3. Kapitel || Verpasste Chancen

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Ich stand vor Ellas Haustür.

Nervös checkte ich meine Frisur. Etwas hielt mich davon ab, direkt zu klingeln. Ich musste zuerst tief durchatmen, bis ich mich dazu durchringen konnte.

Durch das Haus hallte eine Melodie und es dauerte nicht lange, bis ich Ella hinter dem quadratischen Stück Glas der Haustür erkennen konnte. Auch sie musste mich sehen, denn sie lächelte mich an und winkte mir zu, bevor sie die Tür öffnete. „Ich habe dir was mitgebracht", sagte ich und hielt ein Päckchen Brausestäbchen hoch.

Die hatte sie schon als Kind geliebt. Das hatte sich auch jetzt, mit 16 Jahren, nicht geändert.

Sie griff mit einem liebevollen Lächeln nach der Süßigkeit und öffnete die Tür, sodass ich eintreten konnte, und sie schloss diese hinter mir, während ich schon die Treppe zu ihrem Zimmer hochstieg.

„Bist du alleine zuhause?", fragte ich, ihr Zimmer betretend.

„Ähm, nein, tatsächlich nicht", antwortete Ella und setzte sich auf ihr Bett, was ich ihr gleichtat, „Papa ist schon weg, aber Wera bleibt heute da. Ihr geht es nicht so gut, deswegen wollte ich heute auch nicht rausgehen."

Es war ziemlich ungünstig, dass das alles ausgerechnet heute passierte, denn vor zwei Tagen waren die Entenküken geschlüpft, auf die sich Ella schon seit Wochen gefreut hatte. Ich wollte ihr diese unbedingt zeigen, denn ich konnte mir vorstellen, wie sehr sie sich über diese kleinen, flauschigen Tiere freuen würde. Und das würde ich wirklich nur sehr ungern verpassen, denn Ella war verdammt niedlich, wenn sie sich freute.

Ich war kurz versucht, auf sie einzureden und sie umzustimmen, aber andererseits wollte ich Wera nicht gegen mich aufbringen.

„Nicht schlimm", sagte ich und zog mein Handy aus meiner Hosentasche, „ich habe ein paar Fotos von ihnen gemacht. Und wenn du beim nächsten Mal vorbeikommst, wirst du die Küken ja sehen, die wachsen nicht so schnell."

Ella, die mir das Handy aus der Hand genommen hatte, begutachtete die Bilder und zoomte an die Küken ran. Sie lachte, als sie mir mein Smartphone zurückgab und sagte neckend: „Ich wette, die Bilder wären noch viel süßer gewesen, wenn dein Bildschirm nicht so einen riesen Riss hätte."

„Hey", meinte ich gespielt beleidigt und fuhr mit meinem Daumen über den Riss, als ob das diesen irgendwie mildern könnte, „fies. Du weißt, dass sich nicht jeder ein neues Handy leisten kann, wenn man nicht gerade ein Hybrid ist. Und ich bin doch nur ein armer Bauer!"

Ella lachte und tätschelte mir den Arm, wo sie ihre Hand liegen ließ. „Ach Henrik", sagte sie, mich ärgernd, „das weiß ich doch. Und ich liebe dich trotzdem."

Ich wusste natürlich, dass sie es nicht so meinte und es nur im Spaß gesagt hatte. Trotzdem konnte ich den Satz, den mein Herz machte, nicht unterdrücken. Ebenso wenig wie die Wärme, die sich durch diesen Satz in mir ausgebreitet hatte.

Wie nah ich neben ihr saß, ihre Hand auf meinem Arm, wie sie mir in die Augen sah.

Vor Aufregung verschluckte ich mich an meiner eigenen Spucke, was zu einem Hustenanfall führte. Ich wandte mich von ihr ab. Ella ließ meinen Arm los, damit ich in die Armbeuge husten konnte.

„Hoffentlich wirst du nicht auch noch krank", meinte Ella besorgt.

„Äh", machte ich und räusperte mich, „hast du, äh... hast du vielleicht ein Hustenbonbon oder so für mich?" „Ja, natürlich, in der Küche müssten welche sein", sagte sie und stand auf, „ich muss eh noch den Teebeutel aus Weras Tee rausnehmen. Ich kann dir auch einen machen, wenn du willst." „Klingt gut", meinte ich und folgte ihr.

Ella hatte keine richtige Küche, zumindest war es nicht wie bei uns auf dem Hof ein separater Raum. Stattdessen hatten sie einen Raum, der Wohnzimmer, Küche und Esszimmer in einem war. Deswegen sah ich sofort, dass Wera schlief, nachdem wir die Treppe runtergelaufen und den kurzen Gang entlanggelaufen waren. Auch Ella sah, dass ihre Schwester auf dem Sofa eingeschlafen war, und hielt sich den Zeigefinger vor die Lippen, um mir zu bedeuten, ruhig zu sein.

Wortlos schlichen wir an dem Sofa und dem Esstisch vorbei, bis wir an der Küchenzeile angekommen waren.

Ella versuchte, eine Schublade leise zu öffnen, aber sie musste an ihr rütteln, damit sie aufging. „Hier", flüsterte sie und drehte sich zu mir. Ich hielt ihr meine Hände entgegen, damit sie ein Bonbon aus der Packung in diese fallen lassen konnte.

„Danke", meinte ich leise und nahm es. Ich verzog das Gesicht, als das Kräuterbonbon seinen bitteren Geschmack entfaltete.

Sie drehte sich wieder dem Tresen zu, um die Schublade zu schließen und den Teebeutel in den Mülleimer zu werfen. Als sie den Wasserkocher nahm, um ihn zu füllen, legte ich meine Hand auf ihren Arm. Sie wandte mir verwirrt den Kopf zu.

„Vielleicht", flüsterte ich vielsagend, „brauche ich doch keinen Tee." Sie stellte den Wasserkocher wieder zurück.

„Was meinst du?"

„Naja, Wera schläft doch. Sie würde gar nicht mitbekommen, wenn wir kurz verschwinden würden." Ella sah besorgt auf die schlafende Wera. „Nur kurz natürlich. In einer halben Stunde sind wir wieder da."

Sie seufzte und setzte an, etwas zu sagen – so wie ich sie kannte machte sie sich zu viele Gedanken um ihre kranke Schwester.

„Die Küken sind echt niedlich", flüsterte ich und nahm ihre Hände in meine, „bitte. Nur ganz kurz." Ich hoffte, sie merkte nicht, wie schwitzig meine Hände waren. Ihr Blick lag fest auf mir und wir sahen uns gegenseitig in die Augen. Sie waren groß und wunderschön.

„Gut", flüsterte sie, „aber nur ganz kurz."

Ich wusste, dass ich jetzt den Blick abwenden sollte, aber ich konnte nicht, ich war gefangen in ihren Augen. Sie tat es auch nicht. War das der Moment, in dem ich etwas sagen sollte? Oder sogar etwas tun sollte? Mein Blick strich über ihre Lippen, von denen ich mich angezogen fühlte. Auch sie schaute mir nicht mehr in die Augen und – oh Gott, lehnte sie sich mir wirklich entgegen?

Ich war mir nicht sicher, ich konnte allerdings auch nicht mehr klar denken.

Unsere Gesichter kamen sich näher, langsam, vorsichtig, bis Wera sich mit einem lauten Seufzen auf dem Sofa auf die andere Seite drehte.

Als hätte sie sich verbrannt zuckte Ella zurück und zog ihre Hände aus meinen. Sie beobachtete ihre Schwester überrascht, während ich versuchte mich daran zu erinnern, wie man atmete. War das gerade eben wirklich geschehen? Oder war es nur Wunschdenken gewesen, eine Einbildung?

„Ich glaube sie schläft noch", flüsterte sie. Sie klang atemlos, aber vielleicht war sie nur so überrascht von Wera. Ich sah sie an, unsicher, ob sie immer noch mit mir rausgehen wollte. War sie jetzt verstört von mir? Sie leckte sich nervös über sie Lippen.

„Also dann", meinte sie leise, „lass uns kurz raus."

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Das Mädchen mit den SchlangenaugenDonde viven las historias. Descúbrelo ahora