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Yon griff nach dem schweren Wollmantel, den der Diener ihm reichte, warf ihn sich über die Schultern und eilte die Treppen hinunter. Kurz darauf trat er durch das Tor des Palazzo delle Ragione hinaus in den trüben Märztag.
Ein frischer Wind fegte über die lang gestreckte Piazza delle Erbe, trieb Staub und Abfall von den Ständen der Gemüsehändler vor sich her und verwirbelte den Rauch der vielen Koch- und Kaminfeuer, der über den Ziegeldächern der umliegenden Häuser aufstieg.
Die Kälte, die Yon frösteln ließ, hatte jedoch nichts mit dem Wind zu tun. Eine sorgenvolle Unruhe hatte ihn erfasst, die noch durch den Umstand verstärkt wurde, dass er schon einige Wochen nichts mehr von seinem Bruder Santiago gehört hatte. Ein Versäumnis, an dem er selbst die Schuld trug, wie er sich eingestehen musste. Er hatte sich ausschließlich mit seiner Malerei und den Angelegenheiten seines Gutes befasst, um Abstand von seinem letzten Fall zu gewinnen. Zudem hatte er Zeit gebraucht, um sich eine Strategie zurechtzulegen, wie er in Zukunft mit Ada umgehen sollte. Darüber hatte er Santiago beinahe vergessen. Doch jetzt schien es ihm, als lege Gott ihm eine schwere Hand auf die Schulter, um ihn nachdrücklich daran zu erinnern, dass es zwischen ihm und seinem Bruder eine Schuld gab, die er noch nicht beglichen hatte.
Yon zog den Mantel fester um die Schultern, wandte sich nach links und tauchte Augenblicke später in die Vicolo Samaritana ein, wo Santiago für gewöhnlich bei einem Gastwirt Quartier nahm, wenn er sich in Verona aufhielt. Yon trat in den dunklen Tordurchgang, der links von der Gaststube in einen kleinen Hof und zum rückwärtigen Eingang des Wohnhauses führte. Er hämmerte mit der geballten Faust gegen die Tür. Die Frau des Wirtes erschien und erkundigte sich dienstbeflissen lächelnd nach seinen Wünschen. Yon fragte nach Santiago und erfuhr, dass sein Bruder am Vortag zu Fuß ausgegangen und bislang nicht zurückgekommen sei.
»Hat er seinen Diener dabei?«
Die Wirtin schüttelte den Kopf. »Nein Herr, der Capitano ist ohne Begleitung hier eingetroffen.«
Yon dankte der Wirtin und machte sich auf den Rückweg. Sein Unbehagen kehrte mit doppelter Stärke zurück. Wohin konnte Santiago gegangen sein? Wie kamen sein Dolch und das Abzeichen der Skorpione zu der Leiche von Severin Montecchio? So wie Yon seinen Bruder einschätzte, neigte er weder zu Unzucht noch zu Sauferei oder ähnlichen Zügellosigkeiten. Doch was wusste er schon? Im Stillen verfluchte er sich für seinen Unwillen, sich näher mit Santiagos Gewohnheiten zu befassen. Ungeduldig lief er die Vicolo Samaritana entlang, bog bei der nächsten Gasse nach rechts ab und schlüpfte in eine der gerade schulterbreiten Brandgassen zwischen zwei mehrstöckigen Häusern, um den Weg abzukürzen. Dabei musste er höllisch achtgeben, wohin er seine Füße setzte, um nicht unversehens in stinkende Lachen oder Dreckhaufen zu treten. Wie jedem Stadtbewohner war ihm diese beständige Achtsamkeit jedoch längst in Fleisch und Blut übergegangen. Nur wenig später klopfte er an der Hintertür der Casa delle Farfalle. Eine barsche Stimme fragte nach seinem Begehr. Yon nannte das Codewort und der Wachposten ließ ihn wortlos ein.
»Ist Madonna Claudia schon auf?«, fragte Yon.
Der Wachposten schüttelte den Kopf. »Oh nein, Ser Yon. Es war eine lange Nacht. Die Herrin hat sich erst beim ersten Hahnenschrei zurückziehen können. Soll ich sie wecken?«
»Warte«, sagte Yon. »Vielleicht kannst du mir Auskunft geben. Ich suche Santiago de Cabrera. War er hier?«
»Der Capitano? Nein, Herr. Er hat die Casa delle Farfalle schon länger nicht mehr beehrt.«
»In dem Fall, fürchte ich, kann ich keine Rücksicht auf deine Herrin nehmen. Geh, und weck sie auf!«
Der Wachsoldat, der schon häufiger mit Yon zu tun gehabt hatte, verzichtete darauf unnütze Fragen zu stellen, und führte ihn ohne Umschweife in den ersten Stock des Hauses. Eine Dienerin, die mit einem Stapel sorgfältig gefalteter Leintücher an ihnen vorbeieilen wollte, erhielt den Auftrag, die Herrin des Hauses zu wecken.
Nervös biss Yon sich auf die Unterlippe und ballte unwillkürlich die Fäuste. Er hätte nicht sagen können, was genau ihn derart beunruhigte. Er war nicht der Hüter seines Bruders. Aber er konnte Santiagos Abwesenheit nicht auf sich beruhen lassen.
Claudia de'Stretti, die Hausherrin der Casa delle Farfalle empfing ihn in ihrer Schlafkammer. Sie hatte sich in einen Hausmantel aus elfenbeinfarbener Seide gehüllt. Von Kissen gestützt saß sie aufrecht im Bett und sah Yon mit gelassenem Blick entgegen. Ihr glänzendes, schwarzes Haar war zu einem dicken Zopf geflochten, dessen Ende beinahe bis zu ihrer Taille reichte. Ihre Haut war hell, glatt und makellos. Ihre mandelförmigen Augen wirkten im schummrigen Kerzenlicht dunkel und verführerisch. Einmal mehr musste Yon sich eingestehen, dass er nicht in der Lage war, ihr wahres Alter zu schätzen.
Sie musterte ihn und als er nichts sagte, stieß sie einen leisen Seufzer aus. »Euer Besuch zu dieser unchristlichen Zeit kann nur eins bedeuten«, sagte sie. »Ihr bringt schlechte Nachrichten.«
Yon nickte. »In zweifacher Hinsicht.«
Claudia winkte die Dienerin herbei. »Bring uns Wein«, trug sie ihr auf. »Den schweren Roten aus dem neuen Fass.«
»Sofort, Madonna Claudia.« Die Dienerin eilte hinaus.
»Nun denn, Ser Yon. Berichtet! Was ist geschehen?«
»Severina Montecchi. Sie wurde letzte Nacht getötet.«
»Oddio!« Claudia warf den Kopf in den Nacken, blähte die Nasenflügel und lächelte. Es war ein befremdliches Lächeln, grimmig, fast schon ein Zähneblecken. »Ich habe Apollon gesagt, dass sie nicht das Zeug zum Singvogel hat«, murmelte sie. »Er wollte nicht auf mich hören ...« Sie hielt inne und wandte sich Yon zu, der mit verschränkten Armen vor ihrem Bett stand. »Erzählt mir, was passiert ist«, sagte sie ganz leise, als wäre außer ihnen noch jemand im Raum, der sie belauschen konnte. »Alles, was Ihr wisst.«
Yon berichtete, was er von Flavio und Apollon erfahren hatte, und hielt nur inne, als die Dienerin mit dem Wein erschien. Er nahm der jungen Frau Krug und Becher aus den Händen und stellte alles auf einer Truhe ab. »Wir bedienen uns selbst«, sagte er. Die Dienerin knickste und zog sich hastig zurück.
Yon schenkte ein und reichte Claudia einen Becher. »Demnach hat Severina die letzte Nacht ihres Lebens in der Casa delle Farfalle verbracht«, nahm er den Faden wieder auf. »Mit einem Mann?«
Claudia zuckte die Schultern. »Das ist anzunehmen. Wer kann in einer Nacht der Masken schon sagen, wer sich mit wem vergnügt?«
Yon fand eine Reihe höchst unfeiner Bezeichnungen für Claudias Geschäftssinn, doch die Herrin der Casa delle Farfalle wirkte nicht im Geringsten beeindruckt. »Man darf den Menschen nicht nur Verbote auferlegen, sondern man muss ihnen auch einmal etwas bieten, wofür es sich zu leben lohnt.«
Yon schnaubte. Eine Nacht der Masken bot unzufriedenen und vernachlässigten Ehefrauen einen sichern Platz, um sich mit ihren jeweiligen Liebhabern zu vergnügen. Madonna Claudia wachte mit Argusaugen darüber, dass die Teilnehmer unerkannt blieben. Was schon zum wiederholten Mal seine Nachforschungen im Keim erstickt hatte.
Claudia nippte an ihrem Wein. »Was wollt Ihr jetzt tun?«
»Ich muss Santiago finden«, erwiderte Yon. »Ich hegte die Hoffnung, er sei hier, nachdem er die Nacht nicht in seiner Unterkunft verbracht hat. Da sich diese Hoffnung zerschlagen hat, weiß ich nicht, wo ich mit meiner Suche beginnen soll. Gebt mir einen Rat.«
»Versucht es in der ehemaligen Casa Galdi«, sagte Claudia. »Euer Bruder hat mir das Haus abgekauft. Vielleicht ist er dort.«
»Wie bitte? Ihr habt das Haus an Santiago verkauft? Warum nicht an Ada? Es war ihr sehnlichster Wunsch, sich dort als Ärztin niederzulassen.«
»Yon. Ihr wisst doch, wie die Dinge stehen. Sosehr ich Ada auch schätze – sie hat keine Zulassung als Ärztin. Und sie wird als Frau in einer von Männern regierten Stadt auch keine bekommen.«
»Oh, doch. Sie wird. Ich habe dafür gesorgt.«
Claudia starrte ihn an, wie vom Donner gerührt. »Ihr habt was? Wie denn?«
»Nach der Aufklärung meines letzten Falles bot Alberto della Scala mir eine Belohnung an. Privilegien, Gold, Schmuck – was immer ich verlangen würde.«
»Nun, das habt Ihr Euch verdient.«
»Ich mache mir nichts aus Privilegien oder Reichtum, Claudia. Das solltet Ihr wissen.«
Claudia schlug die Decke zurück, stieg aus dem Bett und baute sich vor Yon auf. »Lasst mich raten, Yon. Anstelle einer Belohnung für Euch, habt Ihr Adas Zulassung verlangt, sehe ich das richtig?«
Yon zuckte die Achseln. »Es erschien mir passend.«
»Weiß Ada, was Ihr hinter ihrem Rücken treibt?«
»Nein. Und es wäre mir lieb, wenn es auch so bliebe.«
Claudia umfasste sein Gesicht mit ihren Händen und trat ein Stück zurück. »Oh, Yon, was für ein liebenswerter Junge Ihr doch seid. Ada kann sich glücklich schätzen.« Ehe Yon begriff, wie ihm geschah, drückte sie ihm einen Kuss auf die Stirn. »Und nun verschwindet, damit ich endlich zum Schlafen komme.« Sie schob ihn zur Tür. »Kommt schon, raus mit Euch!«
Zu verblüfft, um sich zu wehren, ließ Yon sich von ihr hinauskomplimentieren. Er fand sich auf dem Flur wieder und hörte nur, wie hinter ihm die Tür ins Schloss fiel. Kopfschütteln lief er zur Treppe. Er wusste nicht, ob er sich über Claudias Bemerkung freuen oder ärgern sollte. Liebenswert? Er? Das war einfach lächerlich.
Er begab sich ins Erdgeschoss, lieh sich einen von Claudias Wachsoldaten aus und machte sich auf den Weg zur ehemaligen Casa Galdi.


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⏰ Letzte Aktualisierung: Sep 22, 2023 ⏰

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Mord in Verona - Tödliche Intrigen Der 3. Fall für Yon und AdaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt