zu können, dass er Bryan in nächster Zukunft wohlbehalten wiedersehen würde, selbst wenn er versagen und Lockwood nicht finden sollte.

Lockwood würde sein Versprechen halten. Trotz allem sprach nichts dagegen, zu versuchen, Bryan schon vorher zu befreien. Hansson hatte zwar alles für die Nacht vorbereitet, aber er war ehrlich gesagt wenig erpicht darauf, den womöglich mordlüsternen Lockwood in seiner Wohnung anzutreffen.

Hansson stöhnte. Er hoffte noch immer, dass das alles nur ein Hirngespinst von Krauss war. Aber man konnte nicht vorsichtig genug sein, das hatte Hansson auf die harte Tour von Lockwood selbst gelernt. Er hätte nie zulassen dürfen, dass Bryan sich mit dem Professor in seiner Wohnung traf und er würde ganz bestimmt nicht noch einmal ein Risiko eingehen.

Im Strudel der Zeit - TodgeweihtWhere stories live. Discover now