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Carmen hat sich viel Mühe gegeben. Auf dem weißen Porzellanteller mit Blumenrand liegen Salami- und Käsebrote. Daneben Gurkenscheiben und Tomatenviertel. Mama schnitzt immer Fußballgurken. Mit dem Schäler zieht sie die Gurkenhaut ab, lässt aber zwischen jeder Bahn eine Bahn frei. Wenn sie die Gurke anschließend in Scheiben schneidet, werden daraus Fußballgurken. Da macht das Essen gleich viel mehr Spaß. Bei Carmen gibt es nur normale Gurkenscheiben. Dafür hat sie Salz und Pfeffer darauf gestreut, was herrlich im Mund prickelt.
Ronny sitzt brav auf dem weißen Holzstuhl und sieht nach draußen. Hinter dem Garten geht gerade sie Sonne unter. Die orangefarbene Luft, die umher schwirrenden Mücken, die langen Schatten auf dem Rasen. Alle sieht sehr feierlich aus. Alberich liegt unter dem Tisch. Ronny kann mit der Spitze des Fußes sein weiche Fell berühren. Alberich winselt leise. Bestimmt träumt er.
Im Nachbarzimmer fällt etwas zu Boden. Ronny hört Carmen schimpfen. Mit wem spricht sie da? Telefoniert sie noch immer? Hat sie nicht langsam genug davon? Ronny würde gerne vom Stuhl rutschen und nachsehen, aber er traut sich nicht.
Im Flur neben dem Schirmständer und dem Jackenschrank steht ein zusammengeklappter Rollstuhl. So einen kennt Ronny von zu Hause. Oma Trudes Rollstuhl sieht so ähnlich aus. Nur ist das Metall zerkratzter, der Sitzbezug an einigen Stellen aufgerissen und eines der Räder eiert. Oma Trude ist ihm einmal über die Hand gefahren, als er auf dem Wohnzimmerteppich saß und eine von Mamas Zeitschriften durchblätterte. Drei Wochen lang konnte er alles nur mit der linken Hand machen. Seitdem hält er Abstand zu Rollstühlen. Sie bereiten ihm Angst. Bis in seine Träume hinein haben sie ihn schon verfolgt. Also lieber auf dem Holzstuhl sitzen bleiben und brav die Brote aufessen. Der sommerlich leuchtende Garten ist so schön.

Jetzt ist Carmen wieder da. Sie streicht ihm über das Haar. Dann füllt sie sein Glas mit noch mehr Zitronenbrause bis es fast überläuft, setzt sich zu ihm an den Tisch und greift nach einem Käsebrot. Das Handy legt sie vor sich ab. Ronny blickt ihr kauend ins Gesicht. Die Augen sind verheult. Ihre Wangen gerötet. Der Zopf, den sie sonst immer trägt, ist aufgelöst. Das weiße Haargummi hängt irgendwo über dem Ohr. Wie es dorthin gelangt ist, bleibt Ronny ein Rätsel. Er sieht wie Carmen an ihren kurzen Fingernägeln herumspielt. Wie sie versucht, Worte zu formen und sie dann doch nicht ausspricht. Was ist mit Carmen los? Sie ist doch sonst immer so stark. Immer weiß sie, was zu tun ist. Und jetzt? Nur noch ein Häufchen Elend.
»Carmen?«
»Ja?«
»Was ist mit dir?«
»Ach Ronny!«
Wieder fummelt sie an ihren Fingern herum. Sie trägt keinen Ring so wie Mama. Das ist praktisch. Dann kann sie ihn auch nicht verlieren. So wie Oma Trude. Die hat ihren Ring ins Klo fallen lassen. Opa Gernot, den Ronny nicht kennengelernt hat, weil er schon lange tot ist, hat ihr damals die Hölle heiß gemacht. Das war irgendwann zu Weihnachten, vor sehr langer Zeit, als Ronny noch in die Windeln gemacht hat. Papa erzählt die Geschichte jedes Jahr wieder, wenn sie zusammen unter dem krummen Tannenbaum sitzen, Mama Zigaretten dreht, Papa mit einer leeren Bierflasche die wenigen Geschenke verlost und Oma Trude vor lauter Traurigkeit und scheinbar ohne zu schlucken eine ganze Dose Kekse allein wegknabbert. Gute Laune kommt da nur selten auf.

»Wann kommt Mama mich abholen, Carmen?«
Carmen seufzt und reibt sich hektisch mit den Händen durchs Gesicht bis ihre Wangen noch mehr glühen als zuvor schon. Sie blickt ihn an. Dann streckt sie ihm ihre Hände entgegen. Erst denkt Ronny, dass sie noch ein Brot haben will, doch Carmen interessiert sich nicht für Salami und Käse. Sanft legt sie ihre Hände auf seine. Tränen laufen ihr übers Gesicht.
»Ach, Ronny! Deine Mama ...«
Carmen sieht so ernst aus. Gleichzeitig scheint sie durch ihn hindurchzublicken, als wäre der Geist des Hauses hinter Ronny aus dem Boden gewachsen. Beinahe hätte er sich umgedreht.
»Was ist mit Mama?«
In Ronny zieht sich alles zusammen. Er merkt ja schon länger, dass hier etwas nicht stimmt, aber jetzt stimmt gar nichts mehr. Als hätte sich ein Loch in seiner Brust aufgetan und alle Gefühle und Gedanken stürzten dort mit Affenzahn hinein. Ohne Aussicht auf Wiederkehr.
»Deiner Mama ist was Schreckliches passiert!«
Jetzt stürzt Carmen um den Tisch herum und nimmt Ronny in die Arme, gerade als er nach der Zitronenbrause greifen will. Das Glas kippt um. Der Tisch ist ein See. Ein süßer See aus Sprudel, Zucker, Zitronen und Tränen. Ronny flitscht eine Gurkenscheibe hinein. Carmen bemerkt es nicht. Sie drückt ihn jetzt noch fester an sich.
»Du bleibst heute bei mir. Keine Angst. Du bleibst heute bei mir!«

Auf dem Wohnzimmertisch flackert eine kleine, elektrische Kerze. So ist die Dunkelheit nicht ganz so finster und Ronny hat etwas, wo er hingucken kann. Carmen hat ihm ein Glas mit Salzstangen und Zitronenbrause hingestellt. Alberich liegt zusammengerollt an seinen Füßen und schnarcht. Die Vorhänge mit den Vogelmotiven hat Carmen zugezogen. Milchiges Mondlicht sickert zu ihm und Alberich aufs Sofa und erweckt die Zwitschis zum Leben. Die Polster sind weich. Die Bettdecke duftet nach Sommerwiese. Sein Kopf versinkt in einem riesigen Kissen. So muss sich das Kuscheln mit einer Wolke anfühlen. Er konnte es sich aussuchen. Sofa im Wohnzimmer oder Luftmatratze in Carmens Schlafzimmer. Ronny mag Carmen sehr. Aber in ihrem Schlafzimmer zu übernachten, das konnte er sich nicht vorstellen. So gut kennt er sie dann doch nicht.

Keine Angst. Du bleibst heute bei mir. Carmens Worte spuken noch immer in seinem Kopf herum. Wie kommt sie darauf, dass er Angst hat? Er klettert auf Bäume, krabbelt auf Hausdächer, kriecht durch Kellerfenster und streichelt fremde Hunde. Er hat doch keine Angst! Nur um Mama ist er besorgt. Vorhin, als Carmen ihn zugedeckt und ihm noch einmal über das Haar gestrichen hat, da war er kurz davor aufzuspringen, hinauszurennen, sich auf Carmens Rad zu setzen und nach Hause zu fahren. Dann fiel ihm jedoch ein, dass er den Weg gar nicht kannte. Vom Kindergarten zur Pferdewiese mit den Zwergponys, das schon. Von dort zum kleinen Teich, wo der dicke Angler immer steht und nichts fängt. Das auch. Aber den Rest? Nein, er würde sich hoffnungslos verfranzen und irgendwo hingelangen, wo er nie im Leben hinwill. Dann würde er sich vor Angst in die Hose machen, so wie Ruven beim Puzzeln. Allein die Vorstellung lässt auf Ronnys Haut eine Gänsehaut sprießen.


RONNYWhere stories live. Discover now